Vor dreißig Jahren, am 16. Juli 1995, ging die Handelsplattform Amazon online. Damals als ein Versandhändler für Bücher. Wir alle wissen, was daraus geworden ist. Ein globaler Gigant. Ein Unternehmen, dass den Online-Handel in vielen Ländern dominiert. In Deutschland beträgt der Marktanteil von Amazon (mindestens) 60 Prozent. Der Eigenhandel von Amazon.de wird auf 17 Prozent des deutschen E-Commerce-Umsatzes taxiert, dem Amazon-Marketplace werden weitere 43 Prozent zugeschrieben. In seiner Bilanz-Meldung an die US-Börsenaufsichtsbehörde SEC nennt Amazon für Deutschland 2024 einen Nettoumsatz (net sales) in Höhe von 40,9 Milliarden US-Dollar (bei einem konsolidierten Gesamtumsatz weltweit von 638 Milliarden US-Dollar). Damit bleibt Deutschland nach den dominanten USA der größte Ländermarkt für Amazon, vor Großbritannien und Japan.
Sozialpolitisch ist Amazon seit vielen Jahren vor allem ein Thema mit Blick auf die Arbeitsverhältnisse in den großen Versandlagern (und zunehmend auch das, was „auf der letzten Meile“ passiert, also bei den Paketzustellern). Dabei wurden in der Vergangenheit zum einen immer wieder der enorme Druck in den Lagern und die prekäre Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse beispielsweise durch den gezielten Einsatz von Befristungen thematisiert. Man muss aber neben aller völlig berechtigten Kritik an den Arbeitsbedingungen auch zur Kenntnis nehmen, dass das Unternehmen an den einzelnen Standorten Menschen eine Chance gegeben hat, die ansonsten bei „normalen“ Arbeitgebern nicht mal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs gekommen wären.
Zum anderen hat ein Teil der Beschäftigten bei Amazon in Deutschland – man muss es so pathetisch daherkommend formulieren – „Arbeitskampfgeschichte“ geschrieben. »Bad Hersfeld und Leipzig im Mai 2013: Von hier gingen die Bilder von Streikenden vor den riesigen grauen Amazon-Distributionshallen durch die Medien. Es waren die ersten Streikaktivitäten in der Unternehmensgeschichte von Amazon überhaupt, getragen von Beschäftigten an den beiden Standorten und ihrer Gewerkschaft ver.di.« Die richtige Formulierung müsste eigentlich lauten: Sie schreiben noch immer an dieser Geschichte, die bislang auf den ersten Blick nicht wirklich von Erfolg gekrönt war. Wobei man hier nicht einseitig urteilen sollte: Der Druck der Gewerkschaft ver.di auf Amazon war teilweise von Erfolg gekrönt. Die Löhne sind deutlich gestiegen (der Einstiegslohn bei Amazon in Deutschland liegt bei 15 Euro brutto pro Stunde – für eine extrem harte Arbeit) und in einigen Versandlagern gibt es nun Betriebsräte unter der Leitung von Gewerkschaftsmitgliedern. Einige Betriebsräte konnten erfolgreich gegen den quotenbedingten Druck am Arbeitsplatz vorgehen.
➔ Die vorerst letzte hier einschlägige Meldung datiert vom 11. Juli 2025: »Seit Donnerstag wird weider an mehreren Amazon-Standorten gestreikt, darunter auch in Leipzig. Die Gewerkschaft Verdi fordert einen Tarifvertrag«, heißt es unter der Überschrift Amazon-Beschäftigte in Leipzig fordern seit Jahren Tarifvertrag. Es gehe nach wie vor um die Anerkennung von Tarifverträgen im Einzel- und Versandhandel, was Amazon kategorisch ablehnt. »Rund 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legten nach Angaben der Gewerkschaft Verdi die Arbeit nieder. Neben Leipzig seien auch die Beschäftigten in Bad Hersfeld (Hessen), Dortmund (Nordrhein-Westfalen), Werne (Nordrhein-Westfalen), Koblenz (Rheinland-Pfalz) und Rheinberg (Nordrhein-Westfalen) aufgerufen. Der Ausstand habe am Donnerstag begonnen und werde bis Samstagnachmittag dauern.« Und wie seit vielen Jahren kann man auch diese Stellungnahme des Unternehmens lesen: »Der Konzern geht nach eigenen Angaben davon aus, dass der Streik keine merklichen Auswirkungen auf die Geschäftsabläufe haben wird.« Der Frust unter den Beschäftigten sei ziemlich groß. Sie streikten jetzt das elfte Jahr, um den Online-Versandhändler an den Verhandlungstisch zu bekommen. Amazon verweigert weiterhin jede Beteiligung an Tarifverhandlungen, was einerseits auf seiner ideologischen Gewerkschaftsfeindlichkeit beruht und andererseits auf seine Angst vor einem Dominoeffekt in anderen Ländern zurückzuführen ist.
