Wieder einmal mussten wir eine dieser für einen kurzen Moment Aufmerksamkeit heischenden Debatten erleben, in denen dann mit – nett formuliert – „zugespitzten“ Thesen das Interesse des schnelllebig konsumierenden Publikums geweckt wird, das dann aber rasch wieder erlischt und sich anderen Baustellen zuwendet. Dabei ist das Thema, das aufgerufen wurde, von grundlegender sozial- und wirtschaftspolitischer Bedeutung: die Arbeitsunfähigkeit. Die ist nicht nur von individuellem Belang, weil im Normalfall dahinter (auch schwere und schwerste) Erkrankungen stehen (können), zugleich reißt das natürlich Lücken in den Belegschaften der Unternehmen und der Ausfall der einen ist in vielen betrieblichen Kontexten zugleich der Anfang und die Verstärkung der Überlastung der anderen, die den Ausfall auffangen müssen und dann nicht selten in die Anschluss-Arbeitsunfähigkeit getrieben werden, was gerade in personalintensiven Bereichen mit Anwesenheitsnotwendigkeit, man denke hier nur an die Pflege oder die Kindertagesbetreuung, oftmals eine fatale Abwärtsspirale auslöst.
Und wenn Arbeitsunfähigkeit und ihre Folgen so mehrfach bedeutsam ist, dann muss man Meldungen über steigende Zahlen bei den „Krankschreibungen“ erst einmal ernst nehmen – und auch die sofort auf dem medialen Tablett servierte „Erklärung“, dass unter den Arbeitsunfähigen viele Blaumacher seien, denen es durch die telefonische Krankschreibung viel leichter als früher gemacht wird, sich ein paar Tage vor der Arbeit zu drücken. Folglich, so der in der Debatte transportierte Lösungsvorschlag, müsse man diese telefonische Krankschreibungsmöglichkeit eben wieder abschaffen und auch generell genauer hinschauen bei den Krankmeldungen.
➔ Im September wurde berichtet, dass Tesla in seinem Werk in Brandenburg krankgeschriebene Mitarbeiter kontrolliere. Demzufolge hätten die zwei Geschäftsführer persönlich an deren Haustüren angeklingelt, um zu prüfen, wie krank die Mitarbeiter wirklich seien (vgl. hierzu „Massiver Eingriff in die Privatsphäre“). Nicht nur in der Handwerksbranche wird immer wieder über den Einsatz von Detektiven diskutiert, die dem blaumachenden Mitarbeiter auf die Schliche kommen sollen. Zahlreiche Detekteien bieten im Internet ihre Dienste dafür an. Doch die Hürden sind hoch. Laut Bundesdatenschutzgesetz stellt die heimliche Observation einer Person einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar. Im Juli 2024 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem konkreten Fall eine Entscheidung getroffen: Ein Arbeitnehmer hatte gegen die von seinem Arbeitgeber beauftragte Observation geklagt. Nach einem Unfall war der Mann krankgeschrieben. Sein Chef aber war argwöhnisch. Als er den Mitarbeiter auf Social-Media-Bildern bei körperlichen Aktivitäten sah, engagierte er einen Privatdetektiv – der den Mann daraufhin fast zwei Wochen lang heimlich beobachtete. Er sah dabei, wie der Krankgeschriebene auf seiner Terrasse unter anderem mit Sägen und Schleifgeräten Holzbretter bearbeitete. Außerdem beobachtete er ihn beim Ausbauen einer Autobatterie und sah zu, wie er einen mit Lebensmitteln gefüllten Karton ins Haus schleppte. Allerdings dokumentierte der Detektiv auch, dass der Mann dabei sein Bein nachzog. Der Arbeitgeber konfrontierte seinen Mitarbeiter mit den Beobachtungen. Der wiederum klagte gegen seinen Arbeitgeber auf Zahlung eines „Schmerzensgeldes“ in Höhe von mindestens 25.000 Euro mit der Begründung, es liege ein Verstoß gegen die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung vor. Das Verfahren lief vom Arbeitsgericht über das Landesarbeitsgericht Düsseldorf bis rauf zum Bundesarbeitsgericht. Das BAG entschied mit BAG, Urteil vom 25.07.2024 – 8 AZR 225/23, dass der Arbeitgeber durch Verletzung der Datenschutz-Grundverordnung eine rechtswidrige Observation in Auftrag gegeben habe. Die Schadensersatzforderung des klagenden Arbeitnehmers wurde allerdings eingedampft auf einen Betrag in Höhe von 1.500 Euro.
