Die Menschen in unserem Land wurden in den vergangenen Monaten mit zahlreichen Einzelmeldungen über finanzielle Schieflagen in den unterschiedlichen Zweigen der Sozialversicherung überhäuft – ob nun die Pflege- oder Krankenversicherung betreffend, der Rentenversicherung wird berichterstattungsmäßig sowieso schon eine strukturelle Pleite untergeschoben und die Hiobsmeldungen mit Blick auf die Einnahmen-Ausgabenentwicklung in der Arbeitslosenversicherung werden in den kommenden Wochen mit großer Sicherheit auch noch aufschlagen, wenn man sich deren weggeschmolzenen Reserven und die steigenden Ausgaben für Arbeitslosengeld anschaut.
Und es sind wahrlich nicht nur Nachrichten aus einem wie auch immer entfernten Neben-Universum, sondern die Mehrheit der Bürger ist ganz handfest mit steigenden Beiträgen konfrontiert, aktuell vor allem im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung. In der GKV gab es zum Jahresanfang erhebliche Anhebungen der kassenindividuellen Zusatzbeiträge der gesetzlich festgelegte durchschnittliche Zusatzbeitragssatz als rechnerische Größe wurde von 1,7 Prozent 2024 auf 2,5 Prozent angehoben, tatsächlich liegt aber der durchschnittliche Zusatzbeitrag über alle Kassen bei 2,9 Prozent) und auch in der Sozialen Pflegeversicherung gab es eine erneute Erhöhung des Beitragssatzes, diesmal um 0,2-Prozentpunkte. Und man sollte sich von den auf den ersten Blick überschaubar daherkommenden prozentualen Veränderungswerten nicht täuschen lassen. Allein Anhebung in der sozialen Pflegeversicherung um scheinbar mickrige 0,2 Prozentpunkte wird nach Angaben der Bundesregierung Mehreinnahmen in Höhe von rund 3,7 Milliarden Euro ingesamt generieren.
Grundsätzlich gibt es mit Blick auf die Finanzseite zwei Hebel, mit denen man versuchen kann, die Finanzlage „in den Griff“ zu bekommen. Zum einen kann man natürlich auf der Ausgabenseite durch Einsparungen, Kürzungen und/oder eine „effizientere“ Mittelverwendung die Zahlungsabflüsse zu reduzieren versuchen. Zum anderen kann und muss man sich die Einnahmenseite der einzelnen Systeme der Sozialversicherung anschauen. Und wenn man darauf fokussiert, dann stößt man immer wieder und das seit Jahrzehnten auf den Begriff der „versicherungsfremden Leistungen“ der Sozialversicherung, die idealerweise aus Steuer- und nicht aus Beitragsmitteln zu finanzieren wären. Und man wird sogleich mit einer unseligen Traditionslinie in Deutschland konfrontiert, die mit dem Terminus der „Verschiebebahnhöfe“ belegt wird. Vereinfacht gesagt: Die politischen Entscheidungsträger tendieren dazu, Finanzlasten aus dem Steuertopf herauszuhalten und in das parafiskalische System der (weitgehend lohnbezogenen) Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung abzudrücken.
Der Sozialverband VdK hat im Vorfeld der Bundestagswahl, die am 23. Februar 2025 stattgefunden hat, das Thema der „versicherungsfremden Leistungen“ nicht nur wieder in Erinnerung gerufen, sondern in Zusammenarbeit mit FiscalFuture (nach deren Selbstbeschreibung eine „überparteiliche NGO junger Menschen für eine zukunftsfähige Finanzpolitik“) hat man versucht, die Größenordnung der „versicherungsfremden Leistungen“ in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung zu quantifizieren. Anschließend werden auch konkrete steuerpolitische Vorschläge gemacht, wie bzw. wo man die erforderlichen Mittel, die bislang fehlfinanziert werden aus Beitragsmitteln, herholen könnte.