Exkurs: Der „Verletzungs-Produktivitäts-Trade-off“: Wie Amazons Besessenheit von Geschwindigkeit einzigartig gefährliche Lagerhäuser schafft. Befunde einer Senatsuntersuchung in den USA
In den USA, dem Mutterland von Amazon, gab es 2023 und 2024 eine intensive Untersuchung der Arbeitsbedingungen bei Amazon. Durchgeführt wurde die vom Ausschuss für Gesundheit, Bildung, Arbeit und Renten des US-Senats unter dem Vorsitz des weithin bekannten unabhängigen Senators Bernard Sanders. Der Ausschuss hat im Dezember 2024 seinen Abschlussbericht vorgelegt:
➔ United States Senate (2024): The “Injury-Productivity Trade-off”: How Amazon’s Obsession with Speed Creates Uniquely Dangerous Warehouses, Washington: United States Senate, Committee on Health, Education, Labor, and Pensions, December 2024
Aus der Zusammenfassung (United States Senate 2024: 4-5) sei hier in deutscher Übersetzung zitiert:
»Die Lagerarbeiter von Amazon schlagen seit Jahren Alarm wegen unsicherer Arbeitsbedingungen und einer Unternehmenskultur, die Geschwindigkeit und Profit über die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter stellt. Viele dieser Beschäftigten leben mit schweren Verletzungen und dauerhaften Behinderungen, weil das Unternehmen auf der Durchsetzung zermürbender Produktivitätsquoten besteht und sich weigert, verletzte Arbeitnehmer angemessen zu versorgen …
In den vergangenen achtzehn Monaten hat der Ausschuss eine umfassende Untersuchung der Tätigkeiten von Amazon durchgeführt. Der Ausschuss bat aktuelle und ehemalige Amazon-Beschäftigte um Informationen über ihre Erfahrungen in den Lagern von Amazon. Fast 500 Beschäftigte teilten dem Ausschuss ihre Geschichten mit und die Mitarbeiter des Ausschusses führten 135 Interviews, sowohl virtuell als auch persönlich. Diese Arbeiter stellten dem Ausschuss mehr als 1.400 Dokumente, Fotos und Videos zur Verfügung, um ihre Geschichten zu untermauern. Einige dieser Dokumente und Fotos sind in diesem Bericht und unter in den Anhängen enthalten. Diese Beweise zeigen ein zutiefst beunruhigendes Bild davon, wie eines der größten Unternehmen der Welt seine Belegschaft behandelt.
