Marginalisierte Arme und eine verunsicherte Mitte. Zur Entwicklung von Einkommensungleichheit und Armut seit 2010

»Seit 2010 ist die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland deutlich gestiegen und in den letzten Jahren haben sich Ängste, den eigenen Lebensstandard nicht mehr halten zu können, in der Bevölkerung stark ausgebreitet. Die Quote der Menschen, die in Armut leben, hat nach den neuesten verfügbaren Daten ebenfalls erheblich zugenommen und liegt auf einem Höchststand … Hinzu kommt, dass Arme während der 2010er Jahre gegenüber anderen Einkommensgruppen wirtschaftlich noch weiter zurückgefallen sind, denn von der insgesamt positiven Wirtschafts- und Einkommensentwicklung im vergangenen Jahrzehnt haben sie nur vergleichsweise wenig abbekommen.« Das berichtet die Hans-Böckler-Stiftung unter der Überschrift Einkommensungleichheit und Armut haben seit 2010 deutlich zugenommen – Sorgen um Lebensstandard strahlen bis in Mittelschicht aus. Sie bezieht sich dabei auf Ergebnisse des neuen Verteilungsberichts des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI).

Den findet man im Original hier:

➔ Dorothee Spannagel und Jan Brülle (2024): Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte. WSI-Verteilungsbericht 2024, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), November 2024

»Wer in Einkommensarmut lebt, hat deutlich eingeschränkte Möglichkeiten, an der Gesellschaft umfassend teilzuhaben. Das zeigt sich insbesondere daran, dass Arme von materiellen Mangellagen betroffen sind und sich in Teilen relativ deutlich vom politischen System abwenden. Es gilt außerdem: Je geringer das Einkommen, desto weniger können Menschen auch auf nicht-materielle Ressourcen zurückgreifen – sei es auf qualifizierende Bildungsabschlüsse, eine solide Integration in den Arbeitsmarkt oder tragfähige soziale Netzwerke. Der diesjährige Verteilungsbericht zeigt jedoch auch, dass selbst oberhalb des Armutssegments und sogar in der unteren Mitte der Gesellschaft die politische Teilhabe teilweise brüchig ist. Dies zeigt sich ganz deutlich darin, dass materielle Sorgen und Abstiegsängste besonders in jüngeren Jahren stark zugenommen haben. All dies hat negative Folgen für unser demokratisches System.«

➔ Auf welcher Datenbasis argumentiert der WSI-Verteilungsbericht? Im Bericht werden die aktuellsten vorliegenden Daten aus zwei repräsentativen Befragungen ausgewertet: Erstens aus dem sozio-oekonomischen-Panel (SOEP), für das rund 13.000 Haushalte jedes Jahr interviewt werden, und das aktuell bis 2022 reicht, wobei sich die Einkommensdaten auf das Jahr 2021 beziehen. Diese Zahlen stammen aus der neuesten SOEP-Welle, deren Ergebnisse unmittelbar vor Fertigstellung des Verteilungsberichts veröffentlicht wurden. Diese ganz neuen Daten sind die Grundlage für die von den WSI-Forschenden berechneten Ungleichheitsindikatoren (Gini-Koeffizient, Armuts- und Reichtumsquoten), für die Angaben zu den Größen der Einkommensgruppen sowie für die Entwicklung der Realeinkommen. Die übrigen verwendeten SOEP-Zahlen beziehen sich auf die vorherige SOEP-Welle (Einkommensdaten bis 2020). Zweitens stützen sich die Wissenschaftler auf die Lebenslagenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung. Dafür wurden in zwei Wellen 2020 und 2023 jeweils mehr als 4.000 Personen repräsentativ anhand einer Zufallsstichprobe befragt.

Dass die einkommensarmen Menschen während der 2010er Jahre gegenüber anderen Einkommensgruppen wirtschaftlich noch weiter zurückgefallen sind, prägt den Alltag und schränkt soziale Kontakte von Menschen mit niedrigem Einkommen ein: »Schon 2021, also vor dem Beginn der Inflationswelle, hatten mehr als 40 Prozent der Armen und über 20 Prozent der Menschen in der Gruppe mit „prekären“ Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze keinerlei finanzielle Rücklagen, um kurzfristige finanzielle Notlagen zu überbrücken. Rund zehn Prozent der Armen waren zudem finanziell nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen.«

Und die großen Krisen der vergangenen Jahre haben ihre Spuren hinterlassen:

»Über die Coronakrise und den Inflationsschub zwischen 2020 und 2023 haben sich Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage bei vielen Menschen noch einmal deutlich verschärft, und zwar unter Ärmeren sowie bis weit in die Mittelschicht hinein: Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen in der unteren Einkommenshälfte, aber auch knapp 47 Prozent in der oberen Mittelschicht fürchteten im vergangenen Jahr, ihren Lebensstandard zukünftig nicht mehr halten zu können.«

Hervorgehoben werden Auswirkungen auf das staatliche und politische System:

»Mit materiellen Einschränkungen und Zukunftssorgen geht vor allem bei ärmeren Menschen eine erhebliche Distanz zu wichtigen staatlichen und politischen Institutionen einher, zeigt die Studie zudem: Weniger als die Hälfte der Armen und der Menschen mit prekären Einkommen findet, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniert. Sie sehen für sich auch nicht die Möglichkeit, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Rund ein Fünftel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße.«

Im WSI-Verteilungsbericht wird davon gesprochen, »dass Deutschland in einer Teilhabekrise steckt« – und diese Krise habe eine materielle Seite und eine stärker emotional-subjektive.

