»Wie andere Firmen hat sich auch SAP von einer deutschen AG in eine europäische SE umgewandelt. Was das für die Mitbestimmung der Gewerkschaften bedeutet, war umstritten. Der EuGH hat nun entschieden: Sie darf nicht geschwächt werden«, so bilanziert Gigi Deppe aus der ARD-Rechtsredaktion unter der Überschrift EuGH stärkt Gewerkschaften bei SAP eine neue Entscheidung des EuGH (Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-677/20 vom 18.10.2022). Und Deppe verweist sogleich darauf, dass das Urteil nicht nur die SAP betrifft: »Die Entscheidung des obersten Gerichts der EU dürfte im Ergebnis viele Firmen interessieren. Denn mehrere hundert große deutsche Unternehmen wie etwa Allianz, BASF oder Porsche haben sich seit 2004 von einer Aktiengesellschaft in eine sogenannte Societas Europaea umgewandelt. Das heißt: Hinter dem Firmennamen steht nicht mehr das Kürzel AG, sondern die beiden Buchstaben SE.«
»Die Umwandlung in eine SE ist für viele Unternehmen interessant, die sich breiter auf dem europäischen Markt aufstellen wollen. Denn in allen EU-Ländern gelten für diese Unternehmensform damit grundsätzlich dieselben Regeln. Allerdings gab es einen großen Streitpunkt, der vor allem von deutschen Gewerkschaften kritisch gesehen wurde: Sollten mit der Umwandlung in eine SE die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer abgeschwächt werden – sollte es also weniger Gewerkschaftseinfluss in der Unternehmensspitze geben?«
Der EuGH selbst hat seine Pressemitteilung zu dem neuen Urteil so überschrieben: Die Umwandlung einer Gesellschaft nationalen Rechts in eine Europäische Gesellschaft (SE) darf die Beteiligung der Gewerkschaften bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht verringern. Schauen wir uns zuerst einmal den Sachverhalt an:
»Zwei deutsche Gewerkschaften, die IG Metall und ver.di, wenden sich vor den deutschen Gerichten gegen die Modalitäten der Bestellung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Europäischen Gesellschaft SAP, der paritätisch aus Mitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammengesetzt ist.«
Jetzt wird es sehr technisch:
»Die streitigen Regelungen wurden zwischen SAP und dem im Rahmen der Umwandlung von SAP – bis dahin eine Aktiengesellschaft deutschen Rechts – in eine Europäische Gesellschaft (SE) dort gebildeten besonderen Verhandlungsgremium vereinbart. Sie sehen vor, dass bei einer Verringerung der Anzahl der Mitglieder des Aufsichtsrats der SAP SE von 18 auf 12 die Gewerkschaften weiterhin Kandidaten für einen Teil der sechs Sitze der Arbeitnehmervertreter vorschlagen können, diese Kandidaten jedoch nicht mehr in einem von dem der Wahl der übrigen Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang gewählt werden. Daher ist nicht mehr sichergestellt, dass sich unter den Vertretern der Arbeitnehmer in diesem Aufsichtsrat auch tatsächlich ein Gewerkschaftsvertreter befindet.«
In Deutschland hatte es die strittige Frage bis vor das Bundesarbeitsgericht (BAG) geschafft. Das BAG hat argumentiert, »dass unter Zugrundelegung ausschließlich des deutschen Rechts dem Antrag der beiden Gewerkschaften stattzugeben und die Unwirksamkeit der streitigen Regelungen festzustellen wäre. Nach deutschem Recht müssten nämlich bei der Gründung einer SE durch Umwandlung die die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in gleichwertigem Umfang erhalten bleiben. Die Anwendung eines getrennten Wahlgangs für die Wahl der von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten habe gerade den Zweck, den Einfluss der Arbeitnehmervertreter auf die Beschlussfassung innerhalb eines Unternehmens zu stärken, indem sichergestellt werde, dass zu diesen Vertretern Personen gehörten, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügten, und gleichzeitig externer Sachverstand vorhanden sei.«