Obwohl der Ausschuss auch von Amazon selbst Informationen einforderte, u. a. durch detaillierte Nachfragen in seinem ersten Schreiben an das Unternehmen sowie durch zahlreiche Folgeanfragen an die Anwälte des Unternehmens, hat Amazon dem Ausschuss nur äußerst wenige Informationen zur Verfügung gestellt. In achtzehn Monaten hat Amazon nur 285 Dokumente vorgelegt – weniger als ein Viertel dessen, was der Ausschuss von derzeitigen und ehemaligen Mitarbeitern erhalten hat. Bei fast der Hälfte dieser 285 Dokumente handelt es sich um Schulungsunterlagen für das Erste-Hilfe-Personal vor Ort.«
»Bei seiner Untersuchung fand der Ausschuss umfangreiche Beweise für eine Unternehmenskultur, die von Geschwindigkeit und Produktivität besessen ist. Diese Kultur, die von unerbittlichen Produktivitätsanforderungen angetrieben wird, hat zu systematischen Sicherheitsmängeln und hohen Verletzungsraten geführt. Amazon erwartet von seinen Beschäftigten, dass sie sich mit unsicherer Geschwindigkeit und unter unsicheren Bedingungen bewegen, die dazu führen, dass sich die Beschäftigten viel häufiger verletzen als in anderen Lagerhäusern. Die Arbeitnehmer berichteten dem Ausschuss, dass Amazon regelmäßig Sicherheitsbedenken ignoriert, den Arbeitnehmern befiehlt, in Positionen zu bleiben, die ihnen Schmerzen bereiten, den Arbeitnehmern die notwendige medizinische Versorgung verweigert oder sie drängt, zu früh an die Arbeit zurückzukehren, und Anpassungen für arbeitsbedingte Verletzungen und Behinderungen verweigert.
Der Ausschuss hat auch Beweise dafür gefunden, dass Amazon sich der Sicherheitsrisiken bewusst ist, die durch die von seinen Mitarbeitern geforderte Geschwindigkeit verursacht werden. Amazon hat eine Reihe von mehrjährigen internen Studien in Auftrag gegeben, um zu verstehen, wie es die Sicherheit seiner Mitarbeiter verbessern kann. Doch als diese internen Studien Anstrengungen empfahlen, die das Arbeitstempo der Beschäftigten verringern und damit möglicherweise dem Unternehmen schaden könnten, entschied sich Amazon dafür, die Ergebnisse der Studien nicht umzusetzen. Kurz gesagt, die Untersuchung des Ausschusses ergab, dass Amazon nicht nur den Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Verletzungen kennt, sondern auch, dass das Unternehmen gezielt potenzielle Sicherheitsverbesserungen ablehnte und Verletzungen seiner Mitarbeiter als Kosten des Geschäftsbetriebs akzeptierte. Unglaublicherweise weigert sich das Unternehmen, die empfohlenen Sicherheitsverbesserungen zu übernehmen, während es gleichzeitig eine irreführende Darstellung seiner Verletzungsraten präsentiert und behauptet, seine Lagerhäuser seien viel sicherer, als sie es tatsächlich sind.«
Und die Löhne? Bereits im Jahr 2020 haben Matt Day and Spencer Soper ihren Beitrag, in dem sie von einer damaligen Untersuchung der Entlohnung berichteten, kompakt so überschrieben: „Amazon Has Turned a Middle-Class Warehouse Career Into a McJob“. Darin heißt es: »Viele Mitarbeiter der Amazon-Lagerhäuser haben Schwierigkeiten, ihre Rechnungen zu bezahlen und mehr als 4.000 Mitarbeiter beziehen in neun Bundesstaaten, die vom U.S. Government Accountability Office untersucht wurden, Lebensmittelmarken. Nur Walmart, McDonald’s und zwei Dollar-Store-Ketten haben mehr Angestellte, die eine solche Unterstützung benötigen, so der Bericht, der besagt, dass 70 % der Empfänger Vollzeit arbeiten. Da Amazon in den USA jeden Tag ein neues Lagerhaus eröffnet, verwandelt es die Logistikbranche von einem Karriereziel mit dem Versprechen von Löhnen der mittleren Klasse in eine Einstiegsarbeit, die nur eine Stufe über der Arbeit eines Burgerflippers oder einer Supermarktkassiererin liegt.«
Zur Einordnung des hier angesprochenen Abwärtsprozesses muss man wissen: »In Lagerhäusern wurde in der Regel weniger gezahlt als in Fabriken, aber mehr als im Einzelhandel. Es handelt sich nicht um hochqualifizierte Arbeitsplätze, die jedoch ein gewisses Maß an Geschicklichkeit erfordern – sei es bei der Verwaltung des Lagerbestands oder beim Fahren eines Gabelstaplers, ohne Waren zu beschädigen und jemanden zu verletzen … der eigentliche Wandel in der Logistik begann mit der rasanten Beschleunigung des elektronischen Handels. Und kein Unternehmen hat mehr dazu beigetragen, die Art und Weise, wie Produkte gelagert, verpackt und versandt werden, neu zu gestalten, als Amazon mit seinem starken Fokus auf Kundenservice … Nach 20 Jahren von Versuch und Irrtum hat Amazon seine Fulfillment-Zentren in fein abgestimmte Fließbänder verwandelt, oft zermürbende Arbeitsplätze, die im Laufe der Jahre immer wieder Gegenstand von Medienberichten waren, darunter auch Untersuchungen, die die Verletzungsraten und die Lohnpraxis analysiert haben.
