Obadachlose in Berlin und ihre (Nicht-)Gesundheit: Eine Studie der Charité zeigt dringenden Handlungsbedarf bei der medizinischen Versorgung von Menschen ohne Wohnraum

In den zurückliegenden Jahren wurde zumindest in den kalten Wintermonaten immer wieder mal berichtet über die Situation obdachloser Menschen. Der Eindruck aus der gerade vergangenen kalten Jahreszeit geht eher in die Richtung, dass die mediale Aufmerksamkeit tendenziell abgenommen hat – zu viele andere krisenhaften Themen der Mehrheitsgesellschaft beschäftigten Medien und Politik. Dabei ist die Lage der obdachlosen Menschen (und darüber hinaus der weitaus größeren Gruppe der wohnungslosen Menschen, von denen aber viele nicht auf der Straße leben, sondern in Notunterkünften oder in ihren persönlichen Netzwerken mehr oder weniger behelfsmäßig aufgefangen werden)* weiterhin mehr als prekär.

➔ Die „niedrigschwelligen“ Auffangangebote selbst werden immer wieder als überaus prekär beschrieben. Vgl. zu Berlin mit Blick beispielsweise den Beitrag von Leonore Kogler: Eine Bleibe nur nachts reicht nicht: »Viele Notunterkünfte sind nur nachts geöffnet, für ganztägige Einrichtungen gibt es kein Geld. Gleichzeitig lässt der Bezirk Obdachlosencamps räumen.«

Und der Begriff „prekär“ ist noch eine technokratische Untertreibung – es geht hier um existenzielle Bedrohungslagen. Dazu ein Beispiel: »In Berlin gibt es tausende obdachlose Menschen. Ihr Leben auf der Straße ist gefährlich, nicht nur wegen Kälte und Hitze. Zahlen des Senats zeigen: 2024 gab es hunderte Fälle von teils schwerer Gewalt gegen Obdachlose«, so dieser Artikel von Ende Februar 2025: Mehr Gewalt gegen Obdachlose in Berlin. Die reinen Zahlen sind schon erschreckend: »2023 kam es laut polizeilicher Kriminalstatistik Berlin zu 441 Gewaltvorfällen gegenüber Obdachlosen. Im Folgejahr wurden demnach 506 Fälle gezählt – und damit 61 Fälle mehr. Zugeordnet werden die Fälle dem Feld „Hasskriminalität“.« Das Leben auf der Straße ist im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich: »Besonders häufig werden Obdachlose in Berlin Opfer von vorsätzlicher einfacher und gefährlicher bis schwerer Körperverletzung. 2024 wurden 241 Fälle von vorsätzlicher einfacher Körperverletzung und 166 Fälle von gefährlicher und schwerer Körperverletzung gegenüber Obdachlosen gezählt. 114 Vorfälle fanden auf öffentlichen Straßen und Plätzen statt. In drei Fällen kam es zu Mord und Totschlag.«

»“Gewalt gehört zum Alltag von Obdachlosen“, so die Sprecherin der Berliner Stadtmission, Barbara Breuer … Die Gewalt käme so entweder von Außenstehenden oder Obdachlose fügten sie sich gegenseitig zu. Breuer verbindet die Gewalt zudem mit der hohen Zahl psychisch erkrankter Menschen, die in Berlin obdachlos sind – um die 70 Prozent der Obdachlosen leben mit psychischen Erkrankungen, so die Sprecherin. Derartige Erkrankungen können zu Gewaltreaktionen führen. Ebenso können tiefe seelische Traumata ausgelöst werden und heftige Abwehr und Aggression hervorrufen.«

Das verweist schon auf die gesundheitliche Dimension der Thematik und insofern sind die Hinweise aus der Berliner Stadtmission auch nicht überraschend: »Breuers Ansicht nach bräuchte es mehr niedrigschwellige Angebote für Obdachlose wie Notunterkünfte sowie Tageszentren, in denen es Therapie, Wohn- und Gesundheitsberatung gibt. Vor allem müssten diese Projekte langfristig betreut werden. Denn nicht nur die Zahl der Obdachlosen steige, sondern auch die Verweildauer auf der Straße sei in den vergangenen Jahrzehnten deutlich länger geworden.«

Eine Charité-Studie zeigt dringenden Handlungsbedarf bei der medizinischen Versorgung von Menschen ohne Wohnraum