Das Bundesarbeitsgericht hat den EuGH hinsichtlich der Richtlinie 2001/86 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer den EuGH um Auslegung dieser Richtlinie ersucht. »Nach deren Wortlaut muss im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE die für diese SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleisten, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll (Vorher-Nachher-Prinzip).«
Die Antwort des EuGH ist unmissverständlich:
»Mit seinem … Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Gesellschaft, die in eine SE umgewandelt werden soll, vorschreibt.«
»Daher ist im vorliegenden Fall für die Beurteilung, ob die Beteiligungsvereinbarung eine mindestens gleichwertige Beteiligung der Arbeitnehmer an der Beschlussfassung innerhalb von SAP nach ihrer Umwandlung in eine SE gewährleistet, das deutsche Recht maßgebend, wie es für diese Gesellschaft vor ihrer Umwandlung in eine SE galt, insbesondere das deutsche Mitbestimmungsgesetz.«
Der EuGH ordnet auch die Absichten des europäischen Gesetzgebers ein: »Der Gerichtshof hebt hervor, dass der Unionsgesetzgeber der Auffassung war, dass es angesichts der in den Mitgliedstaaten bestehenden Vielfalt an Regelungen und Gepflogenheiten für die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter an der Beschlussfassung in Gesellschaften nicht ratsam ist, ein auf die SE anwendbares einheitliches europäisches Modell der Arbeitnehmerbeteiligung vorzusehen. Somit wollte der Unionsgesetzgeber die Gefahr ausschließen, dass die Gründung einer SE, insbesondere im Wege der Umwandlung, zu einer Einschränkung oder sogar zur Beseitigung der Beteiligungsrechte führt, die die Arbeitnehmer der Gesellschaft, die in die SE umgewandelt werden soll, nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten genossen haben.«
Zugleich muss mit Blick auf das neue Urteil des EuGH auch hervorgehoben werden, dass der Schutzgedanke keineswegs auf die deutschen Gewerkschaften begrenzt wird:
»Der Gerichtshof stellt darüber hinaus klar, dass das Recht, einen bestimmten Anteil der Kandidaten für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrats einer durch Umwandlung gegründeten SE wie der SAP vorzuschlagen, nicht nur den deutschen Gewerkschaften vorbehalten sein darf, sondern auf alle in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften ausgeweitet werden muss, so dass die Gleichheit dieser Gewerkschaften in Bezug auf dieses Recht gewährleistet ist.«
Anders formuliert: »Wenn es in Deutschland mehr Rechte für die Arbeitnehmervertreter gibt als in anderen EU-Staaten, dürfen die beibehalten werden – solange jedenfalls alle Gewerkschaften gleich behandelt werden«, so Gigi Deppe in ihrer Besprechung des Urteils. »Weil es bei der Mitbestimmung in den einzelnen Ländern der EU so unterschiedliche Gepflogenheiten gebe, habe die EU entschieden: Es sei nicht ratsam, bei dieser Frage ein einheitliches Modell vorzuschreiben.«
Die Gewerkschaften in Deutschland sind zufrieden, sehen aber weitere (zu schließende) Lücken
Man kann sich vorstellen, dass das Urteil des EuGH auf grundsätzliche Sympathie im gewerkschaftlichen Lager gestoßen ist: „Der EuGH leistet einen wichtigen Beitrag dazu, Mitbestimmung zu schützen, indem er die Bedeutung der Gewerkschaftssitze im Aufsichtsrat für eine starke Arbeitnehmervertretung anerkennt. Dies hat eine hohe Tragweite. Bestätigt wird, dass über das reine Besetzungsverhältnis im Aufsichtsrat hinaus alle prägenden Elemente der Mitbestimmung geschützt sind. Deren Definition bleibt eine Angelegenheit des nationalen Rechts.“ Mit diesen Worten wird Sebastian Sick, Unternehmensrechtler im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, in dieser Mitteilung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zitiert: EuGH-Urteil schützt Mitbestimmung bei SAP – Fachleute mahnen, weitere Gesetzeslücken zu schließen. Die gewerkschaftliche Bedeutung der EuGH-Entscheidung ergibt sich aus dieser Sichtweise:
