Die Ängste vor dem Osten und Menschen, die tatsächlich (nicht) gekommen sind: 20 Jahre EU-Osterweiterung

Am 1. Mai 2004 traten zehn Staaten der EU bei. Neben den beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern waren das acht Staaten aus Ost- und Südosteuropa: Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien sowie Ungarn, die auch als EU-8-Staaten bezeichnet werden. Am 1. Januar 2007 kamen Bulgarien und Rumänien (EU-2) dazu und am 1. Juli 2013 Kroatien.

Vor zwanzig Jahren gab es neben der Freude über die Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten in die EU gerade in Deutschland eine teilweise hyperventilierende Debatte, die befeuert wurde von der Sorge über eine steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Löhnen der Menschen in Deutschland. »Die Osterweiterung wird die EU grundlegend verändern. Mit Billiglöhnen und Niedrigsteuern fordern die Beitrittsländer die etablierten Club-Mitglieder heraus. Deutschland muss sich darauf einstellen – oder es wird zu den Verlierern des neuen Europa zählen«, so beispielsweise die Einschätzung von Michael Fröhlingsdorf und anderen in dem Artikel Der Preis des neuen Europa, der im Heft 18/2004 des SPIEGEL veröffentlicht wurde. »Plötzlich … gehören jene Staaten zur EU, die sich in den vergangenen Jahren als größte Konkurrenten gerade des Standorts Deutschland profilierten. Die mit Billiglöhnen, flexiblen Arbeitern und Dumping-Steuern Unternehmen mitsamt ihren Arbeitsplätzen abwarben.« Da war sie in den Raum gestellt, die damals alle bewegende Frage: »Wird Deutschland … zu den Verlierern der großen EU-Erweiterung zählen, weil die Arbeit in bisher unbekanntem Ausmaß abwandert?«

Auch damals gab es das ganze Spektrum, von den Pessimisten bis zu den Optimisten. Zu denen, die Schwarzmalerei betrieben, gehörte in jenen Tagen beispielsweise Hans-Werner Sinn, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), er prophezeite eine lang anhaltende Niedriglohnkonkurrenz. Das aber bedeutet niedrigere Einkommen, weniger Wachstum und Wohlstand: Eine Spirale nach unten käme in Gang. Andere hingegen wie der damalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sahen eine »Win-win-Situation«, also eine Entwicklung, von der alle profitieren, die Beitrittsländer und die etablierten Industriestaaten, allen voran Deutschland, am Horizont heraufziehen.

»Die bisherige Entwicklung stützt die These der Optimisten. Die Öffnung Osteuropas erwies sich für die deutsche Wirtschaft als Glücksfall, sie eroberte neue Märkte und erschloss sich kostengünstige Zulieferungen. Hunderttausende Arbeitsplätze wurden so geschaffen oder gesichert – hier zu Lande wohlgemerkt.« So die eine Einschätzung kurz vor dem Eintritt der osteuropäischen Staaten in die EU. Und schon vor dem Beitritt zur EU hat die Kasse geklingelt, wie im SPIEGEL 2004 berichtet wurde: »Seit 1993 hat sich der Wert der gehandelten Waren verfünffacht, wobei die Deutschen meist mehr exportierten als importierten. In manchen Jahren betrug der Exportüberschuss über sechs Milliarden Euro.«

Und nach dem EU-Beitritt der ersten osteuropäischen Staaten zum 1. Januar 2004 (also der EU-8-Staaten) sind die deutschen Exportüberschüsse in diese Länder dann in den ersten Jahren richtig nach oben gegangen:

Aber der Arbeitsmarkt? Damals wurden vor allem zwei pessimistische Szenarien aufgemacht: Zum einen würden zahlreiche Menschen aus dem armen Osten in die reichen West-Staaten der EU abwandern, vor allem, wenn sie das aufgrund der Freizügigkeit innerhalb der EU relativ problemlos machen können. Und zum anderen wurde darauf hingewiesen, dass aufgrund des eklatanten Lohngefälles zwischen Westeuropa und den osteuropäischen Neumitgliedern zahlreiche Jobs in den billigeren Osten verlagert werden.

Und der angesprochene Verlagerungsprozess wurde schon 2004 rückblickend vor dem Eintritt in die EU diagnostiziert: »Der Zug nach Osten begann unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, der zu Zeiten des Kalten Krieges den Ostblock vom kapitalistischen Westen abriegelte. Billiglöhne, niedrige Unternehmensteuern und überaus flexible Arbeitszeiten ließen Konzerne wie Siemens und VW, aber auch zahlreiche Mittelständler sofort nach der Wende Joint Ventures gründen – verlängerte Billigwerkbänke für die lohnkostenintensive Massenproduktion.« Aber nicht nur ein deutlich günstigerer Faktor Arbeit lockte die West-Unternehmen: Parallel zur Verlagerungswelle wurden viele osteuropäische Standorte auf den neuesten Stand gebracht. Die hier angedeutete Kombination hat zu süßen Träumen auf der Kapital-Seite geführt:

