Auch wenn überwiegend über die stationäre Langzeitpflege berichtet wird – die größte Säule des deutschen Pflegesystems ist die häusliche Pflege und Betreuung durch Angehörige, was auf mehr als 80 Prozent der Pflegebedürftigen zutrifft. Neben Angehörigen, die das alleine stemmen oder sich Hilfe holen aus der Schattenwelt der osteuropäischen Betreuungskräfte, wird in vielen Fällen auch auf ambulante Pflegedienste zurückgegriffen, die ein-, manchmal auch mehrmals am Tag zu den Pflegebedürftigen nach Hause kommen.
Über die Arbeitssituation von Beschäftigten in der ambulanten Altenpflege hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) Ergebnisse einer Befragung veröffentlicht: »In einer Online-Befragung wurden die Anforderungen an berufsbedingte Mobilität und zeitliche Flexibilität von Beschäftigten in der Pflege untersucht. Es zeigt sich, dass direkt Pflegende häufiger von Schichtdienst, geteilten Diensten oder Dienstplanänderungen betroffen sind, wohingegen Leitungskräfte seltener im Schichtdienst oder an Wochenend- und Feiertagen arbeiten, jedoch häufiger in der Freizeit kontaktiert werden.«
Die Veröffentlichung dazu gibt es im Original hier:
➔ Julia Petersen und Marlen Melzer (2022): Ambulante Pflege in Deutschland: mobil und flexibel, Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), August 2022
»Etwa 3,3 Millionen der 4,1 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden laut statistischem Bundesamt zu Hause versorgt – davon fast eine Million durch oder gemeinsam mit einem ambulanten Pflege- und Betreuungsdienst.«
Vom 1. Mai bis 30. Juni 2022 wurden in einer bundesweiten Online-Erhebung ambulant Pflegende zu Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit, Belastungsfaktoren sowie zu ihrer Gesundheitssituation befragt. Die Stichprobe bildet dabei hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Alter und Migrationshintergrund ambulant Pflegende in Deutschland weitgehend ab. Auch die Spezialisierung ambulanter Dienste und deren Verteilung nach Bundesländern ist mit Daten der Pflegestatistik 2019 des statistischen Bundesamtes vergleichbar, so die BAuA.
Ambulant Pflegende versorgen die Menschen mit Pflegebedarf in deren eigenen Räumlichkeiten, sodass sie „von Haus zu Haus“ unterwegs sind. Damit verbunden sind teilweise erhebliche Mobilitätsanforderungen:
»Dabei legen die befragten Pflegenden ohne Leitungsfunktion im Durchschnitt täglich 40 Kilometer zurück, wobei 37 Prozent von ihnen die Planung der Fahrzeit als „nie“, „selten“ oder „manchmal“ ausreichend einschätzen.«
Atypische Arbeitszeiten wie Schicht- und Wochenendarbeit sowie hohe zeitliche Flexibilitätsanforderungen kennzeichnen die Arbeit in der ambulanten Pflege:
»Die befragten direkt Pflegenden berichten, durchschnittlich 4,1-mal pro Monat während der Freizeit seitens ihres Pflegedienstes kontaktiert zu werden. Pflegende in Leitungsfunktion werden 6,5-mal pro Monat angesprochen. „Geteilte Dienste“ – d. h. Arbeit am Morgen, gefolgt von einer längeren Pause mit anschließender Weiterarbeit am Abend – kommen bei den teilnehmenden Pflegenden ohne Leitungsfunktion durchschnittlich 3,4-mal pro Monat und bei den Leitungskräften mit 3,8-mal monatlich ähnlich häufig vor. 62 Prozent der direkt Pflegenden geben an, im Schichtdienst zu arbeiten; bei den Befragten mit Leitungsfunktion sind es deutlich weniger (31 %). Der Wechsel von Früh- und Spätschicht ist der am häufigsten benannte Schichttyp (86 % der im Schichtdienst arbeitenden Teilnehmenden). Direkt Pflegende sind zudem an durchschnittlich 2,9 Wochenend- bzw. Feiertagen pro Monat für Ihre Pflegebedürftigen tätig.«
»Weitere Flexibilitätsanforderungen ergeben sich in der ambulanten Pflege durch die Dienstplanunsicherheit … In der Befragung geben 11 Prozent der direkt Pflegenden und 14 Prozent der Leitungskräfte an, dass Dienstplanänderungen aufgrund von unvorhergesehenen Ereignissen bei ihrem Pflegedienst „immer“ vorkommen, wobei 44 Prozent bzw. 43 Prozent hiervon „oft“ betroffen sind.«