»Das deutsche System der industriellen Beziehungen baut auf belastbaren Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten auf. Aber die nationalen Mitbestimmungsgesetze laufen immer häufiger ins Leere. Oft, weil sie über Konstrukte europäischen Rechts ausgehebelt werden. Die Erosion ist dramatisch und die SE ist mittlerweile ein zentrales Vehikel, um Mitbestimmung zu unterlaufen. Die Gerichtsentscheidungen zeigen jedoch, dass Unternehmen, die die SE zur Mitbestimmungsflucht nutzen, oft große Rechtsrisiken tragen.«
Eine Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung habe ergeben: »Mindestens 1,4 Millionen Beschäftigte in deutschen Unternehmen können das Recht auf paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat durch betriebliche und überbetriebliche Arbeitnehmervertreter nicht ausüben, weil ihre Arbeitgeber Rechtslücken für eine legale Umgehung ausnutzen. Drei Viertel der Unternehmen mit legaler Mitbestimmungsvermeidung nutzen Lücken mit europarechtlichem Bezug, allein bei mindestens gut 300.000 Beschäftigten werden Mitbestimmungsrechte durch die Umwandlung in eine SE umgangen.«
Und das sei auch deshalb problematisch, weil mehrere aktuelle Studien gezeigt hätten, »dass stark mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher durch Umbruchphasen und Krisen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise kommen als Firmen ohne Arbeitnehmermitsprache – ein Befund, der aktuell besonders bedeutsam sein dürfte. Zudem verfolgen sie häufiger eine qualitäts- und innovationsorientierte Strategie, sind im Schnitt rentabler, betreiben seltener aggressive Steuervermeidung und gehen bei Zukäufen weniger Risiken ein.«
Aber auch die neue Entscheidung aus Luxemburg sei nicht ausreichend vor dem Hintergrund des großen Bedarfs, Lücken in den Regelungen zur SE und im deutschen Mitbestimmungsrecht zu schließen, meint die Hans-Böckler-Stiftung. Was ist damit gemeint?
»Beispielsweise würden immer wieder Firmen in eine SE umgewandelt, kurz bevor sie die deutschen gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder von 2.000 für die paritätische Mitbestimmung erreichen. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren wird, können sich Unternehmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Das hat längst drastische Folgen: Bei vier von fünf in Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten fehlt die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Darunter sind auch DAX-Konzerne wie Zalando oder Vonovia. Das sei ein Kernproblem für die Partizipation, weil das Nachwachsen mitbestimmter Unternehmen so verhindert wird.«
Zumindest auf der Ankündigungsebene hat die Ampel-Koalition in ihrem Koalitionsvertrag hier weitere Verbesserungen zugunsten der Arbeitnehmer- bzw. Gewerkschaftsseite in Aussicht gestellt: »Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einige rechtliche Verbesserungen angekündigt. Künftig soll es nicht mehr möglich sein, Mitbestimmung durch Gründung einer SE auszuhebeln. Auch die sogenannte Drittelbeteiligungslücke im Konzernrecht soll geschlossen werden.« Nun muss die Bundesregierung auch liefern.
Und nicht nur das: »Darüber hinaus gibt es weitere Lücken in den Gesetzen. Beispielsweise ist es für Unternehmen mit Sitz in Deutschland möglich, Mitbestimmung durch Nutzung einer ausländischen Unternehmensrechtsform zu vermeiden. Hier muss die Bundesregierung ebenfalls aktiv werden. Ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz würde klarstellen, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten«, so Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U. – zudem müsse sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für Mindeststandards der Unternehmensmitbestimmung einsetzen.