Der PISA-Schock gehört in den Geschichtsunterricht. Der in der Gegenwart testierte Bildungsabsturz schrumpft von einer gesellschaftlichen Schockwelle zur Eintagsfliege

Der eine oder andere wird sich noch erinnern an den Anfang des neuen Jahrtausends – der PISA-Schock schüttelte das Land ordentlich durch. Es gab heftige Reaktionen auf die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2001, aus der deutsche Schüler im internationalen Vergleich mit nur unterdurchschnittlichen Ergebnissen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften rausgekommen sind. Es gab damals durchaus intensive Diskussionen über die Qualität des deutschen Bildungssystems und welche Reformen man auf den Weg bringen müsste. Und es wurde durchaus auch eine Menge (aus)probiert. Zumindest gab es einige Zeit nach den ersten Schockwellen ein Bewusstsein, dass es erhebliche Probleme gibt, die man systematisch(er) angehen müsste.

Und nach einem kurzen Aufwärtstrend ging es in den in mehrjährigen Abständen durchgeführten PISA-Studien weiter abwärts mit Deutschland. Nehmen wir die Befunde aus der im Frühjahr 2022 durchgeführtenPISA-Studie, die Ende 2023 veröffentlicht wurden. Man kann die so zusammenfassen kann: Die 15-Jährigen in Deutschland fallen bei PISA 2022 in allen Kompetenzbereichen auf die niedrigsten Werte ab, die hierzulande im Rahmen von PISA je gemessen wurden. Getestet wurden die Kompetenzen in Mathematik als Hauptdomäne, im Lesen und in den Naturwissenschaften als Nebendomänen. In Mathe verfehlen 30 Prozent der Jugendlichen die Mindestanforderungen, im Lesen sind es 25 Prozent. 

Und die Reaktion der Kultusministerkonferenz (KMK)? »Die Studie zeigt an vielen Stellen dringenden Handlungsbedarf auf, der auch über das Feld der Schulen hinaus geht. Die Ursachen und Bedingungsfaktoren der Ergebnisse müssen gründlich, vertieft und unvoreingenommen analysiert werden«, so einer der Berichte aus dem Dezember 2023.

Zurück in die Gegenwart: Erneut könnten Schockwellen durch die deutsche Gesellschaft laufen aufgrund der Ergebnisse einer neuen Studie. Wenn man sich die anschaut, dann müsste das eigentlich so sein, ist es aber nicht. 

Ganz im Gegenteil. Die medialen Resonanz ist geschrumpft auf zwei oder drei Tage, aus der Politik kam ohrenbetäubendes Schweigen und die Karawane ist mittlerweile weitergezogen. Dabei sind die Befunde der im Oktober 2025 vorgestellten IQB-Bildungstrends erschreckend und es müssten (erneut) alle Alarmanlagen angehen. Aber auch hier: Totalausfall. Schauen wir also einmal etwas genauer hin.

Was sind die IQB-Bildungstrends?

Das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) ist ein gleichsam offizielles Kind des angesprochenen PISA-Schocks Anfang der 2000er Jahre, als man sich noch wirklich erschrocken hat über Testergebnisse und was verändern wollte. Als eine Reaktion auf problematische Ergebnisse Deutschlands in internationalen Schulleistungsstudien gründete die Kultusministerkonferenz (KMK) das IQB im Jahre 2004, um darüber den Schritt oder Sprung in die Welt von messbaren und überprüfbaren Bildungsstandards zu machen.

➔ Im Dezember 2004 nahm das IQB seine Arbeit unter Leitung von Prof. Dr. Olaf Köller auf. Die Leitung wurde im Juni 2010 von Prof. Dr. Anand Pant und Prof. Dr. Petra Stanat übernommen. Seit 2016 wird das IQB von Prof. Dr. Petra Stanat (wissenschaftlicher Vorstand) und Dr. Anne Jostkleigrewe-Paulus (kaufmännischer Vorstand) geleitet. Die Grundlage der Arbeit des IQB bilden von der KMK verabschiedete Bildungsstandards.1 Nach Einführung dieser Vorgaben für Kompetenzziele, die im allgemeinbildenden Schulsystem zu erreichen sind, lag die Hauptaufgabe des IQB zunächst in deren Operationalisierung mit Testaufgaben. Für die Fächer Deutsch, Mathematik in der Primarstufe sowie Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache (Englisch, Französisch) und die naturwissenschaftlichen Fächer (Biologie, Chemie, Physik) in der Sekundarstufe I wurden Aufgabenpools entwickelt, pilotiert und normiert und auf dieser Grundlage Kompetenzstufenmodelle entwickelt.