Die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung als Booster für mehr Arbeitsunfähigkeitsfälle? Von anekdotischer Evidenz, fehlenden Daten zu einem möglicherweise (?) größer gewordenen Problem und einer „Geisterdebatte“
Zurück zur Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung: Der ehemalige Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte schon im September für Empörung gesorgt mit der Behauptung, dass es eine „Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme“ gebe, wobei mit „Maßnahme“ die telefonische Krankschreibung gemeint ist. Lindner, so haben es viele wahrgenommen, suggerierte damit, dass Menschen sich so freie Tage verschaffen wollen, obwohl sie gar nicht krank sind.
Ein nicht auflösbares Doppel-Problem bei solchen Behauptungen kann man so formulieren: Zum einen kennt fast jeder einzelne Beispiele um einen herum, in denen tatsächlich Missbrauch betrieben wird mit dem „Krankmachen“, wo sich jemand eine persönliche Auszeit nimmt, obgleich er oder sie arbeiten könnte. Diese Einzelfälle sind einem vor Augen, die vielen anderen „normalen“, also völlig berechtigten Fälle einer Arbeitsunfähigkeit weniger, vor allem nicht die Relationen der einen zu den anderen. Zum anderen gibt es das nun mal schwer bis gar nicht lösbare methodische Problem, wie man den Umfang der missbräuchlichen Arbeitsunfähigkeit erfassen soll, denn die wird a) logischerweise nirgendwo erfasst und b) selbst wenn man sich über Befragungen dem Volumen nähern wollte, wird man auf ein sehr eingeschränktes Antwortverhalten stoßen, mit der möglichen Folge einer Untererfassung des Phänomens.
Schauen wir also auf das, was wir wissen. Beispielsweise über diese kurz, aber heftig diskutierte Ermöglichung der Ärzte, eine telefonische Krankschreibung zu machen. Diese Regelung ist entstanden in einem ganz bestimmten Kontext:
➔ Telefonische Krankschreibung: Die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung wurde in Deutschland erstmals im Frühjahr 2020 eingeführt. Sie wurde als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie ins Leben gerufen, um die Arztpraxen zu entlasten und das Infektionsrisiko für Patienten und medizinisches Personal zu verringern. Die Regelung ermöglicht es, bei leichten Atemwegserkrankungen eine Krankschreibung nach einem telefonischen Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin zu bekommen. Ursprünglich war diese Möglichkeit zeitlich begrenzt, wurde jedoch mehrfach verlängert und angepasst. Ab dem 1. Juni 2022 lief die Sonderregelung jedoch aus, sodass eine telefonische Krankschreibung vorübergehend nicht mehr möglich war. Damals war man der Auffassung, dass die pandemische Lage unter Kontrolle sei und der reguläre Praxisbetrieb weitgehend wiederhergestellt war. Die Maßnahme wurde später wieder aktiviert, als die Infektionszahlen stiegen und ein erhöhtes Risiko in Arztpraxen bestand. Seit 2023 ist die telefonische Krankschreibung fester Bestandteil des Regelwerks zur Arbeitsunfähigkeit geworden. Vgl. dazu Telefonische Krankschreibung wieder möglich sowie den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 07.12.2023, sowie die Normierung in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des G-BA. Allerdings ist diese Maßnahme weiterhin restriktiv ausgelegt: Die Möglichkeit telefonischer Krankschreibungen ist auf leichtere Erkrankungen wie Atemwegsinfekte beschränkt und der Patient muss in der Praxis bekannt sein. Eine Krankschreibung bis zu fünf Tagen ist möglich, ohne dass der Patient in der Praxis vorstellig werden muss. Und: Die Krankschreibung kann telefonisch nicht verlängert werden. Wer eine Folgebescheinigung benötigt, muss die Praxis aufsuchen.