Auch damals schon gab es zahlreiche Berichte über hoch problematische Arbeitsbedingungen: »Viele Amazon-Mitarbeiter kündigen oder werden wegen Sicherheits- und Produktivitätsverstößen innerhalb von einem oder zwei Jahren nach Arbeitsantritt entlassen – eine hohe Fluktuationsrate selbst in einer Branche, in der die Mitarbeiter häufig den Arbeitsplatz wechseln.«
Und zu den Gewerkschaften: »Das Wachstum von Amazon in der Logistikbranche untergräbt die Schlagkraft der Gewerkschaften. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft in der Transport- und Lagerbranche ging 2019 auf 16,1 % zurück, verglichen mit 21,3 % ein Jahrzehnt zuvor. Dies ist … der bei weitem stärkste Rückgang in allen Branchen. Dieser Rückgang ist auf das rasche Wachstum nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplätze bei Unternehmen wie Amazon zurückzuführen.«
Amazon – (bislang) eine Job-Maschine
Schaut man sich das Wachstum der globalen Beschäftigung bei Amazon an, dann zeigt sich ein imposantes Bild:

Man erkennt den enormen Wachstumsschub der Beschäftigtenzahlen in den beiden Pandemie-Jahren, in denen Amazon als der Riese des Online-Handels besonders profitiert hat. Aber offensichtlich ist das Wachstum 2021 auf einem Plateau angekommen, von dem es tendenziell wieder runter geht. Eine Fortschreibung des Beschäftigungswachstums der Vergangenheit kann man getrost vergessen. Und das hat nicht nur, aber auch etwas mit der fortschreitenden und mittlerweile beschleunigten Roboterisierung zu tun. Auch hier erweist sich das Unternehmen als Effizienzmaschine auf höchstem Niveau.
Vom angeblichen „Mythos“, das Roboter Jobs vernichten – und der Realität (bei Amazon)
Amazon setzte erstmals im Jahr 2012 nach dem Kauf des Unternehmens Kiva Systems Robotertechnik ein. Die Firma aus Boston wurde später zu Amazon Robotics umbenannt. Die Zahl der eingesetzten Roboter steigt – und das Wachstum hat sich enorm beschleunigt. »Der Online-Händler Amazon hat einen Meilenstein im Einsatz von Robotern im E-Commerce erreicht: Die Anzahl der eingesetzten Roboter übersteigt nun eine Million. Das teilte Amazon … mit. Damit nähert sich die Anzahl der Roboter langsam der Zahl der arbeitenden Menschen bei Amazon«, berichtet Oliver Bünte in seinem am 1. Juli 2025 veröffentlichten Beitrag Amazon „beschäftigt“ über eine Million Roboter. »Wir haben soeben unseren einmillionsten Roboter in Betrieb genommen und bauen damit unsere Position als weltweit größter Hersteller und Betreiber mobiler Robotik weiter aus«, jubelt das Unternehmen in einer am 30. Juni 2025 veröffentlichten Mitteilung.