Das IQB entwickelt Aufgaben zur Implementation und Überprüfung der Bildungsstandards. Dies sind zum einen Lernaufgaben, die illustrieren, wie die in den Bildungsstandards beschriebenen Anforderungen im Unterricht vermittelt werden können. Zum anderen werden Testaufgaben entwickelt, mit denen in den Vergleichsarbeiten (VERA) und IQB-Bildungstrends überprüft wird, inwieweit die in den Bildungsstandards festgelegten Kompetenzziele von den Schüler/innen erreicht werden. Während die Testergebnisse aus den Vergleichsarbeiten (VERA) Lehrkräfte und Schulen bei der Unterrichtsentwicklung unterstützen sollen, liefern die Ergebnisse aus den IQB-Bildungstrends vor allem Hinweise für die Steuerung durch Bildungspolitik und -administration. Außerdem koordiniert das IQB die ländergemeinsame Entwicklung von Abiturprüfungsaufgaben.2 

Seit 2008 überprüft das IQB das Erreichen der Bildungsstandards regelmäßig mit Studien, die zunächst als „Ländervergleich“ und seit dem Jahr 2016 als „Bildungstrends“ bezeichnet werden.

Es geht also bei der Arbeit des IQB um nichts geringeres als um ein Nationales Bildungsmonitoring für Deutschland. 

Was hat der IQB-Bildungstrend 2024 ergeben?

Im IQB-Bildungstrend 2024 – die Studie basiert auf einer repräsentativen Stichprobe von 48.279 Schülerinnen und Schülern aus 1.556 Schulen in allen 16 Bundesländern – wurde zum dritten Mal das Erreichen der Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Mathematik, Biologie, Chemie und Physik in der Sekundarstufe I überprüft. Damit ist es möglich, in Bezug auf das Erreichen zentraler Bildungsstandards in diesen Fächern für die Länder in der Bundesrepublik Deutschland Entwicklungstrends über einen Zeitraum von 12 Jahren zu beschreiben. Die Ergebnisse wurden am 16. Oktober 2025 der Öffentlichkeit vorgestellt.

➔ Petra Stanat et al. (Hrsg.) (2025): IQB-Bildungstrend 2024. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster, New York 2025

Das IQB berichtet zu den Ergebnissen: 

»Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2024 fallen besorgniserregend aus. In allen vier untersuchten Fächern werden die Regelstandards seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger verfehlt als noch 2018 bzw. 2012.«

Die entsprechende Pressemitteilung der Auftraggeberin, in diesem Fall der Kultusministerkonferenz (KMK) ist mit Licht und Schatten im IQB-Bildungstrend 2024 überschrieben. Die Sowohl-als auch-Überschrift manifestiert sich dann in solchen Formulierungen:

»Die Studie erlaubt erstmals eine Trendbetrachtung über zwölf Jahre hinweg. Die Ergebnisse zeigen deutliche Kompetenzrückgänge in allen vier Fächern seit 2018, aber auch weiterhin hohe und positiv ausgeprägte Schulzufriedenheit und positive Ansätze bei der Integration und beim Einsatz digitaler Medien. Während Motivation und psychosoziale Belastungen Anlass zur Sorge geben, verdeutlichen die Befunde zugleich, dass engagierte Lehrkräfte und gezielte Förderung sich positiv auswirken.«

