Grüße aus der Mottenkiste? Die Teilkrankschreibung. Zugleich: Vorsicht bei internationalen Vergleichen

Der Krankenstand in Deutschland wurde diese Tage mal wieder angesichts neuer Zahlen thematisiert und im Geleitzug haben einige versucht, die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung als Ursache für den Anstieg des Niveaus der Arbeitsunfähigkeit in den Raum zu stellen, verbunden mit der Botschaft, dass das eine Einladung sei für die Blaumacher in diesem Land. Dazu ausführlicher der Beitrag Arbeitsunfähigkeit: Ein Land der krank machenden Arbeitnehmer? Oder doch alles nur eine Frage der Statistik? vom 7. Dezember 2024. Dort konnte gezeigt werden, dass die Infragestellung der Möglichkeit einer telefonischen Krankschreibung am Problem vorbeigeht und es gute Gründe gibt, an diesem Instrumentarium festzuhalten.

Im Kontext dieser Debatte wurde von verschiedenen Seiten vorgetragen, dass man bei der Arbeitsunfähigkeit „neue Wege“ gehen sollte: die „Teilkrankschreibung“. Damit wäre es möglich, dass Arbeitnehmer ihrer beruflichen Tätigkeit lediglich für einige Stunden am Tag nachgehen. Auf diese Weise könnte der krankheitsbedingte Mitarbeitermangel in vielen Bereichen und Unternehmen abgeschwächt werden, sagen die Befürworter.

»So hält der Präsident der Bundesärztekammer, Reinhardt, Krankschreibungen für nur einige Stunden am Tag bei kleineren Infekten für praktikabel. Dank Homeoffice könnte man demnach berufliche Aufgaben im begrenzten Umfang wahrnehmen, sich dennoch erholen und zugleich das Anstecken von Kollegen vermeiden«, kann man diesem Beitrag entnehmen: Überlegungen für „Teilkrankschreibungen“ sorgen für kontroverse Diskussion. Dort findet man auch diesen Hinweis auf Äußerungen des „Arbeitsmarktexperten Ziebarth vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)“, der in einer im Oktober 2024 veröffentlichten Studie (vgl. Ziebarth/Pichler 2024) herausgearbeitet hat, dass vor allem die elektronische Erfassung der Arbeitsunfähigkeit für den Großteil des Anstieg der AU-Tage seit 2022 verantwortlich zu machen sei: »Ziebarth … ist überzeugt, dass sich auch in Deutschland manche Arbeitnehmer imstande fühlen, „trotz Krankheit 4 Stunden zu arbeiten, wollen dies auch, aber dürfen es gesetzlich nicht“. Für Deutschland kann sich der Wirtschaftsexperte eine freiwillige Lösung vorstellen, auf die sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigen. Dies gelte nicht für alle Krankheiten, betont Ziebarth, aber wer beispielsweise mit seinem kranken Kind zum Arzt müsse, könne nach dem Besuch möglicherweise auch noch 4 Stunden arbeiten.« Das liest sich schon weitaus defensiver als die generalisierende Forderung nach Teilkrankschreibungen.

Arbeitsunfähig, aber nur teilweise? Geht da (noch) was für den Produktionsprozess?

Nun wird der eine oder andere skeptisch in die Runde werfen: Am Vormittag arbeiten und am Nachmittag wieder ins Krankenbett? Ist das wirklich realistisch? Eine naheliegende Antwort kann man so formulieren:

„Bei der Idee zur Teilkrankschreibung ist von den Politikern zu wenig ärztlicher Sachverstand eingeholt worden.“ Dies sagte Dr. Arnold Schüller, Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein, auf einer Pressekonferenz. „Entweder jemand ist krank oder nicht. Schon die juristische Abgrenzung zwischen krank und teilkrank ist nicht klar“, kritisierte Schüller. Er wies auf die Gefahr hin, daß Krankheiten verschleppt werden und sich verschlimmern könnten, wenn ein schonungsbedürftiger Patient nur teilkrank geschrieben werde. Außerdem verhindere eine Teilkrankschreibung nicht die hohen Krankheitsraten in einigen Betrieben, dafür sei unter anderem das jeweilige Arbeitsklima verantwortlich.*

Man könnte meinen, dass das ein aktueller Beitrag aus der Ärzteschaft zur Debatte über die Teilkrankschreibung ist. Dem ist aber nicht so.