Die aus dieser Zusammenarbeit entstandene Veröffentlichung findet man im Original hier:
➔ Sozialverband VdK (2025): VdK-Forderungen, Einnahmenanalyse Sozialversicherungssystem und steuerpolitisches Konzept, Berlin, 21.01.2025
Ziel der Untersuchung war es, Ausgaben zu identifizieren, die aus der Übernahme von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben durch die Sozialversicherungen und ihrer Beitragszahler resultieren. »Häufig werden diese als „versicherungsfremde Leistungen“ bezeichnet. Darunter sind Leistungen zu verstehen, die nicht in direkter Beziehung zur Beitragszahlung stehen und demnach auf der Grundlage politischer Entscheidungen zur Förderung politisch gewünschter Ziele geleistet werden. Der VdK betrachtet diese Aufgaben als gesamtgesellschaftliche Aufgaben.«
Ein milliardenschweres Preisschild für die „versicherungsfremden Leistungen“

Zu den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung wird in der Analyse ausgeführt:
Gesetzliche Rentenversicherung (GRV): »Insgesamt wurden zuletzt von der Rentenkasse – nach einer von Fiscal Future fortgeschriebenen Aufstellung der Deutschen Rentenversicherung* – gesamtgesellschaftliche Aufgaben in Höhe von 108,2 Milliarden Euro übernommen. Zum Ausgleich dessen wurden Bundeszuschüsse in Höhe von 84,3 Milliarden Euro gezahlt. Daraus ergibt sich eine Unterfinanzierung von jährlich 23,9 Milliarden Euro. Diese Unterfinanzierung hat zur Folge, dass die gesetzlich Versicherten 1,5 Prozent höhere Beiträge zahlen als nötig, um den Status quo zu finanzieren. Bei den gesamtgesellschaftlichen Aufgaben handelt es sich unter anderem um
Kindererziehungszeiten, Anrechnungszeiten von Mutterschutz- und Ausbildungszeiten.«
*) Gemeint ist diese Veröffentlichung: Deutsche Rentenversicherung (2021): Nicht beitragsgedeckte Leistungen und Bundeszuschüsse 2020, Oktober 2021. Es ist interessant, dass es keine „offizielle“ Fortschreibung gibt, die immer wieder angemahnt wurde, auch im Deutschen Bundestag. Die vorerst letzte Antwort der Bundesregierung zu den berechtigten Nachfragen aus dem Parlament kann man der Antwort auf die Anfrage „Transparenz bei den nicht beitragsgedeckten versicherungsfremden Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung“ entnehmen, die als Bundestags-Drucksache 20/14679 vom 23.01.2025 veröffentlicht wurde. Die vier dort gestellten Fragen an die Bundesregierung werden von dieser so (nicht) beantwortet: »Gemäß dem Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 22. März 2024 wurde das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) aufgefordert, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Rentenversicherung Bund die nicht beitragsgedeckten Leistungen der allgemeinen Rentenversicherung und deren Höhe in der engen und der erweiterten Abgrenzung einmal pro Legislaturperiode abzuschätzen und dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages darüber zu berichten. Das BMAS wird dem Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses nachkommen.« Die Aufforderung war im März 2024 und bislang ist noch nichts geliefert worden. Man kann bekanntlich Fragen und Aufgaben auch aussitzen.
Wie immer im sozialpolitischen Leben ist das mit den angesprochenen Bundeszuschüssen komplizierter: Vgl. dazu ausführlicher Stefan Sell (2023): Über die eigene Welt der Bundeszuschüsse und sonstiger Steuermittel für die Rentenversicherung. Von „nicht beitragsgedeckten“ Leistungen und Verschiebebahnhöfen, 16.12.2023.
Gesetzliche Krankenversicherung (GKV): »Die Beitragszahlenden in der gesetzlichen Krankenversicherung übernehmen aktuell gesamtgesellschaftliche Aufgaben in Höhe von 54,3 Milliarden Euro. Zum Ausgleich fließen dazu 16,5 Milliarden Euro an Bundeszuschüssen. Die Unterfinanzierung beträgt also 37,7 Milliarden Euro. Dieser Betrag allein macht 2,21 Beitragssatzpunkte der in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegenen Krankenkassenbeiträge aus. Beitragssteigerungen, die Versicherte insbesondere angesichts von Rufen nach Leistungskürzung anstatt -ausweitung immer seltener verstehen. Im Einzelnen handelt es sich dabei zum Beispiel um gesamtgesellschaftlich wünschenswerte familienpolitische Leistungen wie die Beitragsfreiheit von Angehörigen, Leistungen für Schwangerschaft und Mutterschaft oder Krankenhausinvestitionen, die eigentlich durch die Bundesländer finanziert werden sollten.«