Es ist einiges gut …

Die KMK versucht die sonnige Seite der Ergebnisse hervorzuheben: »Schülerinnen und Schüler berichten trotz pandemiebedingter Belastungen weiterhin von hoher Schulzufriedenheit und sozialer Eingebundenheit. Auch Jugendliche mit Fluchterfahrung fühlen sich mehrheitlich gut aufgenommen – ein wichtiges Signal für gelingende Integration … In Biologie, Chemie, Physik und Mathematik geben viele Jugendliche an, ein mittleres oder hohes Selbstkonzept zu haben – sie trauen sich also fachlich etwas zu … Die befragten Lehrkräfte zeigen insgesamt hohe Zufriedenheit und Enthusiasmus für ihren Beruf. Besonders Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger berichten von positiven Einstellungen – ein wichtiger Faktor angesichts des Lehrkräftemangels. Auch der Einsatz digitaler Medien wird von vielen Lehrkräften als sinnvoll erlebt.«

… und dann diese „Herausforderungen“

Die Studie verdeutlicht „Problemlagen“, so die KMK: 

➞ In allen vier untersuchten Fächern – Mathematik, Biologie, Chemie und Physik – sind die durchschnittlich erreichten Kompetenzen seit 2018 gesunken. Betroffen sind dabei auch Schülerinnen und Schüler an Gymnasien und solche, die den Mittleren Schulabschluss (MSA) anstreben.

➞ Auch das fachliche Interesse ist deutlich zurückgegangen: In Mathematik, Chemie und Physik geben über die Hälfte der Jugendlichen an, nur geringes Interesse zu haben. Zudem hat sich das Selbstkonzept verschlechtert – ein Warnsignal für die Lernmotivation.

➞ Emotionale Probleme und Hyperaktivität haben zugenommen, insbesondere bei Mädchen. Gleichzeitig hat die Schulverbundenheit abgenommen.

➞ Nach wie vor bleiben soziale und zuwanderungsbezogene Unterschiede bestehen. Jugendliche aus Familien mit geringerem kulturellem Kapital, Zuwanderungs- oder Fluchthintergrund erreichen weiterhin deutlich niedrigere Kompetenzwerte – teils mit Differenzen von deutlich mehr als 40 Punkten.

➞ Darüber hinaus ist der Anteil der Lehrkräfte, die kein grundständiges Lehramtsstudium durchlaufen und abgeschlossen haben, zwischen 2018 und 2024 deutlich gestiegen. Die Studie zeigt Kompetenznachteile bei Schülerinnen und Schülern, die fachfremd unterrichtet wurden. Das ist vor allem an Schulen der Fall, in denen Schülerinnen und Schüler weniger gute Lernvoraussetzungen mitbringen.

Die KMK spricht dann abschließend von „Maßnahmen und Programme zur Verbesserung“ – und zählt auf, was man schon auf den Weg gebracht hat: Mit QuaMath verfolgen die Länder seit 2023 ein umfassendes Programm zur nachhaltigen Verbesserung mathematischer Bildung von der Kita bis zum Abitur. Das Programm StarS, das derzeit vom IQB für die Kultusministerkonferenz entwickelt wird, setzt früh an: Es erfasst ab der 1. Jahrgangsstufe nicht nur Kompetenzen in Sprache und Mathematik, sondern auch Aspekte der Selbstregulation und Motivation und entwickelt Module für die Fortbildung von Grundschullehrkräften.

Von besonderer sozialpolitischer Relevanz ist dieser Hinweis – auf etwas, was bereits auf den Weg gebracht wurde:

»Gemeinsam mit dem Bund greifen Länderprogramme wie SchuMaS3 und das Startchancenprogramm die Herausforderungen in sozial benachteiligten Regionen auf. Das Startchancen-Programm4 ist das größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. Bund und Länder investieren rund 20 Milliarden Euro über zehn Jahre, um die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik verfehlen, bis zum Ende der Programmlaufzeit an den geförderten Schulen zu halbieren. Neben der Stärkung der Basiskompetenzen in Lesen, Schreiben und Rechnen verfolgt das Programm weitere Ziele: die Förderung sozio-emotionaler Kompetenzen, die Herstellung von Ausbildungsreife und Berufsfähigkeit sowie die Befähigung zur demokratischen Teilhabe. Es setzt auf drei Säulen: Investitionen in eine zeitgemäße Lernumgebung, Chancenbudgets für bedarfsgerechte Lösungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung und zusätzliches Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams. Damit sollen Schulen in herausfordernder Lage nachhaltig gestärkt und die Bildungs- und Chancengerechtigkeit erhöht werden.«

»Für Kinder und Jugendliche mit geringen Deutschkenntnissen wird die sprachliche Förderung durch das Bund-Länder-Programm BiSS-Transfer weiter ausgebaut.«

Man kann und soll den Eindruck bekommen: Die tun was. Da wird gegengesteuert. 