*) Das Zitat stammt aus einer Meldung, die am 10. September 1993 im Heft 36/1993 des Deutschen Ärzteblatts veröffentlicht wurde. Das ist nun schon ziemlich lange her. Bereits damals geisterte das Instrument der Teilkrankschreibung durch die gesundheits- bzw. besser: wirtschaftspolitische Diskussion.

Und so kann man auf der Zeitschiene weiterwandern:

Im Jahr 2015 – auch schon einige Jahre her – kann man ebenfalls dem Deutschen Ärzteblatt unter der Überschrift Gutachten: Sachverständigenrat empfiehlt Teil-Krankschreibung entnehmen:

»Um die Krankengeldausgaben zu senken, sollen Ärzte Arbeitnehmer künftig auch teilweise krankschreiben können. Diesen Vorschlag machte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Zwischen 2006 und 2014 sind die Krankengeldausgaben von 5,7 auf 10,6 Milliarden Euro angestiegen. Deshalb hatte das Bundesgesundheitsministerium ein Sondergutachten beim Sachverständigenrat in Auftrag gegeben. Mit einer Teil-Krankschreibung könnten erkrankte Erwerbstätige ihrer Arbeit noch in Teilen nachgehen, erklärte der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach. Dabei müssten die Krankenkassen nur einen Teil des Krankengeldes zahlen.« Und sicherheitshalber ließ sich der damalige Sachverständigenratsvorsitzender noch mit dieser Mahnung zitieren: »Gerlach betonte, dass die Vorschläge des Rates nicht darauf zielten, das Krankengeld um jeden Preis zu drücken. „Das Krankengeld ist keine Wohltat, sondern eine gesamtgesellschaftlich sinnvolle Leistung, und die Versicherten haben einen Anspruch darauf, die Beträge zu erhalten“, sagte er.«

➔ Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2015): Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten. Sondergutachten 2015, Bonn/Berlin, Dezember 2015

Offensichtlich wird diese Teilkrankschreibung in regelmäßigen Zyklen aus der Mottenkiste gezogen. Schauen wir in das Jahr 2018 – da wurde in der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes dieses Nachricht veröffentlicht: Psychotherapeuten schlagen neue Modelle für Krankschreibung vor: »Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, hat vorgeschlagen, die Krankschreibung von Arbeitnehmern flexibler zu handhaben. „Kranke Arbeitnehmer sollten auch nur teilweise arbeitsunfähig geschrieben werden können, also auch zu 25, 50 oder 75 Prozent“, sagte Munz … Eine Teilkrankschreibung werde der Realität besser gerecht, erläuterte Munz. Menschen seien „häufig nicht entweder uneingeschränkt gesund oder vollständig arbeitsunfähig“. Gerade bei psychischen Erkrankungen sei es häufig hilfreich, dass Patienten nicht vollständig oder zu lang aus dem Arbeitsprozess ausscheiden, sagte der oberste Standesvertreter der Psychotherapeuten.«

Das wurde damals nicht im luftleeren Raum platziert: »Anlass für die Forderung ist ein Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). In dem Entwurf für das „Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung“, das demnächst im Bundestag beraten wird, sollen Ärzte verpflichtet werden, ab einer Krankschreibung von sechs Wochen „die Option einer stufenweisen Wiedereingliederung regelmäßig zu prüfen“. Die Teilnahme an dieser Maßnahme soll für die Arbeitnehmer freiwillig sein. „Wenn der Bundesgesundheitsminister darüber nachdenkt, immer prüfen zu lassen, ob nicht ein schrittweiser Wiedereinstieg in das Arbeitsleben nach einer Reha möglich ist, dann kann man auch beim Krankschreiben flexibler entscheiden“, sagte Munz. Arbeit könne belastend sein und zu Arbeitsunfähigkeit führen. Wenn Arbeit aber funktioniere, „dann hat sie viele positive Seiten und kann zur Gesundung beitragen.“« Die damalige gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Christine Aschen­berg-Dugnus, begrüßte den Vorschlag der Psychotherapeuten und brachte eines dieser beliebten „Modellprojekte“ ins Spiel.

Am Ende des Jahres 2024 dreht die Idee einer Teilkrankschreibung also erneut ihre Pirouetten, zumindest im medialen Raum.