Amazon selbst hat schon vor Jahren – im Januar 2019 – eine fast schon symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Roboter beschrieben: »Seit Einführung der Robotertechnik im Jahr 2012 sind bei Amazon rund 300.000 neue Vollzeitstellen weltweit entstanden. Das widerlegt den Irrglauben, dass Maschinen menschliche Arbeitskräfte ersetzen. Im Gegenteil, Mitarbeiter profitieren sogar von den fleißigen Robotern, denn diese übernehmen in den Logistikzentren unbeliebte und anstrengende Aufgaben. Mitarbeiter spielen eine entscheidende Rolle bei der Weiterentwicklung der Robotik-Innovationen bei Amazon: Sie geben den Technik-Teams Feedback, wie die Arbeit mit den Robotern auf der Lagerfläche läuft, und zeigen Bereiche auf, in denen Innovationen den Arbeitsfluss, die Sicherheit und die Effizienz verbessern könnten.«
Da kommen einem fast die Tränen der Rührung. Zugleich liest sich das irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Also lassen wir andere Stimmen zu Wort kommen.
Beispielsweise die von Benjamin Y. Fong. Er ist stellvertretender Direktor des Center for Work & Democracy an der Arizona State University. Auch er setzt sich mit der nach außen vorgetragenen außerordentlich positiven Sichtweise auf die zunehmende Roboterisierung bei Amazon auseinander, beispielsweise in seinem Beitrag Amazon says it’s a ‘myth’ that robots kill jobs. Here’s the reality, der am 8. Mai 2025 veröffentlicht wurde:
»Stefano La Rovere, Direktor für globale Robotik, Mechatronik und nachhaltige Verpackungen bei Amazon, hat die unglückliche Aufgabe, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Amazon mit seinen Robotikeinsätzen nicht tatsächlich menschliche Arbeit automatisiert. „Es ist ein Mythos, dass Technologie und Roboter Arbeitsplätze vernichten“, sagte La Rovere letztes Jahr gegenüber CNBC. Er sagte, die Roboter unterstützten die Arbeiter, „indem sie die Laufwege zwischen den Aufträgen verkürzen, indem sie ihnen repetitive Bewegungen abnehmen oder indem sie ihnen helfen, schwere Gewichte zu heben. Im Gegenzug können unsere Mitarbeiter neue Fähigkeiten erlernen“.«
Da ist sie wieder, die Hochglanz-Argumentation von Amazon.
Fong weist darauf hin, dass Amazon zugleich damit prahlt, dass die Lagerautomatisierung die Kosten um 25 Prozent gesenkt hat. Man muss schon reichlich naiv sein, wenn man glaubt, dass diese Einsparungen nichts mit den Arbeitskosten zu tun haben.
Fong wirft im weiteren Gang seiner Ausführungen einen differenzierten Blick auf die Vorgänge bei Amazon. Dazu dieser Hintergrund:
»Um einen besseren Eindruck davon zu bekommen, wie sich die Automatisierung auf die Belegschaft von Amazon auswirkt, müssen wir nach Art der Einrichtung differenzieren: Die Amazon-Fulfillment-Zentren, in denen die Bestellungen kommissioniert und verpackt werden, sind die Hauptziele der Automatisierung. Die Kiva-Roboter, die Warenstapel in den Lagerhallen bewegen, und die Roboterarme, die das automatische Kommissionieren und Verstauen von Waren ermöglichen, werden hauptsächlich in Fulfillment Centern eingesetzt. Im Gegensatz dazu werden die Amazon-Zustellstationen, in denen die Pakete auf die Lastwagen verladen werden, die zu Ihnen nach Hause fahren, nicht mit der gleichen Robotertechnik ausgestattet und unterscheiden sich nicht wesentlich von den UPS- oder FedEx-Einrichtungen.«
Jetzt zuerst der Blick auf die Entwicklung bei den Zustellstationen:
»Von 2022 bis 2024 stieg die Gesamtzahl der Paketzustellungen von Amazon Logistics, dem Lieferdienst des Unternehmens … von 5,1 Mrd. auf 6,1 Mrd., was einem Anstieg von rund 20 % entspricht. Im gleichen Zeitraum stieg … die durchschnittliche Anzahl der Mitarbeiter in den Amazon-Zustellstationen von 208 auf 250, was ebenfalls einem Anstieg von rund 20 % entspricht. Dieses Zusammentreffen ist kein Zufall: Wenn man 20 % mehr Pakete ausliefern will, braucht man 20 % mehr Mitarbeiter, um sie auf die Lastwagen zu laden.«
Also keine erkennbare Verdrängung menschlicher Arbeit. Entwarnung.