Der professionellen Skeptiker werden vielleicht an dieser Stelle einwenden, dass man hier bei der Vielzahl an einzelnen Programmen wieder die deutsche Traditionslinie erkennen kann und muss, jeden Problembearbeitungsversuch in gesonderte Partial-Programme zu packen und dann – meist aufgrund externer Budgetvorgaben – die Ausgestaltung der Programme und die dort vorgesehenen Maßnahmen so hinzubiegen, dass die zum Budget passen und wenn nötig die Zahl der Teilnehmer durch Zugangshürden oder Voraussetzungen begrenzt zu halten.

Und auf einer noch grundsätzlicheren Ebene werden kritische Stimmen darauf verweisen, dass hier mit technokratischen und oftmals eher kleinteiligen bzw. kleindimensionierten Interventionsversuchen ein höchst komplexes, multi-faktorielles Verursachungsfeld von dem, was als Bildungs- bzw. Schulprobleme im bestehenden System wahrgenommen und gemessen wird, adressiert werden soll. 

Wie dem auch sei – das ganze Thema ist nicht nur ein schulpolitsches im engeren Sinne – sondern die Bildungspolitik ist unabdingbar Teil einer modernen Sozialpolitik. Und der angesprochene „Bildungsabsturz“ zeigt sich in einem engen (eben nicht nur statistischen) Zusammenhang mit sozialpolitischen Kontextfaktoren.

Ein Beispiel aus den sozialpolitischen Hotspots: Das Ruhrgebiet (oder genauer: Teile des Ruhrgebiets)

Die Leistungen von Schülerinnen und Schülern sinken bundesweit, das hat der aktuelle IQB-Bildungstrend (erneut) deutlich gemacht. »In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, ist der Absturz besonders stark. Und innerhalb von NRW gibt es nochmal ein Gefälle: Das Ruhrgebiet, Deutschlands größter Ballungsraum, droht völlig abzurutschen. Bildungsarmut, fehlende Frühförderung und Lehrkräftemangel verstärken sich hier gegenseitig – und ziehen ganz Deutschland in der Bilanz (und den Perspektiven) nach unten«, so der Beitrag Im Abwärtsstrudel: Das Ruhrgebiet zieht als “bildungspolitische Verliererregion” ganz Deutschland mit nach unten, der am 18. Oktober 2025 auf dem Bildungsportal News4Teachers veröffentlicht wurde.

Der Beitrag beginnt mit Alltagsszenen aus der Dortmunder Nordstadt, einem der ärmsten Stadtteile Deutschlands (und zitiert hier aus einem Artikel, der bereits im Oktober 2022 in der Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlicht wurde): »Auf dem Nordmarkt in Dortmund riecht es nach gegrilltem Fleisch, billigem Benzin und Abgasen. Zwischen den Marktständen schieben sich Mütter mit Plastiktüten, Kinder rennen barfuß über den Asphalt. Am Rand des Platzes halten zwei Frauen mit Klemmbrett und ernster Miene eine Familie an. „Warum sind die Jungs nicht in der Schule?“, fragt eine von ihnen. Die Mutter zuckt die Schultern. „Sie wurden beschnitten, es blutet noch etwas.“ Ein paar Minuten später trifft das Duo auf den Vater eines Mädchens, das seit Wochen nicht im Unterricht war. „Melissa in Rumänien“, sagt er knapp – die Familie sei aus der Wohnung geflogen.«

Es geht konkret um die Nordmarkt-Grundschule: »94 Prozent der Familien dort leben von staatlicher Unterstützung, 416 von 420 Schülerinnen und Schülern haben eine Migrationsgeschichte. Nur ein oder zwei Kinder pro Klasse sprechen fließend Deutsch. Manche kommen hungrig, andere tragen zu kleine Schuhe. „Wenn die Kinder am Ende der vierten Klasse ein bisschen lesen und rechnen können, ist das schon ein Erfolg“, sagt Schulleiterin Alma Tamborini.«