Die Hausärzte haben den Eindruck, dass die Möglichkeit einer telefonischen Krankschreibung zu einem Anstieg der Arbeitsunfähigkeiten geführt habe, zurückgewiesen. Man könne das nicht nachvollziehen, wird Markus Beier, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands, zitiert. Die Hausärzte können aus ihrer »täglichen Arbeit nicht bestätigen, dass Menschen die Regelungen nutzten, um sich „damit einen schlanken Fuß zu machen“ – also sich fälschlicherweise krank zu melden.« Und es wird ausdrücklich vor einer Abschaffung der Regelung gewarnt, denn die habe die Praxen wie auch die Patienten gerade in den extremen Infektmonaten entlastet und es handele sich um »eine der wenigen politischen Maßnahmen ist, die aktuell wirklich Bürokratie reduziert.«
Und auch die Krankenkassen haben sich entsprechend ablehnend zu dem Vorstoß, die telefonische Krankschreibung in bestimmten Fallkonstellationen wieder abzuschaffen, geäußert: „Diese gefühlte Wahrheit können wir nicht bestätigen“, wird die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann bei der Vorstellung des aktuellen Fehlzeiten-Reports mit Bezug auf die von Lindner konstruierten Zusammenhänge zitiert. Und der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) hat eine eigene Pressemitteilung herausgegeben, die so überschrieben ist: Missbrauch der telefonischen Krankschreibung nicht belegbar. Darin wird ausgeführt:
»Ein Missbrauch der telefonischen Krankschreibung ist, entgegen jüngster Medienberichte, nicht belegbar. Denn es wird schlicht nicht erfasst, ob eine Krankmeldung per Telefon oder nach einem persönlichen Termin in der Arztpraxis ausgestellt wurde. Die Daten der Betriebskrankenkassen zeigen keine sprunghaften Veränderungen im Krankenstand – weder nach Einführung der Telefon-AU noch nach deren Aussetzung von März bis Dezember des vergangenen Jahres. Unsere Daten widersprechen also eindeutig der aktuellen Missbrauchsthese, die für politische Forderungen herhalten muss, die Regelung zur telefonischen Krankschreibung rückgängig zu machen … ie Telefon-AU entlastet Arztpraxen und Personal. Ein erhöhtes Infektionsgeschehen bei den Atemwegserkrankungen kann durch die Aufhebung dieser Regelung nicht kaschiert werden. Die Corona-Pandemie hat die Sensibilität der Beschäftigten für Krankheitssymptome geschärft, so dass sie sich bei ersten Anzeichen schneller krankschreiben lassen. Das zu kritisieren ist politisch und moralisch fragwürdig.«
Zahlen bitte! Wie sieht es aus mit dem vieldiskutierten Anstieg der Arbeitsunfähigkeit im „kranken Land“ Deutschland?
Schauen wir uns in einem ersten Schritt die AU-Daten an, die im Kontext der Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ausgewiesen werden:
Zu der mit zahlreichen Fallstricken versehenen Darstellung der Krankenstände mit Blick auf die Arbeitszeitrechnung des IAB (IAB-AZR) vgl. ausführlicher die methodischen Erläuterungen in Wanger, S. et al. (2024): Überarbeitung der IAB-Arbeitszeitrechnung im Rahmen der Generalrevision 2024 der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. IAB-Forschungsbericht, Nr. 20/2024, S. 18-23.
Zur grundsätzlichen Entwicklung des Krankenstandes – und besonders bedeutsam sind die Hinweise, dass wir es hier nicht mit einer festen Grundgesamtheit zu tun haben, wenn man sich die Krankenstände der Arbeitnehmer anschaut, sondern es müssen Verschiebungen und möglicherweise strukturelle Brüche in dem dargestellten Kollektiv mit in die Rechnung genommen werden:
»Die Entwicklung des Krankenstandes wird auch von einer Reihe struktureller Faktoren beeinflusst, wie beispielsweise der Veränderung der Branchen- und Beschäftigtenstruktur, den Tätigkeits- und Anforderungsprofilen von Berufen (z. B. Rückgang körperlich schwerer Arbeiten), den Arbeitsbedingungen und der Entwicklung der Arbeitszeiten … Der demografische Wandel, also die altersspezifische Zusammensetzung der Erwerbstätigen, beeinflusst ebenso die Entwicklung des Krankenstandes. So hat sich der Altersaufbau der Erwerbstätigen nach oben verschoben und das Durchschnittsalter in den Betrieben steigt, zusätzlich auch die Erwerbsbeteiligung der Älteren aufgrund der Heraufsetzung der Altersgrenzen für den Rentenbezug … Die Auswertung von AU-Tagen nach dem Lebensalter zeigt, dass ältere Beschäftigte zwar seltener krank sind als jüngere Beschäftigte, allerdings sind ältere Beschäftigte pro Fall länger krank. Deshalb fallen die AU-Tage bei älteren Beschäftigten wesentlich höher aus als bei den Beschäftigten im jüngeren und mittleren Lebensalter … Durch eine wachsende Zahl älterer Beschäftigter tendiert der Krankenstand nach oben.« (Wanger et al. 2024: 20f.)