Aber da gibt es doch noch die Fulfillment-Zentren? Auch hier werden neue Zahlen präsentiert:
»Bei den Fulfillment-Zentren sieht die Sache ganz anders aus. Im Jahr 2022 lag die durchschnittliche Zahl der Beschäftigten in einem Amazon Robotics Sortable (ARS) Fulfillment Center* … bei 3.634 und im Jahr 2024 bei 3.256, was einem Rückgang von mehr als 10 % entspricht. Wenn wir davon ausgehen, dass die Beschäftigung in den Fulfillment-Centern so wächst wie die Beschäftigung in den Zustellbasen, dann wären in den ARS-Fulfillment-Centern im Jahr 2024 durchschnittlich 4.361 Mitarbeiter beschäftigt gewesen. Unter Berücksichtigung des Produktivitätswachstums ist die Beschäftigung in den Fulfillment-Centern also innerhalb von nur zwei Jahren um etwa 25 % gesunken. Das ist ein schockierender und drastischer Rückgang an Amazons wichtigsten großen Beschäftigungsknotenpunkten.«
*) Amazon Robotics Sortable (ARS) Fulfillment Center sind am stärksten automatisierten Betriebe von Amazon.
»Bei anderen Amazon-Fulfillment-Centern ist die Geschichte ähnlich. In seinen traditionellen … Fulfillment-Zentren lag die durchschnittliche Anzahl der Mitarbeiter im Jahr 2022 bei 2.089; im Jahr 2024 sind es 1.751, ein Rückgang von 16 %. In den Fulfillment-Zentren für große Artikel waren 2022 durchschnittlich 998 Mitarbeiter beschäftigt; 2024 waren es 883, was einem Rückgang von 12 % entspricht. Amazon verschickt jedes Jahr mehr Pakete, aber mit weniger Mitarbeitern in den Fulfillment Centern.«
Fong bilanziert: »Der rasche Abbau menschlicher Arbeitskraft in den Fulfillment-Zentren in den letzten zwei Jahren ist, anders als La Rovere behauptet, weder ein „Mythos“ noch eine Abweichung. Es ist vielmehr erst der Anfang von Amazons großer Verdrängung.«
Auch Oliver Bünte verweist in seinem Beitrag auf die gewaltige Effizienzsteigerung bei Amazon: »Die durchschnittliche Anzahl der Mitarbeiter je Amazon-Standort lag 2024 bei 670. Noch 2020 lag sie bei knapp 1000. Eine Analyse des Wall Street Journal hat ergeben, dass dies die niedrigste Beschäftigungsrate seit 16 Jahren ist. Amazon schlägt damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen spart Amazon teures Personal ein. Zum anderen begegnet das auch die Auswirkungen von Mitarbeiterfluktuation an den Standorten sowie dem Fachkräftemangel. Dabei ist die Anzahl der versendeten Pakete pro Mitarbeiter seit 2015 von etwa 175 auf 3.870 angestiegen, rechnet das Wall Street Journal vor. Möglich macht dies der Einsatz von Robotern, die unermüdlich rund um die Uhr arbeiten und neben dem automatischen Transport der Waren und Pakete auch noch Waren heraussuchen, sortieren und Pakete packen helfen.«
Und bereits in Umrissen erkennbar ist der nächste enorme Effizienzsprung – bei den Robotern. Dazu Bünte: »Für weitere Optimierung der Prozesse soll künftig das neue generative KI-Grundlagenmodell DeepFleet sorgen. Die Künstliche Intelligenz, die Amazon entwickelt hat und nun einführen will, werde die gesamte Roboterflotte intelligenter machen, damit die Roboter ihre Arbeit noch effizienter erledigen können. DeepFleet soll dabei die Roboterbewegungen besser koordinieren und die Fahrzeit in den Fulfillment-Centern verringern. Rund 10 Prozent der Zeit soll diese Maßnahme einsparen, sodass die Pakete noch schneller und kostengünstiger an Kunden geliefert werden können, heißt es von Amazon … Die Künstliche Intelligenz soll zusätzlich dabei helfen, Warenbewegungen zwischen den einzelnen Standorten zu verringern. Dazu greift die KI auf Amazon-interne Datensätze zurück, um zu ermitteln, an welchem Standort ein Produkt gelagert sein muss, um es schnellstmöglich an möglicherweise daran interessierte Kunden ausliefern zu können. Amazon erhofft sich durch den Einsatz der DeepFleet-KI viel. Die Künstliche Intelligenz soll mit der Zeit immer schlauer werden, um Lieferprozesse weiter zu optimieren und Waren näher am Kunden zu lagern. Wahrscheinlich dürfte das auch weiteres Einsparpotenzial bei Mitarbeitern haben.«
Das hört sich für den einen oder anderen sehr abstrakt an. Geht es auch etwas praxis- bzw. lebensweltbezogener?