Die Botschaft der IQB-Bildungstrends 2024, dass das deutsche Bildungssystem überall weiter abschmiert, muss in einem ersten Schritt dahingehend konkretisiert werden, dass der Absturz in Nordrhein-Westfalen – dem bevölkerungsreichsten Bundesland – besonders ausgeprägt war. Und in einem zweiten Schritt muss man ergänzen, dass es nicht bzw. weniger das wohlhabende Rheinland von Bonn bis Düsseldorf ist, das als Problemzone gelten muss. Es ist das Ruhrgebiet, das die Statistik nach unten zieht – der größte zusammenhängende Ballungsraum Deutschlands.

Bereits im vergangenen Jahr wurde der „Bildungsbericht Ruhr 2024“ veröffentlicht. Wissenschaftler nennen die Befunde aus dieser Studie „erschreckend“: In der sogenannten Metropole Ruhr (wie sich das Ruhrgebiet selbst gerne nennt) erreiche „ein Drittel der Drittklässler den Mindeststandard im Lesen nicht, in einigen Großstädten sind es über 40 Prozent“. In Mathematik verfehle etwa ein Viertel der Kinder die Mindeststandards. In dem Bildungsbericht Ruhr 2024 muss man lesen: „In allen Schulformen, allen Fächern und allen Kompetenzbereichen bleibt das Ruhrgebiet hinter den anderen Landesteilen zurück.“

Man kann die Dramatik der nackten Zahlen gar nicht überschätzen:

»Noch düsterer ist das Bild in den weiterführenden Schulen: Von den Achtklässlerinnen und Achtklässlern, die einen einfachen Schulabschluss anstreben, „verfehlen 80 bis 85 Prozent die Mindestanforderungen im Fach Deutsch“. Selbst bei den Jugendlichen mit dem Ziel eines mittleren Abschlusses erreichten „40 bis 45 Prozent“ die Mindeststandards nicht.«

Tatsächlich potenzieren sich im Revier alle Probleme, die auch den IQB-Forschern bundesweit Sorgen bereiten: Bildungsarmut, fehlende Frühförderung, zu wenig Integration, Lehrkräftemangel.

„Die wirtschaftliche und soziale Lage vieler Familien im Ruhrgebiet ist prekär“, hält der Bericht fest. Eine „hohe Armutsquote, niedrige Bildungsabschlüsse der Eltern und ein hoher Anteil an Familien ohne Erwerbstätige“ beeinträchtigten die Bildungschancen vieler Kinder. Besonders Kinder aus Migrantenfamilien müssten „sprachliche und kulturelle Barrieren überwinden“ – eine Mehrfachbelastung, die „dazu führt, dass sie in den Bildungseinrichtungen oft zusätzliche Förderung benötigen, um mit ihren Altersgenossen Schritt zu halten“.

Und ein weiterer selbst für Fachleute sicher überraschender und bedenklicher Befund wird zitiert:

»Hinzu kommt eine beunruhigende Entwicklung in der frühkindlichen Bildung. Während bundesweit der Ausbau von Kitas als Erfolg gilt, zeigt der Bildungsbericht: „Bei den drei- bis unter sechsjährigen Kindern hat sich die Betreuungsquote in der Metropole Ruhr überproportional verschlechtert.“ 2013 waren 92,7 Prozent dieser Altersgruppe in einer Kita betreut, 2023 nur noch 86,5 Prozent. Der Anteil der unbetreuten Fünfjährigen habe sich „seit 2019 nahezu verdoppelt“. In manchen Kommunen liege er zwischen 13 und 16 Prozent.« Und das hat dann an anderer Stelle beklagte Folgen: »Damit würden immer mehr Kinder ohne jede Förderung eingeschult – „eine Entwicklung, die erhebliche regionale Unterschiede und wachsende Defizite bei der Einschulung, insbesondere im Bereich Sprache“, mit sich bringe.«

Wie unter einem Brennglas geht es weiter mit der Analyse der Situation:

Die Lage an vielen Schulen im Ruhrgebiet sei „besorgniserregend“. »Mehr als ein Drittel aller Grundschulen gelten demnach als „Schulen in herausfordernder Lage“, in mehreren Städten seien es über die Hälfte. Diese Schulen arbeiteten „unter starkem Druck, sowohl hinsichtlich der Schulinfrastruktur als auch der pädagogischen Arbeit“. Besonders dort fehle es an Lehrkräften, um „die zunehmend heterogene Schülerschaft angemessen zu unterrichten“. Wer will schon im Brennpunkt arbeiten, wenn vergleichsweise beschauliche Standorte in der Nachbarschaft locken? Der Fachkräftemangel sei „ein Engpassfaktor entlang der gesamten Bildungskette“, heißt es.«

In der Bilanz muss man vor allem hervorheben, dass die Defizite nicht punktuell, sondern flächendeckend auftreten. Teile des Ruhrgebiets müssen dadurch gekennzeichnet werden, dass es sich um eine Region handelt, in der sich Armut, Migration und Bildungsdefizite gegenseitig verstärken.

Die offensichtlich strukturell geformten Probleme schlagen dann wieder auf die einzelnen Kinder durch – und zwar in den bekannten schubladisierenden Reaktionen innerhalb des bestehenden institutionellen Systems. Ein Beispiel aus dem Beitrag Bildungsbericht Ruhr ohne Perspektive! von Brigitte Schumann:

➔ »Die schulischen Problemlagen drücken sich auch in einem drastischen Anstieg des sonderpädagogischen Förderbedarfs aus. Von 2015 bis 2022 ist die Zahl der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den allgemeinbildenden Schulen im Ruhrgebiet um 24 % angestiegen. Die sonderpädagogische Förderquote liegt bei 9,4 %, in NRW bei 7,8 %.«

Schumann zitiert aus einem vom nordrhein-westfälischen Bildungsministerium in Auftrag gegebenes und 2024 veröffentlichtes Gutachten zu dem Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung:

Der Bericht stellt »verklausuliert fest, dass sich die Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht nur an den Kompetenzen der Kinder orientieren. Sie werden auch beeinflusst von „schulsystemimmanenten und kommunalen schulpolitischen Entscheidungen“. Im Klartext heißt das: Die Probleme der Schulen werden zu Problemen der Kinder gemacht.« Die hier strukturell verankerte Expansionstendenz zeigt die zu erwartenden Folgen, dergestalt, »dass aktuell mehr Kinder in den Förderschulen lernen als vor Beginn der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK).«

Zurück zum Bildungsbericht Ruhr 2024: »Die kommunale Armut stellt eines der wesentlichsten Hemmnisse für die Entwicklung des Bildungssystems in der Region dar«, muss man da lesen.

»Die politische Botschaft ist eindeutig, auch wenn sie im Bericht diplomatisch verpackt ist: „Die Gestaltung gerechter Bildungschancen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Übersetzt heißt das: NRW allein kann das nicht mehr stemmen. Der Bund müsste massiv investieren – ein „Aufbau West“ ist nach Jahrzehnten der Förderung Ostdeutschlands geboten.«

Man ahnt leider schon, wie diese – grundsätzlich völlig richtige – Diskussion ausgehen wird.

Abschluss und Ausblick: Unten wehrt sich, um überleben zu können

Gibt es Perspektiven? Was machen die Menschen weit unterhalb der wohlfeil formulierten Programme und Maßnahmen, die in Aussicht gestellt werden? Dazu aus dem Beitrag Im Abwärtsstrudel diese Passage, die wieder zurückkehrt an die Nordmarkt-Grundschule in der Dortmunder Nordstadt:

»Trotz all der widrigen Umstände, trotz Personalmangel, Überforderung und ständiger Krisen – das Kollegium der Nordmarkt-Grundschule kämpft weiter, mit den eigenen Mitteln. Schulleiterin Alma Tamborini hat längst aufgehört, an das zu glauben, was das Ministerium „Lehrplan“ nennt. „Würden wir nach dem offiziellen Plan unterrichten, wäre es ein tägliches Scheitern“, sagt sie. „Ein bisschen Lesen, ein bisschen Rechnen, ein sozialer Umgang miteinander – wenn die Kinder das am Ende der vierten Klasse können, dann war es ein erfolgreiches Jahr.“