»In der Automobilindustrie bilden sich Technologiezentren rund um die Werke der Hersteller – im tschechischen Kolín an der Elbe etwa, wo PSA Peugeot-Citroën und Toyota eine Gemeinschaftsfabrik bauen. Oder im polnischen Gliwice, wo Opel eine Kopie des Werks in Eisenach hingepflanzt hat. Man arbeite dort mit »uneingeschränkt gleicher Fertigungsqualität und -produktivität, aber flexibleren Mitarbeitern zu 80 Prozent günstigeren Löhnen«, so Opel-Vorstandschef Carl-Peter Forster. Noch einmal 30 Prozent billiger ist die Slowakei … Auch Dienstleistungen wandern inzwischen nach Osten ab. Esso verlagerte die Buchhaltung von Hamburg nach Prag. Die Konzernmutter ExxonMobil will von dort aus alle ihre europäischen Töchter bilanzieren. DHL, der Paketservice der Deutschen Post, steuert demnächst in einem Rechenzentrum seine gesamte IT-Infrastruktur aus der tschechischen Hauptstadt.«

Freizügiges Kapital, was man aber nicht für den Faktor Arbeit sagen kann

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein Grundrecht in der Europäischen Union. Für Arbeitnehmer aus den EU-Mitgliedstaaten gilt seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) 1957 grundsätzlich das uneingeschränkte Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen und einer Beschäftigung nachzugehen. Die Verordnung 1612/68 des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 15. Oktober 1968 regelte konkret die Rahmenbedingungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Genau die aber stieß bei den alteingesessenen EU-Mitglieder bzw. genauer bei einem großen Teil von ihnen auf Ablehnung aufgrund der Befürchtungen, dass es vor Ort zu heftigen Auseinandersetzungen kommen könnte, wenn sich hunderttausende Osteuropäer auf den Weg in den gelobten Westen machen.

Also hatte man sich in der EU mit der Osterweiterung auf eine Übergangszeit („2+3+2-Regel“) für die Öffnung des Arbeitsmarktes verständigt: Die EU-Staaten hatten die Möglichkeit, mit Verzögerung den Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren; nach 2 Jahren konnten sie die Frist um 3 Jahre, dann nochmal um zwei Jahre verlängern. Diese sieben Jahre Blockadehaltung haben Deutschland und Österreich beispielsweise durchgezogen, um den eigenen Arbeitsmarkt „zu schützen“. Nur Irland, Schweden und Großbritannien erlaubten die Arbeitskräfteeinwanderung sofort, was sich dann u.a. in einer starken Zuwanderungswelle aus Polen nach Großbritannien niedergeschlagen hat.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-8-Staaten galt in Deutschland ab 2011, für Bulgarien und Rumänien ab 2014, also jeweils sieben Jahre nach dem Beitritt zur EU.

Und wie hat sich die Zuwanderung aus den osteuropäischen Neu-EU-Mitgliedsstaaten entwickelt? Schauen wir dazu auf die Wanderungssalden, also die Zuzüge abzüglich der Fortzüge:

Und diese Wanderungsbewegungen haben sich auch in der Zahl der Staatsbürger aus den EU-8-Staaten sowie den EU-2-Staaten niedergeschlagen, die in Deutschland leben:

2004 waren es erst gut 500.000 Menschen aus den ost- und südosteuropäischen Staaten, die in Deutschland lebten. 2022 wurden bereits mehr als 2,6 Millionen Menschen gezählt.

»Es kommen vor allem Personen zum Arbeiten, einige bleiben nur ein paar Monate oder Jahre und gehen dann wieder zurück, andere wiederum ziehen gar nicht nach Deutschland und pendeln«, so dieser Beitrag: 20 Jahre EU-Osterweiterung. Dort findet man auch diesen Hinweis: »Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus den zehn ost- und südosteuropäischen Staaten hat deutlich zugenommen. Die Zahl der Arbeitslosen bleibt auf niedrigem Niveau. Zusammen mit der Türkei sind Polen und Rumänien die Top 3 Herkunftsländer unter den Beschäftigten insgesamt.«

Da sind sie schon berücksichtigt, die Zuwanderer aus den immer noch Armenhäusern der EU, also Bulgarien und Rumänien, die 2007 in die EU aufgenommen worden sind. In den vergangenen Jahren stellen Menschen aus diesen beiden Ländern auch den Hauptteil der Zuwanderung nach Deutschland. In den Arbeitsmarkt. Was hervorgehoben werden muss, denn die Zuwanderung aus diesen Ländern wurde wenn, dann stark negativ konnotiert oftmals mit Begriffen wie „Armutszuwanderung“ oder „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ in den Medien verhandelt.

