»Die Corona-Pandemie hat nicht nur die physische Gesundheit von Millionen von Menschen weltweit beeinträchtigt, sondern auch signifikante Auswirkungen auf die psychische Gesundheit gehabt. „Post-Covid“ oder „Long Covid“ beschreibt eine Reihe von Symptomen, die bei einigen Personen nach der akuten Phase einer SARS-CoV-2-Infektion weiterhin bestehen bleiben oder neu auftreten. Diese Symptome können sowohl körperlicher als auch psychischer Natur sein.
Ein wesentliches Merkmal von Post Covid ist, dass die Symptome nicht nur durch eine psychische Erkrankung zu erklären sind, sondern oft auch in engem Zusammenhang mit den physischen Auswirkungen der Krankheit stehen. Es wird angenommen, dass entzündliche Prozesse im Gehirn, vaskuläre Veränderungen oder eine Dysregulation des Immunsystems eine Rolle bei der Entstehung dieser Symptome spielen können.« So beginnen Kristina Adorjan und Hans Christian Stubbe ihren Beitrag Long Covid oder psychisch krank? Wie man psychische Erkrankungen von Post Covid abgrenzen kann, der 2025 veröffentlicht wurde.
Etwa 5 Prozent der Bevölkerung leiden nach einer SARS-CoV-2 Infektion an postinfektiösen Beschwerden. Long COVID bzw. ein Post-COVID-19-Zustand kann sämtliche Organsysteme betreffen und bis zur vollständigen Pflegebedürftigkeit führen. 10–50 Prozent aller Betroffenen erfüllen Diagnosekriterien für eine myalgische Enzephalomyelitis/ein chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS).
Mit jedem einzelnen Fall sind Menschen mit ganz unterschiedlichen Fallgeschichten, Verläufen und Erfahrungen verbunden. Man kann nun aus einer gesundheitspolitischen Perspektive auf die Art und Weise der (Nicht-)Versorgung der Betroffenen schauen, was auch deshalb dringend angeraten erscheint, weil es sich um ein neues und oftmals unscharfes Krankheitsbild handelt, das erst einmal überhaupt „richtig“ diagnostiziert (und damit gegenüber anderen Erkrankungen abgegrenzt) werden muss – und dann muss man sich die therapeutische Landschaft anschauen, also gibt es lokal/regional ausreichend Behandlungsmöglichkeiten (und bei dem derzeitigen Entwicklungsstand des medizinischen Wissens Long Covid betreffend muss man vorgängig der Frage nachgehen, was man denn genau wie therapieren will/kann).
Verloren in der Nicht-Versorgung? Aber zugleich: welche Versorgung denn?
Erste Untersuchungen von Betroffenenperspektiven geben Hinweise auf eine unzureichende Anerkennung und Versorgung der Erkrankung, so Hammer et al. (2025), die ihren Beitrag unter die Überschrift „Im Endeffekt ist man auf sich allein gestellt.“ Eine qualitative Analyse von Versorgungsbarrieren aus der Sicht Long-COVID-Betroffener gestellt haben. Aber was heißt hier Versorgung? Dazu Hammer et al.: »Behandlungsempfehlungen beschränken sich bislang auf Belastungsmanagement und symptomatische, psychologische oder aktivitätssteigernde Maßnahmen (Physio- oder Bewegungstherapie).« Die Befunde aus ihrer Studie sind ernüchternd:
»Im vierten Jahr nach Pandemiebeginn fehlt es nach den Erfahrungen von Long-COVID-Betroffenen an Versorgungsstrukturen und kompetenten Ansprechpartnern aufseiten der Leistungserbringer und Leistungsträger. Spezialambulanzen für postvirale Syndrome sind für die Mehrheit der Befragten entweder nicht erreichbar, nehmen keine neuen Patienten auf oder haben Wartezeiten von bis zu zwei Jahren. Abgesehen davon, dass es bislang keine ursächlich wirksamen Therapien für postvirale Syndrome gibt, berichten 85% der Befragten, dass medizinische oder soziale Ansprechpersonen nicht ausreichend über das Krankheitsbild informiert sind. 80% geben an, dass ihre Symptome nicht ernst genommen und/oder als psychosomatisch eingestuft wurden. In der Folge werden Betroffene nicht oder falsch behandelt und/oder erhalten keine angemessenen Sozialleistungen. 56% der Teilnehmenden berichten über eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustands aufgrund ärztlich verordneter oder empfohlener Untersuchungen oder Behandlungen. Die Psychologisierung postviraler Symptome wird als stigmatisierend und als Hauptursache für die prekäre Versorgungssituation von Menschen mit Long COVID beschrieben.« (Hammer et al. 2025: 8).