Die BAuA weist in ihrem Fazit darauf hin, dass betriebsbedingte Arbeitszeitflexibilität negative gesundheitliche Folgen haben kann. »Deshalb sollte die Gefährdungsbeurteilung in der ambulanten Pflege spezifisch auf diese Flexibilitätsanforderungen eingehen, um geeignete Maßnahmen ableiten zu können … Gezielte Arbeitsschutzmaßnahmen sind etwa die gesundheitsförderliche Gestaltung von Schichtarbeit, Pausen und Dienstplänen. So ist es angesichts der Arbeitszeitflexibilität besonders wichtig, ausreichende Erholungsphasen in Form von Freizeitblöcken ohne die Unterbrechung durch einzelne Arbeitstage zu gewährleisten. Ersatzruhetage für Wochenend- und Feiertagsarbeit sollten innerhalb von zwei Wochen möglich sein. Ein vorwärtsrotierendes Schichtsystem eignet sich am besten, um die Beschäftigten vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu schützen.«
Und einige Erkenntnisse über räumliche Distanz und häusliche Pflege
Wenn wir an die so bedeutsame häusliche Pflege denken, dann hat man Angehörige vor Augen, die entweder mit dem Pflegebedürftigen in einem Haushalt zusammen leben oder aber zumindestens in räumlicher Nähe leben. Aber was ist mit den pflegenden Angehörigen, die in erhebliche räumliche Distanz leben (müssen) – ein Tatbestand, der in den Zeiten der berufsbedingten Mobilität immer öfter auftritt und auftreten wird.
Hierzu hat das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) eine neue Veröffentlichung mit ersten Erkenntnissen über diese Personengruppe vorgelegt:
➔ Simon Eggert und Christian Teubner (2022): Distance Caregiving – Unterstützung und Pflege auf räumliche Distanz, Berlin: Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), August 2022
»Eine Gruppe innerhalb der informell fliegenden Bevölkerung, die in der Forschung in Deutschland bisher noch wenig Berücksichtigung findet, sind pflegende Angehörige in räumliche Distanz zu der von Ihnen unterstützten Person – in der englischsprachigen Fachliteratur als „Distance Caregiver“ bezeichnet … Personen dieser Gruppe unterstützen insbesondere durch organisatorische, koordinieren the und administrative Hilfen, bei denen die physische Anwesenheit nicht unbedingt erforderlich ist.«
»Zu der Frage, ab wann Unterstützung als Pflege auf räumliche Distanz betrachtet wird, gibt es in der Forschung keine eindeutige Festlegung. In Untersuchung aus den USA und Kanada wird zumeist die zeitliche Distanz als Kriterium herangezogen, in der Regel 20 Minuten oder länger für die einfache Wegstrecke … Die Analysen beziehen sich dabei häufig auf so genannte „Long Distance Caregiver“, also Pflegende, die eine Stunde oder mehr von der pflegebedürftigen Person entfernt leben … Über die Zahl an informell pflegenden auf räumliche Distanz in Deutschland gibt es bisher keine belastbaren Schätzungen … Für Deutschland wurde in Bezug auf die Versorgung von pflegebedürftigen Elternteilen durch ihre erwachsenen Kinder … ein Anteil von etwa einem Viertel solcher pflegenden Töchter und Söhne ermittelt, der mindestens 25 km entfernt lebt… Aufgrund der zunehmenden Arbeits- und Wohnortmobilität der Bevölkerung in Deutschland hat auch die räumliche Distanz zwischen den Generationen zugenommen … So nahm der Anteil der erwachsenen Kinder von Personen ab 40 Jahren, die in der Nachbarschaft oder im gleichen Ort leben von über 38 % im Jahr 1996 kontinuierlich auf 26 % im Jahr 2014 ab … Es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren weiter fortsetzen wird. Im Zuge dessen dürfte auch die Zahl pflegende Angehörige steigen, die aus der Distanz heraus unterstützen.«
»Aus der Forschung liegen Hinweise darauf vor, dass bei Pflegenden auf räumliche Distanz spezifische Herausforderungen bestehen, die sie vielleicht von der Gesamtgruppe pflegender Angehöriger unterscheiden und ein eigenes Belastungsprofil ergeben. Dies können etwa Schuldgefühle sein, die mit der Eigenwahrnehmung in Zusammenhang stehen, in kritischen Situationen nicht rechtzeitig vor Ort unterstützen zu können … oder allgemein den Anforderungen der Pflege aufgrund der Entfernung nicht gerecht werden zu können… Zudem sind auf räumliche Distanz Pflegende häufiger erwerbstätig als andere pflegende Angehörige … Für diese kann sich eine zusätzliche zeitliche und finanzielle Belastungssituation durch das so genannte „locational triangle“ ergeben … d.h. die zum Teil erheblichen zurückzulegenden Distanzen im räumlichen Dreieck zwischen zuhause, Arbeitsstelle und Ort der pflegerischen Unterstützung.«
Was bzw. wen hat das ZQP nun untersucht und herausgefunden?