Soziale Pflegeversicherung (SPV): »Während … die Renten- und Krankenkasse zwar mit Bundeszuschüssen bedacht, aber unterfinanziert werden, muss die Soziale Pflegeversicherung aktuell gänzlich ohne einen Bundeszuschuss auskommen – entgegen der gesetzlichen Grundlage. Das, obwohl auch durch sie gesamtgesellschaftliche Aufgaben finanziert werden. Insgesamt sind das 9,2 Milliarden Euro jährlich, die eine kontinuierliche Belastung der Beitragszahlenden von 0,48 Prozent ausmacht. Hinzu kommen Kosten in Höhe von 6 Milliarden Euro zur Bewältigung der Corona-Pandemie, die, entgegen anderslautender Versprechungen, nie zurückgezahlt wurden. Bei den fortlaufenden gesamtgesellschaftlichen Kosten handelt es sich zum Beispiel um die Rentenversicherungsbeiträge von Pflegepersonen. Der VdK unterstützt diese Leistung zur Unterstützung pflegender Angehöriger, begreift die Förderung der Pflege durch Angehörige aber als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die demnach aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren wäre.«
Arbeitslosenversicherung (SGB III): »Auch die Arbeitslosenversicherung wurde zur Zeit der Corona-Pandemie herangezogen, um starke Mehrbelastungen abzufedern. Eine wichtige arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahme war der erleichterte Zugang zum Kurzarbeitergeld. Dadurch entstanden hohe Ausgaben. Die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit wurden komplett aufgebraucht, und der Bund musste Finanzmittel zuschießen. Nun fordert der Bund Rückzahlungen in Höhe von 5,2 Milliarden aus der Arbeitslosenversicherung und verhindert damit eine erneute Rücklagenbildung. Aus Sicht des VdK war die erhöhte Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld während der Pandemie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und wurde daher zu Recht (teilweise) aus Steuermitteln finanziert. Der VdK fordert daher, dass der Bund die Rückzahlungsforderungen in Höhe von 5,2 Milliarden Euro an die Bundesagentur für Arbeit zurücknimmt und somit dazu beiträgt, dass eine sichere und stabile Rücklagenbildung erneut erfolgen kann. Das ist in Zeiten der Modernisierung der Wirtschaft besonders wichtig. Außerdem drohen sonst auch in diesem Zweig der Sozialversicherung bei der nächsten arbeitsmarktpolitischen Krise Beitragserhöhungen. Eine Rückzahlung würde eine Abwälzung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben auf die Beitragszahlenden darstellen.«
Damit hat der VdK wenigstens konkrete Zahlen vorgelegt zum Umfang der „versicherungsfremden“ bzw. „nicht-beitragsgedeckten“ Leistungen der Sozialversicherung. Über deren konkrete Abgrenzung wird seit Anbeginn der sozialpolitischen Zeiten überaus heftig gestritten, was neben der Tatsache, dass der Begriff der „versicherungsfremden Leistungen“ eben nicht aus sich heraus definiert ist., natürlich auch mit dem Umstand zusammenhängt, dass es hier um sehr große Beträge in Milliarden-Höhe geht, die – wenn man sie nicht ersatzlos streicht, was kaum oder gar nicht geht – aus dem Steuertopf getragen werden müssen.
Bleiben wir zum Abschluss bei der konkreten Betrachtung der möglichen Auswirkungen einer „korrekten“ Finanzierung, wenn man dem Abgrenzungsversuch des VdK folgt:
Die Übernahme aller gesamtgesellschaftlicher Aufgaben durch den Haushalt von Bund und Ländern hätte massive positive Auswirkungen auf Unternehmen und Beschäftigte. Bei einem Bruttolohn von 3.500 Euro pro Monat finanzieren der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber aktuell gesamtgesellschaftliche Leistungen in Höhe von jeweils 73,50 Euro monatlich über die Sozialabgaben (insgesamt also 147 Euro pro Monat), die eigentlich von Bund und Ländern aus Steuereinnahmen finanziert werden müssen. Würden diese zu Unrecht erhobenen Beiträge wegfallen, ergäbe sich eine jährliche Ersparnis von je 882 Euro für den Beschäftigten und seinen Arbeitgeber – zusammen also 1.764 Euro.
Der VdK hat gemeinsam mit FiscalFuture an den Quantifizierungsversuch die „versicherungsfremden Leistungen“ betreffend anschließend konkrete steuerpolitische Vorschläge gemacht und in der Veröffentlichung auch dokumentiert, mit der man eine Umfinanzierung der ermittelten nicht-beitragsgedeckten Leistungen von Beitrags- hin zu Steuermitteln realisieren könnte. Spätestens da geht dann sicher der Blutdruck von vielen Akteueren richtig hoch. Aber sie drücken sich nicht vor einer – immer diskusssionsbedürftigen – Bennenung, wo und von wem man das Geld zu holen gedenkt.