Die Autoren stellen zur Diskussion: »Die Studie zeigt, dass es für postinfektiöse Erkrankungen bislang keine adäquaten Versorgungskonzepte und -strukturen gibt und dass aktivierende Therapien, meist im Zusammenhang mit der Annahme einer psychosomatischen Genese, zu einer maßgeblichen Fehlversorgung führen. Besonders dramatisch ist der Befund, dass sich die Mehrzahl der Befragten durch die behandelnden Ärztinnen bzw. Ärzte geschwächt, beschämt oder geschädigt fühlt. Die Daten geben zudem Hinweise auf eine systematische Stigmatisierung und Diskriminierung Betroffener.«
Allerdings merken sie vor dem methodischen Hintergrund ihrer qualitativen Herangehensweise auch an: »Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist limitiert.«
Man kann aus gesundheitspolitischer und darüber hinausreichender Sicht aber auch einen Blick von ganz oben auf das dynamische Geschehen werfen.
Die ganz großen Zahlen: Geschätzte Folgekosten durch Long Covid und ME/CFS
Am 12. Mai 2025 hatten wir den „internationalen ME/CFS-Tag“. Die seit 1969 von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannte Krankheit werde in Deutschland immer noch weitgehend ignoriert, kritisiert die Stiftung „ME/CFS Research Foundation“. Diese Stiftung macht sich seit 2022 stark für die Erforschung der Krankheiten ME/CFS und Long COVID.
»Myalgische Encephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere Multisystem-Erkrankung, die meistens nach einer Infektion aber auch anderen Auslösern auftritt. Ein Teil der an Post-COVID-Syndrom Erkrankten leiden unter ME/CFS. Es ist die letzte, große, bisher leider kaum erforschte Krankheit. In Deutschland gibt es über 650.000 ME/CFS-Betroffene (über 40 Mio. weltweit), davon ca. 40% mit ME/CFS nach Long-COVID. Zu den Betroffenen zählen auch ca. 80.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland«, so die Stiftung. Erkrankte haben eine sehr niedrige Lebensqualität und oft einen hohen Grad der Behinderung (2/3 sind berufsunfähig).
Ende 2024 waren in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen entweder von Long Covid (871.000 Fälle) oder Myalgischer Enzephalomyelitis, einer chronischen Multisystemerkrankung (650.000 Fälle), betroffen. Beide Erkrankungen werden miteinander in Verbindung gebracht. Sie sind laut Stiftung „bislang mangels hinreichender Forschung nicht ursächlich therapierbar“ und führen häufig zu starken körperlichen Einschränkungen. Viele Betroffene sind dauerhaft arbeitsunfähig oder pflegebedürftig. Ihre medizinische Versorgung und soziale Absicherung ist häufig prekär.
Daran wird neben der individuellen auch die sozialpolitische Dimension des Themas erkennbar.
Die Diagnostik ist aufwendig, wirksame Therapien fehlen, symptomatische Medikamente werden selten verschrieben und kaum erstattet, beklagen die dort organisierten Interessenvertreter. Es gebe kaum spezialisierte ME/CFS-Ambulanzen.
Im Umfeld des internationalen ME/CFS-Tages am 12. Mai wurde nun ein neuer Bericht veröffentlicht:
➔ James Daniell et al (2025): The rising cost of Long COVID and ME/CFS in Germany, Hamburg and Karlsruhe: ME/CFS Research Foundation and Risklayer, 2025
In diesem Bericht werden erstmals die Prävalenz und die Kosten von Long COVID und ME/CFS in Deutschland modelliert – für den Fünfjahreszeitraum zwischen 2020 und 2024.