Nun wird der eine oder andere einwenden, dass man in der Abbildung doch sehr deutlich den Sprung in den Jahren 2022 und 2023 nach oben erkennen kann – ist das nicht eine Bestätigung der von Lindner angesprochenen Korrelation?
Interessant ist an dieser Stelle auch der Blick auf die von den Krankenkassen veröffentlichten AU-Daten, hier beispielsweise die Darstellung der Betriebskrankenkassen im BKK-Gesundheitsreport 2024 für die bei den BKKen versicherten Beschäftigten:
Die AU-Tage lagen 2023 mit 22,4 Tagen minimal unter dem bisherigen Höchstwert des Jahres 2022. Dagegen wurde 2023 bei den „AU-Fällen je Beschäftigten“ mit 1,95 ein Höchstwert erreicht. Auf der anderen Seite wird für die „Falldauer je AU-Fall“ mit 11,5 Tagen der niedrigste Stand in den vergangenen Jahren ausgewiesen. Wir wurden 2022 und auch 2023 mit überproportional häufig auftretenden Kurzzeit-AU-Fällen konfrontiert.
Eine statistische Auflösung des Rätsels? Es gibt nicht nur die telefonische Krankschreibung, sondern auch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)
Könnte es sein, dass die höheren Zahlen die AU betreffend vielleicht gar keinen Krankheits- oder Blaumachschub in Deutschland reflektieren, sondern das einfach anders gemessen wird bzw. werden kann?
Darauf deuten die Ergebnisse einer neuen Studie hin:
➔ Nicolas R. Ziebarth und Stefan Pichler (2024): Einordnung des deutlichen Anstiegs der krankheitsbedingten Fehlzeiten seit 2022. ZEW policy Brief Nr. 18, Mannheim: ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Oktober 2024
»Seit 2022 sind die krankheitsbedingten Fehlzeiten laut übereinstimmender Berichte und auf Basis unterschiedlicher Datenquellen stark angestiegen. Es gilt festzuhalten, dass es in Deutschland keine einheitliche und repräsentative Datenbasis gibt, die Fehlzeiten nach Krankheitsdauer akkurat und vollständig erfasst. Viele Berichte beruhen auf Daten einzelner Krankenkassen, die sowohl selektiv als auch unvollständig sind, weil sie beispielsweise Fehlzeiten von unter vier Tagen nur sehr beschränkt erfassen. Zudem existiert keine international vergleichbare Datenbasis. Zusätzlich gilt, dass Deutschland eine der weltweit großzügigsten Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall hat: Jede privatwirtschaftlich angestellte Person hat das Recht, im Krankheitsfall vom ersten Tag an 100 Prozent des Lohnes zu erhalten – für eine Krankheitsdauer von bis zu sechs Wochen. Das impliziert, dass Deutschland pro Arbeitnehmer und Jahr vermutlich eine der höchsten Fehlzeiten weltweit aufzuweisen hat – und zwar schon vor dem mutmaßlichen Anstieg seit 2022. Die von der Techniker Krankenkasse erfassten Fehlzeiten liegen bei 19,4 Tagen pro Person für das Jahr 2023. Es gibt vier mögliche Haupterklärungsgründe für den Anstieg seit 2022: (1) die telefonische Krankschreibung, (2) Covid-19, „Long Covid“ sowie mehr Infektionen, (3) ein durch die Pandemie verändertes Fehlzeitenverhalten und (4) eine verbesserte elektronische Datenübermittlung. Es gibt starke Anhaltspunkte, dass der Großteil des Anstiegs der Fehlzeiten auf (4) — eine bessere statistische Erfassung der Fehlzeiten — zurückzuführen ist.«
Ziebarth/Pichler sehen die telefonische Krankschreibung wie andere auch nicht als relevanten Faktor für die erhöhte Zahl der Krankschreibungen. Der Verlauf der Fehlzeiten von 2020 bis 2023 spreche gegen diese. So sei während der zeitweisen Aussetzung der Maßnahme kein Rückgang der Zahlen zu beobachten gewesen.