»Straßenobdachlosigkeit, Übernachtung in Notunterkünften oder nicht zur Behausung vorgesehenen Gebäuden: Die prekären Umstände, unter denen wohnungslose Menschen leben, verstärken gesundheitliche Mangelzustände und provozieren chronische Erkrankungen. Obdach- und wohnungslose Menschen fallen oft durch das System der medizinischen Versorgung und lassen sich meist nur in Notsituationen behandeln. Die verstärkte Migrationsbewegung sowie die pandemische Lage der letzten Jahre haben die Notlagen weiter verstärkt.« Mit diesen einführenden Worten beginnt eine Anfang April 2025 veröffentlichte Mitteilung des Paritätischen Wohlfahfrtsverbandes Berlin: Zwischen Notunterkunft und Notaufnahme: die gesundheitliche und soziale Lage wohnungsloser Menschen in Berlin. Die Gesundheitsversorgung wohnungsloser Menschen in Berlin wurde über mehrere Jahre hinweg wissenschaftlich erforscht. Diese einzigartige Datenbasis ermöglicht es, ein detailliertes Bild der vielfältigen Patientengruppe zu zeichnen und ihren sich wandelnden Versorgungsbedarf über einen Zeitraum von zehn Jahren (2012–2022) nachzuvollziehen. Darüber hinaus erlaubt sie weitergehende Analysen über die dokumentierte primärärztliche Versorgung in den Einrichtungen hinaus, da die archivierten Akten der Patientinnen und Patienten auch Entlassungsdokumente aus der Notfallmedizin und stationären Versorgung enthalten.

Die Studie im Original:

➔ Daniel Schindel et al. (2025): Gesundheitliche und soziale Lage von Menschen in Wohnungslosigkeit in Berlin: Ergebnisse einer retrospektiven Sekundärdatenanalyse von zwei niedrigschwelligen Gesundheitsangeboten für die Jahre 2006 bis 2022, Berlin: Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, 2025

»Die Studie zeigt deutlich: Menschen in Wohnungslosigkeit haben oft gleichzeitig medizinische, psychische und soziale Unterstützungsbedarfe – doch die bestehenden Hilfsangebote stoßen stark an ihre Grenzen. Die untersuchten niedrigschwelligen Einrichtungen leisten wichtige erste medizinische Hilfe, können aber aufgrund fehlender Ressourcen keine langfristige, den medizinischen Standards angemessene Versorgung sicherstellen. Nur durch ehrenamtliches Engagement und Spenden kann die niedrigschwellige medizinische Versorgung von obdachlosen Menschen überhaupt aufrechterhalten werden«, so der Paritätische Wohlfahrtsverband in Berlin. 

»Besonders dramatisch ist die Situation für Menschen ohne Krankenversicherung – sie erhalten medizinische Hilfe oft erst als Notfall im Krankenhaus, wenn Krankheiten bereits weit fortgeschritten sind. Um diese Entwicklung zu durchbrechen, braucht es eine bessere Finanzierung der bestehenden niedrigschwelligen medizinischen Angebote, eine engere Zusammenarbeit zwischen Notaufnahmen, ambulanter Regelversorgung und niedrigschwelligen Anlaufstellen.«

In der Studie heißt es dazu differenzierend: »Der Forderung nach einer besseren Vernetzung niedrigschwelliger Hilfen und medizinischer und sozialer Regelversorgung muss die Entwicklung gemeinsamer Zielvisionen vorausgehen. Für einen Teil der Gruppe kann dies die Re-Integration in die bestehenden Sozialsysteme sein. Für andere Teile der Gruppe ohne Leistungsansprüche erscheint dies auch mittelfristig nicht realisierbar. Für ebenjene braucht es daher weiterhin Strukturen niedrigschwelliger wohlfahrtsstaatlicher oder öffentlicher Versorgungsangebote.« (Schindel et al. 2025: 47).

Vorschläge und konkrete Ansätze, um wohnungslose Menschen besser versorgen zu können, wurden vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und anderen Akteueren gemacht, die sich zur Landesgesundheitskonferenz zusammengeschlossen haben:

➔ Landesgesundheitskonferenz Berlin (2025): Konzept zur niedrigschwelligen ambulanten Gesundheitsversorgung für Menschen ohne eigenen Wohnraum in der Struktur von Gesundheitszentren (KNAG), Berlin 2025

*) Die Datenlage ist weiterhin und gewissermaßen auch der Sache geschuldet prekär. Beispiel Berlin: »Eine genaue Zahl, wie viele Menschen obdachlos in Berlin sind, gibt es nicht. Bei einer Zählung im Jahr 2020 wurden rund 2.000 Obdachlose registriert, die meisten davon männlich und innerhalb des S-Bahnrings, fast jeder zweite kam aus dem europäischen Ausland. Die Berliner Stadtmission geht von mehr als 5.000 Obdachlosen in Berlin aus. Zudem seien 40.000 Menschen wohnungslos. Die Dunkelziffer ist hoch.«