Eine Stimme aus dem Maschinenraum von Amazon
Nehmen wir als ein Beispiel Alvin Gaine, ein Amazon-Lagerarbeiter in der DB4K-Lieferstation in Queens, New York. Der berichtet ganz konkret von den Veränderungen und den Reaktionen der derzeit Beschäftigten in dem Beitrag Amazon Workers Defy Dictates of Automation, der am 26. Juni 2025 veröffentlicht wurde – eine beeindruckende Schilderung dessen, was gerade passiert:
»Die Lieferstationen von Amazon werden landesweit mit Robotern ausgestattet, was zu weniger Arbeitern und einer Beschleunigung für die verbleibenden Arbeiter führt. In der Zustellstation, in der ich arbeite, haben die Arbeiter mit Trotz reagiert. Die Amazon-Fulfillment-Zentren, in denen die Artikel verpackt werden, werden nach und nach automatisiert, aber bisher wurden die Lieferstationen hauptsächlich von Menschen bedient. Jetzt werden ganze Systeme nachgerüstet oder ganz abgeschafft, „im Namen der Sicherheit“ und „zum Wohle der Mitarbeiter“. Automatisierung bedeutet jedoch, dass Arbeitnehmer entlassen, in neue Positionen versetzt oder zur Versetzung gezwungen werden. Ich arbeite bei der New Yorker Zustellstation DBK4 in Maspeth, Queens, und sie ist ein Fenster in diese Zukunft. Mitten in New Yorks größtem Stadtbezirk bearbeitet DBK4 je nach Saison täglich 60.000 bis 100.000 Pakete. Das Unternehmen beschäftigt 200 bis 500 Mitarbeiter im Lager und bis zu 1.000 Fahrer. Amazon hat kürzlich 80 Prozent der Förderbänder in der Anlage mit einer neuartigen Technologie namens ADTA (Auto Divert to Aisle) automatisiert. Vor der Automatisierung wurde die Arbeit in zwei Teilen erledigt: Ein Band brachte die Pakete von der Laderampe, und „Picker“, die entlang des Bandes standen, nahmen die Pakete auf. Die Kommissionierer legten die Pakete in den Regalen ab, die den jeweiligen Stadtvierteln zugeordnet waren. Ein zweiter Mitarbeiter, ein so genannter „Stower“, der oft mehrere Gänge bedient, packt die Pakete dann in Säcke, die für bestimmte Stadtteile bestimmt sind. ADTA hat dies alles geändert. Die Kommissionierer werden ersetzt, die meisten von ihnen werden zu Staplern umfunktioniert. Ein ausgeklügeltes Band übernimmt nun ihre Arbeit, indem es die Pakete vom Band in die Gänge ableitet, um sie dort zu verstauen. Insgesamt erfordert das Sortieren von Paketen jetzt weniger Arbeitskräfte. Aber die Automatisierung hat auch neue Aufgaben geschaffen. Jetzt kann nur noch der Mensch dafür sorgen, dass die Pakete auf den neuen Bändern richtig ausgerichtet sind. Außerdem kann die Maschine nur Pakete mit kleineren Abmessungen und geringerem Gewicht verarbeiten, ohne zusammenzubrechen. Amazon behauptet öffentlich, dass diese Automatisierung die Lagerhäuser sicherer macht. Aber mir ist klar, dass die Maschinen nicht unserer Sicherheit dienen, sondern die Produktivität der Arbeiter erhöhen. ADTA schiebt die Pakete viel schneller als Menschen, was dazu führt, dass die nachgelagerten Lagerarbeiter mit immer größeren Paketstapeln konfrontiert werden. Die Beschleunigung hat zur Folge, dass DBK4 jetzt mehr Volumen mit weniger Menschen