Um mehr Zeit für genau das zu schaffen, haben Tamborini und ihr Kollegium kurzerhand beschlossen, ein fünftes Grundschuljahr einzuführen. „Wir haben das Schulgesetz prüfen lassen, und einen Paragrafen, der es verbietet, haben wir nicht gefunden“, erzählt sie. Ein Jahr mehr für Zähneputzen, für Leseübungen, für Bauernhofbesuche. Ein Jahr mehr, um den Kindern die Grundlagen beizubringen, die anderswo selbstverständlich sind – hier eine Überlebensfrage.«

Kompliment. Und Glück auf, wie man im Pott zu sagen pflegt.

Fußnoten

  1. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) hat sogenannte Regelstandards definiert. Diese beschreiben Kompetenzerwartungen, die Lernende „in der Regel“ bzw. „im Durchschnitt“ erreichen sollen, wenn sie einen bestimmten Bildungsgang durchlaufen. Bildungsstandards der KMK liegen für den Primarbereich, den Ersten Schulabschluss, den Mittleren Schulabschluss und die Allgemeine Hochschulreife vor. Neben den Regelstandards werden in Kompetenzstufenmodellen für den Primarbereich und die Sekundarstufe I weitere Niveaustufen unterschieden, die bei der Überprüfung der Bildungsstandards als zusätzlicher Vergleichsmaßstab herangezogen werden. Besonders wichtig sind dabei die Mindeststandards, die definieren, welche Kompetenzen alle Schüler*innen des jeweiligen Bildungsgangs mindestens erwerben sollen. Es ist davon auszugehen, dass dieses Kompetenzniveau für erfolgreiches Weiterlernen und Teilhabe unabdingbar ist. Daher müssen Schüler*innen, die Gefahr laufen, die Mindeststandards zu unterschreiten, besondere Unterstützung erhalten. Das IQB koordiniert die (Weiter)Entwicklung der Bildungsstandards, die für die Sicherung von Bildungsqualität im deutschen Schulsystem grundlegend sind. Auf dieser Basis entwickelt das IQB auch Kompetenzstufenmodelle, die verschiedene Niveaustufen festlegen und beschreiben. Auf der IQB-Seite Definition (von Bildungsstandards) findet man dann auch die einzelnen Bildungsstandards dokumentiert.
    ↩︎
  2. Für die an Test- und Abiturprüfungsaufgaben im Detail interessierten Leser: Im Aufgabenbrowser des IQB findet man auf die Bildungsstandards bezogene, kompetenzorientierte Testaufgaben, Lernaufgaben und Abiturprüfungsaufgaben.
    ↩︎
  3. Der SchuMaS-Forschungsverbund ist ein Verbund aus insgesamt 14 Forschungseinrichtungen und Teil der gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern „Schule macht stark“. Gemeinsam mit deutschlandweit 200 Schulen entwickeln die Wissenschaftler des Verbunds wissenschaftlich fundierte praxisbezogene Maßnahmen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung, die dann an den Schulen implementiert und deren Wirkung wissenschaftlich überprüft werden.
    ↩︎
  4. Mit dem Startchancen-Programm versuchen Bund und Länder dem deutlichen Rückgang in der Kompetenzentwicklung bei vielen Schülerinnen und Schülern zu begegnen: Das Programm ist zum 1. August 2024 gestartet und läuft über zehn Jahre. Bund und Länder fördern es jeweils mit einer Milliarde Euro pro Jahr. Es nehmen ca. 4.000 Schulen in herausfordernder Lage teil, damit werden rund zehn Prozent bzw.  1 Million Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreicht. Es werden 60% Grundschulen und 40 % weiterführende Schulen und berufliche Schulen, hier vorrangig die Bildungsgänge der Berufs- und Ausbildungsvorbereitung partizipieren. An den Startchancen-Schulen wird in eine bessere und lernförderlichere Infrastruktur und Ausstattung investiert, aber auch bedarfsgerechte Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung und eine gezielte Stärkung multiprofessioneller Teams werden gefördert.
    ↩︎