Für den Fünfjahreszeitraum zwischen 2020 und 2024 werden Kosten durch Long COVID und ME/CFS Deutschland in Höhe von mehr als 250 Milliarden Euro ausgewiesen. Allein im Jahr 2024 kosteten Long COVID und ME/CFS 63,1 Milliarden Euro, was 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes im selben Jahr entspricht.
Der Bericht geht davon aus, dass Ende 2024 nach einem Datenmodell von Paessler et al. (2025) mehr als 1,5 Millionen Menschen in Deutschland entweder mit Long COVID oder ME/CFS gelebt haben. Man muss berücksichtigen, dass aufgrund der Annahmen bei Paessler et al. (2025) von deutlich mehr COVID-19-Infektionen ausgegangen wird als aus den Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) abgeleitet werden können – nach dem Modell war die Anzahl der SARS-CoV-2-Infektionen im Zeitraum 2023/2024 wahrscheinlich 80- bis 100-mal höher als die offiziellen Daten des RKI vermuten lassen:
»Für die Abschätzung der sozioökonomischen Folgen der SARS-CoV-2-Pandemie mangelt es an belastbaren Daten, die den zeitlichen Verlauf der COVID-19-Infektionen in Deutschland unter Berücksichtigung des Dunkelzifferfaktors abbilden. Auf Basis von drei unterschiedlich aufgebauten Modellrechnungen schätzen wir die monatlichen SARS-CoV-2-Infektionszahlen in Deutschland für die ersten 5 Jahre der Pandemie (2020–2024) ab. Es ergeben sich insgesamt zwischen 160 und 197 Mio. Infektionen, d. h. wesentlich mehr als die vom RKI gemeldeten 39 Mio. Infektionen. Im Jahr 2024 liegt der Dunkelzifferfaktor bzgl. der offiziellen RKI-Daten bei über 80.« (Quelle: Dirk Paessler et al. (2025): Modellierung der COVID-Infektionszahlen in Deutschland (2020–2024), in: Notfall + Rettungsmedizin, Heft 3/2025, S. 165-170).
Während die Long COVID-Fälle im Jahr 2022 ihren Höhepunkt erreichten, bevor sie mit der endemischen Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung auf ein stabileres Niveau sanken, stieg die Zahl der ME/CFS-Fälle laut Modell während der Pandemie stetig an. Dann ist man hingegangen und hat die korrigierte Anzahl der SARS-CoV-2-Infektionen mit Annahmen darüber kombiniert, wie viele Menschen, die sich mit SARS-CoV-2 infizieren, anschließend an Long COVID erkranken, wie viele dieser Long COVID-Fälle länger als ein Jahr erkrankt bleiben und wie viele der Long COVID-Fälle zu ME/CFS übergehen. Das Modell berücksichtigt auch den Anteil der Menschen, die im Zeitverlauf von Long COVID und ME/CFS genesen (für ME/CFS ist die allgemeine Genesungsrate mit nur etwa 5 % pro Jahr sehr niedrig).
Auf Grundlage der modellierten Fallzahlen von Long COVID und ME/CFS ermittelt das Modell die durch die beiden Krankheiten entstandenen Kosten (wobei nochmals anzumerken bleibt, dass es sich um Fallzahlen aus dem rechnerischen Modell handelt, nicht um irgendwo erfasste wirkliche Fälle, womit natürlich immer auch ein gewisser „Gestaltungsspielraum“ gegeben ist).
Was sind das für Kosten, die in Daniell et al. berechnet wurden?
»Die ermittelten Kosten entstehen durch verringerte Wertschöpfung und erhöhte Ausgaben und wurden anhand gängiger wirtschaftlicher Parameter berechnet. Konkret berechnet das Modell folgende Kosten: Produktionsstörungskosten, Humankapitalkosten, medizinische Kosten, Verwaltungskosten, Reisekosten, Unterstützungs- und Betreuungskosten, Mitnahmekosten durch Transferzahlungen sowie Kosten im Zusammenhang mit Lebensqualität. Diese werden mit verschiedenen Schweregradmultiplikatoren für Long COVID und ME/CFS multipliziert. Dabei ist die Gewichtung der Behinderung bzw. des Schweregrads ein Faktor auf einer Skala von 0 bis 100 %, der die Schwere des mit der jeweiligen Erkrankung verbundenen Gesundheitsverlusts widerspiegelt, wobei 0 für vollständige Gesundheit und 100 % für Vollbelastung und Arbeitsunfähigkeit steht. Das Modell generiert die monatlichen Kosten, die durch Long COVID und ME/CFS im beobachteten Zeitraum entstanden … Die Summe aller dieser Kosten ergab für den Zeitraum 2020–2024 Gesamtkosten von über 250 Milliarden Euro.« (vgl. Die steigenden Kosten von Long COVID und ME/CFS in Deutschland).