»Der EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens am 1. Januar 2007 war von Anfang an umstritten. Besonders heftig wurde die Debatte 2014, als auch die volle EU-Freizügigkeit für die Menschen aus beiden Ländern eingeführt wurde. Einige Überschriften von damals: „Die Städte rüsten sich für die Armutszuwanderung“, „Die Furcht vor Zuwanderern ins Sozialsystem wächst“, „Osteuropäer sitzen auf gepackten Koffern“, „Fast 50 Prozent mehr Hartz-Bezieher aus Osteuropa“, „Wer betrügt, der fliegt“. Heute ist klar: Die EU-Osterweiterung von 2007 ist eine Erfolgsgeschichte. Hunderttausende Beschäftigte sind auf dem deutschen Arbeitsmarkt angekommen und besetzen hier wichtige Stellen«, so die zutreffende Diagnose in dem 2021 veröffentlichten Beitrag Erfolgsgeschichte statt „Armutszuwanderung“. Dort findet man auch diese Einschätzung: »Das Fazit aus Sicht der Forschung ist eindeutig: „Aus ökonomischer Perspektive war die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Bulgaren und Rumänen ein großer Erfolg“, so Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker. Der Sozialstaat dürfte erheblich profitiert haben. Ein Grund: Viele Zuwanderer werden Deutschland im Alter wieder verlassen. Dann können sie zwar ihre Rente teilweise ins Ausland bekommen. Aber die Sozialsysteme sparten Ausgaben bei Kranken- und Pflegeversicherung, weil die Menschen nicht im Land leben. Das dürfte zu „erheblichen Gewinnen“ für die Sozialsysteme führen.«

Und wie sieht das am aktuellen Rand aus?

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht monatlich den IAB-Zuwanderungsmonitor mit den aktuellsten Arbeitsmarkt-Daten. Dem Zuwanderungsmonitor April 2024 kann man diese Tabelle entnehmen:

Allein aus Rumänien und Bulgarien kommen mittlerweile mit 1,35 Millionen Menschen genau so viele Menschen wie aus allen EU-8-Staaten (1,36 Millionen), die in Deutschland leben. Gerade die Menschen aus Rumänien und Bulgarien haben mit 66,6 Prozent eine hohe Beschäftigungsquote und die SGB II-Hilfequote liegt mit 14,3 Prozent deutlich unter der für alle Ausländer (21 Prozent). Und unter den SGB II-Beziehern aus diesen beiden Staaten sind viele „Aufstocker“, denn die Menschen aus Rumänien und Bulgarien arbeiten oftmals im Niedriglohnbereich und machen Jobs, die nicht nur schlecht bezahlt sind, sondern die auch von den meisten Deutschen nicht (mehr) gemacht werden.

➔ Vgl. dazu beispielsweise die Studie von Gallegos Torres et al. (2021): 18 Jahre EU-Osterweiterung: Wo Osteuropäer/innen in Deutschland arbeiten: »Die Beschäftigten aus den EU-8 und EU-2 arbeiteten am häufigsten in der Post- und Lagerwirtschaft, Fahrzeugführung und in der Reinigung. Diese Berufsgruppen sind durch niedrige Anforderungen an Sprachkenntnisse oder andere nicht-routine interaktive Aufgaben gekennzeichnet. Die Beschäftigten aus den neuen EU-Ländern arbeiteten im Vergleich zu Deutschen überproportional oft in solchen Berufsgruppen, welche Fachkräfte-Engpässe aufweisen, und tragen damit tendenziell zu einer Entlastung des Arbeitsmarktes bei.«

Aber um hier einem weit verbreiteten verengten Narrativ vorzubeugen: Auch wenn viele Menschen aus Bulgarien und Rumänien hier arbeiten in dem, was man als Niedriglohnsektor bezeichnet und wo oftmals schlechte Arbeitsbedingungen bis hin zu offener Arbeitsausbeutung an der Tagesordnung sind – Deutschland profitiert nicht nur in diesen Bereichen vom Import ausländischer Arbeitskräfte, sondern ganze Jahrgänge von Ärztinnen und Ärzten, die in diesen Ländern ausgebildet wurden, arbeiten heute in deutschen Krankenhäusern und halten hier die Versorgung mit aufrecht. Darüber wird nur selten bis nie berichtet.

Aber schlussendlich nur der Hinweis, dass man aus deutscher Sicht nicht darauf vertrauen sollte und kann, dass aufgrund des immer noch erheblichen Wohlfahrtsgefälles ausreichend „Nachschub“ aus den osteuropäischen Ländern nach Deutschland kommen wird, um hier die zunehmenden Mangellagen auf den Arbeitsmärkten zu kompensieren. Denn zum einen haben auch und gerade die osteuropäischen Länder eine katastrophale hochgradig problematische Entwicklung, die zu einem zunehmenden Mangel in diesen Ländern führen wird und bereits führt, zum anderen sinkt auch die Wanderungsbereitschaft in Korrelation mit dem Anstieg des Wohlstandsniveaus in den Heimatländern, was man am Beispiel Polen studieren kann.