»Die materielle Seite zeigt sich am stärksten bei den Menschen in Armut. Für sie stehen unmittelbare materielle Mangellagen im Vordergrund, und ein Teil von ihnen wendet sich relativ deutlich vom politischen System ab. Die Gruppe der Armen ist nicht nur seit 2010 größer geworden, sie ist zudem im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer geworden.« Es werde zugleich deutlich erkennbar, »dass auch oberhalb der Einkommensgruppen in Armut und sogar in der Mittelschicht, insbesondere der unteren, Zukunftsängste zunehmen und die politische Teilhabe teilweise brüchig ist.«

Der Zusammenfassung des Berichts (vgl. Spannagel/Brülle 2024: 16-17) kann man entnehmen:

»Ein Blick auf weitere Teilhabedimensionen macht deutlich, dass es für die untere Einkommenshälfte häufig schwierig ist, Defizite in den materiellen Ressourcen durch andere Bereiche auszugleichen. Eingeschränkte Teilhabechancen wie fehlende formale Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit oder Formen der prekären Beschäftigung und auch fehlende soziale Nahbeziehungen sind in den unteren Einkommensgruppen häufiger als in
der oberen Mitte.«

In Bezug auf die politische Dimension zeichnen die Ergebnisse im WSI-Verteilungsbericht 2024 ein differenziertes Bild:

»Sie zeigen zwar auf der einen Seite eine große Verunsicherung und Unzufriedenheit mit der unmittelbaren politischen Situation, und zwar in allen untersuchten Einkommensgruppen: Nur etwas mehr als die Hälfte der Menschen in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung sind zufrieden mit der Demokratie, wie sie heute in Deutschland existiert. Viele haben das Vertrauen in die aktuelle Bundesregierung verloren. Dennoch hat sich nur eine Minderheit in einem weiteren Sinn von der Demokratie verabschiedet und misstraut Politiker*innen und den zentralen staatlichen Institutionen ganz grundsätzlich. Immerhin etwa ein Fünftel der Menschen
in Armut hat nicht die Absicht, sich an Wahlen zu beteiligen.

Die Verfasser des WSI-Verteilungsberichts leiten zwei zentrale Ansatzpunkte für politische Handlungsempfehlungen ab:

»Für Menschen, die in Armut leben, ist es von zentraler Bedeutung, bei der Stärkung ihrer materiellen Teilhabe anzusetzen. Für die anderen unteren Einkommensgruppen stehen hingegen stärker Maßnahmen zur Sicherung ihres Lebensstandards und die politische Bearbeitung ihrer subjektiven Unsicherheiten im Vordergrund.«

Und wie?

»Es gilt zunächst einmal das letzte Auffangnetz in unserer Gesellschaft, die Grundsicherung, zu stärken, also etwa die Leistungen des Bürgergeldes oder auch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Um ein Mindestmaß an Teilhabe tatsächlich zu ermöglichen, müssen diese Leistungen in ausreichender Höhe zur Verfügung gestellt werden und so ausgestaltet sein, dass sie tatsächlich bei allen ankommt, die sie benötigen. Aktuell sind hierfür die Regelsätze zu niedrig und die Dunkelziffer zu hoch, also die Zahl derjenigen, die einen
Anspruch auf eine Grundsicherungsleitung haben, diesen aber etwa aus Unwissenheit oder Angst vor Stigmatisierung nicht geltend machen. Soziale Sicherheit auch für die (untere) Mitte der Gesellschaft kann besonders durch Sozialversicherungssysteme gestärkt werden, die eine angemessene Balance zwischen solidarischem Ausgleich und Sicherung des individuellen Lebensstandards finden. Hier geht es etwa um ein stabiles Rentenniveau in Kombination mit einer auskömmlichen Grundrente.«

»Neben der finanziellen Absicherung gilt es, auch die soziale Infrastruktur und die öffentliche
Daseinsvorsorge zu stärken: Ein gutes Quartiersmanagement, eine bessere Ausstattung von Kinderbetreuungseinrichtungen und des Bildungssystems, eine gute Gesundheitsversorgung und ein gut ausgebauter ÖPNV kommen allen zugute. All diese Maßnahmen sind zentral für die Teilhabe der unteren Einkommensgruppen: Menschen mit sehr niedrigen finanziellen Ressourcen können Defizite in der öffentlichen Infrastruktur nicht durch eigene Ressourcen kompensieren, sie können eben nicht auf oftmals teure private Alternativen ausweichen. Wer sich kein Auto leisten kann, ist auf einen funktionierenden, verlässlichen ÖPNV angewiesen. Darüber hinaus können aber auch zielgerichtete Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen am Rande des Arbeitsmarktes die Teilhabemöglichkeiten der Betroffenen nachhaltig verbessern.«