Wie aus der Abbildung hervorgeht, blieben die monatlichen Kosten für Long COVID und ME/CFS in den letzten rund 20 Monaten auf einem stabilen und hohen Niveau. Derzeit kann man nicht davon ausgehen, dass dieses hohe Kostenniveau von selbst sinken wird, so der Bericht.
Jährliche Kosten in Höhe von mehr als 60 Mrd. Euro – darunter ein Anteil, der vermeidbar wäre, wenn man mehr in Forschung und Versorgung investieren würde. Das könnte gut angelegtes Geld sein.
Aber ist das nicht eine unzulässige (und zugleich eine methodisch immer auch sowohl als Unter- wie Überschätzung angreifbare) negative Ökonomisierung im Sinne einer Reduktion der vielen Einzelfälle auf einen Geldbetrag? Dazu einige Gedanken aus dem Kommentar Die 60-Milliarden-Krankheit: Warum es richtig ist, die Kosten von Long Covid akribisch vorzurechnen von Ingo Bach:
»Wer immer vor rund 55 Jahren den Begriff „Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom“ (ME/CFS) für diese schwere Erkrankung erfunden hat: Er oder sie hat den Betroffenen, die langanhaltend an zum Teil schweren Einschränkungen leiden, damit einen Bärendienst erwiesen. Denn mit dem nur in der Fachwelt verständlichen Namen wurde die Krankheit verbannt in einen begrenzten Zirkel von wenigen Ärzten, die sich damit auskannten, und Betroffenen, die allein in Deutschland Hunderttausende zählen, die sich aber nicht verstanden fühlten. Wir sind nicht einfach nur erschöpft, klagten viele, wir sind schwer krank. Die öffentliche Aufmerksamkeit und das Mitgefühl, die über den Strom von Forschungsgeldern und Investitionen in Krankenhäuser und Arztpraxen entscheiden, fehlten über Jahrzehnte.«
Die Verbindung zwischen ME/CFS und Long Covid hat sich insofern als „Chance“ herausgestellt, als dass es nun im Windschatten der Pandemie-Debatte möglich wurde, das Thema aus der Versenkung zu holen.
»Doch das, was unsere rationale Aufmerksamkeitsökonomie am meisten triggert, fehlte noch: eine Rechnung, die akribisch auflistet, was die Gesellschaft finanziell durch die Erkrankung verliert.«
Diese Lücke wird mit dem Bericht von Daniell et al. (2025) zumindest ansatzweise geschlossen.
Natürlich könnte und muss man über die genaue Zahl der Erkrankten oder die Gewichtung dieser oder jener Größe in der Berechnung wissenschaftlich streiten, so auch Ingo Bach. »Aber das ändert nichts an ihrer Grundaussage: Die vielen Betroffenen und die Folgen der Erkrankung kosten viel Geld. Die Versorgung ist noch nicht adäquat, die fehlenden Therapiemöglichkeiten erhöhen die Folgekosten immer weiter.«
Spürbare Veränderungen seien bereits eingetreten: Es werde viel geforscht, an neuen Therapien und für eine bessere Versorgung.
»Und noch etwas spielt bei dieser Entwicklung eine Rolle: der Name Long Covid für die chronischen Folgen einer Corona-Infektion. Der Begriff bringt auf den Punkt, worum es geht, verständlich und einprägsam. Er wurde von keinem Wissenschaftler oder Arzt geprägt, sondern von einer Patientin. Und er fand Eingang in die wissenschaftliche Nomenklatur, als einer von sehr wenigen Namen, die Patienten einer Krankheit gaben. Vielleicht sollte das der Maßstab für eine bessere Fachsprache sein.«