Aber „die Schweden“ machen das doch erfolgreich … und andere Länder auch … Aber: Vorsicht bei partiellen und punktuellen Ländervergleichen

In der nun erneut aufgewärmten Debatte wird man dann mit einem beliebten Hilfsmittel in solchen Diskussionen konfrontiert: In anderen Länder funktioniert das doch schon, erfolgreich wird die Teilkrankschreibung praktiziert. Die Botschaft ist klar: Dann kann man das auch bei uns machen, wenn man wollte.

In der aktuellen Diskussion liest sich dieser Versuch dann beispielsweise so: »Anders als in Deutschland setzen skandinavische Länder bereits seit Jahrzehnten auch auf Teilkrankschreibungen. So konnte Schweden offiziellen Angaben zufolge mit der Einführung der Regelung nicht nur die Höhe der Arbeitsunfähigkeit reduzieren, sondern auch die Krankengeldzahlungen. Rund ein Drittel der Krankgeschriebenen nutzt dort Teilkrankschreibungen.«

Von Skandinavien lernen. Da spricht doch nun nicht wirklich was dagegen.

Schauen wir einmal genauer nach Schweden, die auch jetzt wieder als Kronzeugen für die Funktionsfähigkeit herangezogen werden:

»Die Regelung in Schweden sieht so aus: Je nach Krankheit kann die Arbeitsfähigkeit bei 25, 50 oder 75 Prozent eingestuft werden. Ärzte stellen dabei die Diagnose und beurteilen das Arbeitsvermögen. Basis dafür sind Leitlinien der staatlichen Sozialversicherung, die gemeinsam mit Fachleuten entwickelt wurden. Die Sozialversicherung entscheidet dann auf Empfehlung der Ärzte über die Höhe der Arbeitsfähigkeit.«

Dem Beitrag Überlegungen für „Teilkrankschreibungen“ sorgen für kontroverse Diskussion kann man dann aber auch das hier entnehmen:

»Einer der Gründe, warum das System in Schweden so erfolgreich ist, sind die Vorschriften beim Krankengeld. Anders als in Deutschland erhalten Menschen in Schweden von ihrem Arbeitgeber nur zwei Wochen lang etwa 80 Prozent ihres Gehalts als Krankengeld, danach tritt die staatliche Sozialversicherung Försäkringskassan ein. Manche möchten wohl auch deshalb teilweise arbeiten, um die eigenen Lohnverluste zu begrenzen.
In Deutschland dagegen bekommen Festangestellte in der Regel vom ersten Tag der Krankheit ihr Gehalt in voller Höhe sechs Wochen lang vom Arbeitgeber bezahlt. Danach zahlen die Krankenkassen etwa 70 Prozent des Bruttogehalts als Krankengeld – bis zu 78 Wochen innerhalb von drei Jahren.«

Solche erheblichen Ausgestaltungsunterschiede auf der Leistungsseite, hier des Krankengeldes, sollte man schon berücksichtigen, wenn man wieder einmal zu den beliebten partiellen und punktuellen Ländervergleichen greift, um eine bestimmte Maßnahme in Deutschland zu promoten.

Und an anderer Stelle wird darauf hingewiesen: »Es fragt sich nur, ob das schwedische Modell übertragbar ist. Denn während in der Bundesrepublik Arbeitgeber auf weniger Ausfälle durch Erkältungen hoffen, geht es in Schweden eher um langfristige Erkrankungen, wie Krebs oder Depressionen. Betroffene sollen durch Teilkrankschreibungen schneller und besser ins Berufsleben zurückgeholt werden, erklärt Martin Albrecht vom Forschungsinstitut IGES. „Es ist so, dass es in allen skandinavischen Ländern gute Erfahrungen mit Teilkrankschreibungen gibt. Schweden sticht heraus.“ Die Vorteile seien durch Studien relativ gut belegt: Dass es zum einen eine schnellere Rückkehr in den Beruf, dann eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine vollständige Rückkehr in den Beruf und damit weniger Frühverrentungen und teilweise auch weniger Fälle von langfristiger Arbeitsunfähigkeit gebe, erklärt Albrecht.«

➔ Das IGES-Institut hatte 2018 für das Bundesgesundheitsministerium diese hier einschlägige Auftragsstudie verfasst: Monika Sander et al. (2018): Teilarbeitsfähigkeit und Teilkrankengeld. Erfahrungen skandinavischer Länder und deren mögliche Übertragbarkeit auf die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, Berlin, Januar 2018.