Eine „bessere statistische Erfassung der Fehlzeiten“ also. Dazu die Statistik-Experten aus dem IAB im Kontext ihrer Darstellung der methodischen Herausforderungen der Arbeitszeitrechnung:
»Seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) werden die AU- Bescheinigungen automatisch an die Krankenkassen weitergeleitet … Dabei wird über eine technische Schnittstelle die Krankmeldung (am gleichen Tag) von der ärztlichen Praxis an die Krankenversicherung geschickt. Die Arbeitnehmer müssen sich nicht mehr darum kümmern, den Durchschlag der AU-Bescheinigung an die Krankenkasse abzuschicken. Außerdem müssen mit diesem Verfahren die Arbeitnehmer die eAU nicht mehr beim Arbeitgeber vorzeigen. Stattdessen stellen die Krankenkassen die entsprechenden AU-Daten elektronisch zur Verfügung und die Arbeitgeber rufen diese Daten ab.
Ursprünglich war vorgesehen, die eAU zum 1. Januar 2022 in Kraft zu setzen … Dabei war eine stufenweise Einführung geplant: Die erste Phase umfasste die verpflichtende Übermittlung der eAU von den Arztpraxen an die Krankenkassen. In Phase zwei sollten dann ab dem 1. Juli 2022 die Arbeitgeber mit ihrem digitalen Abrufverfahren in den Prozess der eAU integriert werden. Mangels flächendeckender Software in den Arztpraxen konnte die Umsetzung zunächst nicht realisiert werden, so dass die Arztpraxen bis zum 31. Dezember 2022 zweigleisig fuhren und neben der digitalen Übermittlung weiterhin eine Krankschreibung auf Papier in dreifacher Ausfertigung ausstellen mussten, die dann wie bisher von den Arbeitnehmern an den Arbeitgeber übermittelt werden musste.
Seit dem 1. Januar 2023 wurde die eAU flächendeckend umgesetzt. Die Versicherten müssen also keine Ausfertigung der Papier-AU mehr an die Krankenkassen schicken, dieser Prozess läuft nun automatisiert. Diese Verfahrensumstellung zeigt, dass die Übermittlung der Papier-AU an die Krankenkassen bei kurzen Erkrankungen häufig unterblieben sein dürfte, weil Versicherte keinerlei Anreize dazu hatten. So war nur bei längeren Erkrankungen, z.B. wenn Krankengeld bezogen werden musste, die Übersendung der AU- Bescheinigung an die Krankenkasse für die Versicherten wichtig. Das bedeutet, dass der Krankenstand in Teilen untererfasst war und es durch die eAU jetzt zu einer merklich vollständigeren Erfassung kommt.« (Wanger et al. 2024: 21 f., Hervorhebung nicht im Original).
Damit kann man also zum derzeitigen Stand der Erkenntnisse zusammenfassen, dass ein großer Teil des Niveaueffekts, den man in den AU-Daten sieht, schlichtweg auf eine bessere Erfassung der AU-Fälle zurückzuführen ist. Daraus kann man aber nicht kurzschließen, dass sich das Verhalten eines Teils der Beschäftigten nicht dahingehend verändert hat, dass man im Vergleich zu früher schneller und häufiger und wenn, dann eher kurz die Arbeitsunfähigkeit in Anspruch nimmt. Nur wie groß dieser Anteil ist, kann keiner seriös beantworten.
Mit einer solchen Erkenntnislage, wie sie hier dargestellt wurde, kann man aber sicher nicht die Abschaffung der telefonischen Krankmeldung bei bestimmten leichteren Erkrankungen begründen. Eine solche Abschaffung wäre empirisch derzeit in keiner Art und Wiese begründbar, aber sicher wäre der Verlust einer die Praxen und auch die Patienten entlastenden Möglichkeit.