verarbeitet, während immer größere Paketstapel auf eine schrumpfende Zahl von Arbeitern verteilt werden. Die Sicherheit ist auf der Strecke geblieben, da sich jeder nach den Launen von ADTA bewegt. Die Beschäftigten müssen sich unablässig mit einer unmenschlichen Flut von Paketen befassen oder riskieren, dass ihre Gänge mit Kartons überfüllt werden. Dies wiederum bedeutet, dass die Arbeitnehmer Gefahr laufen, über die überquellenden Kartons zu stolpern. Während sich die Arbeiter abmühen, lösen die Maschinen einen durchdringenden Alarm aus, der erst verstummt, wenn die Kistenstapel abgetragen sind. Jetzt schrillen die Alarme ununterbrochen. Die Stille gehört der Vergangenheit an. Genauso wie jede Gelegenheit, um zu Atem zu kommen. In dem Maße, wie „veraltete“ Aufgaben verschwinden, nimmt auch die Arbeitsvielfalt ab. Lagerarbeit ist anstrengend, und jede Aufgabe beansprucht eine andere Muskelgruppe. Da die Vielfalt der Aufgaben abnimmt, sind die Arbeitnehmer gezwungen, jeden Tag die gleichen Bewegungen auszuführen. Da die Aufgaben von der Unternehmensleitung festgelegt werden und diese stets die Produktivität in den Vordergrund stellt, werden die Arbeitnehmer immer wieder den Aufgaben zugewiesen, bei denen sie die „besten Zahlen“ haben. Verletzungen durch wiederholte Belastungen werden unweigerlich zunehmen. Zusätzlich zur neuen Bandautomatisierung wurde DBK4 in eine Same-Day-Anlage umgewandelt. Diese neue Funktion in der Werkstatt ist für die schnelle Lieferung von Artikeln zuständig, die innerhalb von 24 Stunden an die Kunden ausgeliefert werden.« |
Und wie reagieren die Betroffenen? Auch hier bekommen wir einige beeindruckende Hinweise:
»Es gibt einen Silberstreif am Horizont. Wenn Amazon uns härter bedrängt, schafft das Möglichkeiten, sich zu organisieren. Die Menschen haben bereits begonnen, sich zu wehren. Viele Arbeiter haben begonnen, langsamer zu arbeiten, als es die Maschinen erfordern, was dazu führt, dass die Maschinen mitten in der Schicht ausfallen. Der Standort gerät in Lieferverzug und muss die Arbeit auf den nächsten Tag verschieben. Diese individuellen Widersetzlichkeiten sind bei DBK4 zur Routine geworden. Die Arbeiter sind verärgert über die Unfähigkeit des Managements, auf ihre Anliegen einzugehen, und das schürt die tägliche Feindseligkeit gegenüber dem Unternehmen. Ich sehe es jeden Tag. Die „Stimme des Mitarbeiters“ ist ein Whiteboard, auf dem Amazon das Feedback der Mitarbeiter einholt. Jeden Tag wird es mit Beschwerden über das neue System und Drohungen, den Arbeitsplatz zu verlassen, zugekleistert. Fast alle tragen Kopfhörer, um die unaufhörlichen Alarme zu übertönen, und das Management ist frustriert, weil sowohl die Maschine als auch die Mitarbeiter ihre Befehle ignorieren. Diese neuen Umstände haben eine Situation geschaffen, die reif ist für eine Organisierung, die schließlich der Knackpunkt für Amazon sein könnte, wenn sie diese Maschinen in ihrem Netzwerk ausbringen.« |
Das, was Alvin Gaine, der Amazon-Lagerarbeiter aus New York, zu sagen hat, das muss man erst einmal alles verdauen.