Das haben wir doch schon lange (auch) …

Der eine oder andere wird an dieser Stelle richtigerweise darauf hinweisen, dass wir doch auch bei uns in Deutschland schon lange (und wie Studien zeigen durchaus erfolgreich bei vielen Fällen, wo das auch tatsächlich auf der betrieblichen Ebene umgesetzt wird) mit einem vergleichbaren Ansatz arbeiten, der aus dem Rehabilitatons kommt: Ein wichtiges Instrument im Return-to-Work-Prozess ist die stufenweise Wiedereingliederung nach § 44 SGB IX und § 74 SGB V. Sie findet statt während der Arbeitsunfähigkeit und dient der allmählichen Heranführung von Beschäftigten an ihre bisherige beziehungsweise künftige vertragliche Tätigkeit. Die stufenweise Eingliederung (oft auch als „Hamburger Modell“ bezeichnet) ist ein etabliertes Verfahren in Deutschland, das erkrankten Arbeitnehmern helfen soll, schrittweise in das Berufsleben zurückzukehren. Sie wird häufig nach längeren Krankheitsphasen eingesetzt, etwa bei körperlichen oder psychischen Erkrankungen, und soll eine Überforderung verhindern.

Natürlich kann und muss man im Detail diskutieren, ob das vorhandene und grundsätzlich als sehr wirkungsvoll evaluierte Instrumentarium der stufenweise Wiedereingliederung ausreichend und zielgerichtet eingesetzt wird und wo es möglicherweise Umsetzungsprobleme gibt.

➔ So weist beispielsweise Kohte mit Blick auf die stufenweise Wiedereingliederung darauf hin: »Dazu ist ein ärztlicher Wiedereingliederungsplan gesetzlich vorgeschrieben …, der in der Regel von Hausärzten erstellt wird. Arbeitsgerichtliche Verfahren zeigen, dass ein Teil der hausärztlichen Pläne fachliche Defizite aufweisen, so dass die notwendigen Vereinbarungen für die Wiedereingliederung scheitern. Dagegen haben Untersuchungen der Deutsche Rentenversicherung Bund gezeigt, dass Wiedereingliederungsmaßnahmen, die an stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahmen anschließen, eine hohe Erfolgsquote haben … Dies beruht darauf, dass in diesen Einrichtungen eine hohe sozialmedizinische Sachkunde vorhanden ist und daher auch eine höhere Kenntnis, wie solche Eingliederungspläne zu gestalten sind.« (Quelle: Wolfgang Kohte (2024): Nachhaltiger Rehabilitationsprozess: die kommunikative Schlüsselrolle der Rehabilitationseinrichtung für die stufenweise Wiedereingliederung, in: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. Deutscher Kongress für Rehabilitationsforschung. Nachhaltigkeit und Teilhabe: ökologisch – ökonomisch – sozial vom 18. bis 20. März 2024 in Bremen, Berlin, S. 225).

Im Wiedereingliederungsprozess nach längeren und schwereren Erkrankungen, also als Teil eines rehabilitativen Konzepst, macht eine Teilkrankschreibung durchaus Sinn udn wird, wie ausgeführt, auch schon lange praktiziert.

Im Kontext der aktuellen Diskussion sollte man sich ehrlich machen und benennen, dass es einem (wieder einmal) um die Frage geht, wie man die Lohnfortzahlungsverpflichtungen der Arbeitgeber reduzieren kann. Als Beispiel dafür sei hier auf diese Ausführungen aus dem Arbeitsrecht hingewiesen: Michael Fuhlrott (2024): Teil­zeit-Krank gegen Rekord-Krankheitstage?, in: Legal Tribune Online, 01.11.2024. Der Verfasser beleuchtet ausführlich die arbeitsrechtlichen Komplikationen einer möglichen Umsetzung der Teilkrankschreibung auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung. Am Ende dann kommt dieser Hinweis von ihm: Vielleicht sollte man eher an anderen Stellschrauben ansetzen:

»Stärkung der betrieblichen Gesundheitsprävention einerseits und andererseits womöglich Reformüberlegungen zu einer moderaten Kürzung der arbeitgeberseitigen Lohnfortzahlung in den ersten Krankheitstagen.«