»Das Zentrum für Qualität in der Pflege hat 1.007 Personen ab 40 Jahren zur Art und Umfang der geleisteten Unterstützung, zur Einschätzung der eigenen Pflegesituation und deren Entwicklung in der Corona – Pandemie befragt. Dabei wurden Personen berücksichtigt, die eine pflegebedürftige Person ab 60 Jahren aus ihrem persönlichen Umfeld seit mindestens sechs Monaten in deren Alltag unterstützen.«
Zu den Ergebnissen berichten Eggert/Teubner (2022: 15) zusammenfassend:
»Die Ergebnisse der Befragung verdeutlichen zunächst die bedeutsame Rolle von auf räumliche Distanz Pflegenden bei der Unterstützung pflegebedürftiger Personen in Deutschland. Die in dieser Studie Befragten übernehmen vielfältige Aufgaben, die sich meistens nicht auf die aus der Forschung zu Pflege auf räumliche Distanz identifizierten, „typischen“ Tätigkeiten wie Informationsbeschaffung, emotionale Unterstützung oder Organisation der Pflege … beschränken. Sie umfassen in erheblichem Umfang auch praktische Unterstützung in der hauswirtschaftlichen Versorgung, der Unterstützung bei Mobilität und sozialer Einbindung und der persönlichen Pflege. Pflege auf räumliche Distanz geht also mit regelmäßigen Kontakt zu den Pflegebedürftigen Personen in deren Wohnumfeld einher. Und zwei Drittel der auf räumliche Distanz Pflegenden, die zwischen einer und unter zwei Stunden entfernt leben, sind mindestens einmal pro Woche vor Ort. Über die Hälfte in dieser Gruppe gibt an, die Person aus dem persönlichen Umfeld zu sein, die am meisten unterstützt. Der durchschnittliche zeitliche Aufwand für die Unterstützung der Pflegebedürftigen Person liegt bei 7 Stunden pro Woche.«
Die Ergebnisse der Befragung geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass ein Großteil der Betroffenen auch in Bezug auf die Pflege auf distanzspezifische Belastungserfahrungen gemacht haben:
»Für drei Belastungsgefühle geben drei von vier beziehungsweise zwei von drei Befragten an, diese zu kennen: 1. die fehlende Möglichkeit, in Notsituation rechtzeitig reagieren zu können, 2. nicht zu wissen, wie es der pflegebedürftigen Person jeweils aktuell geht und 3. nicht ausreichend vor Ort unterstützen zu können. In diesem Zusammenhang wird räumlich auf Distanz Pflegenden unter anderem die Einbeziehung eines informell Netzwerks empfohlen, auf das die Beteiligten zurückgreifen können… Potenzial zur Reduktion dieser genannten Belastungen könnte somit eine engere Vernetzung mit den anderen im Unterstützungsprozess beteiligten Personen – professionell Pflegende, andere Angehörige, etc. – liefern. Der Einsatz technische Unterstützungssysteme aus dem Bereich des Ambient Assisted Living könnte ebenfalls zur Entlastung der auf räumliche Distanz Pflegenden beitragen, beispielsweise durch Systeme zum Fernmonitoring.«
»Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist für auf Distanz Pflegende ein wichtiges Thema; 62 % der Befragten geben an, berufstätig zu sein und knapp zwei Fünftel in dieser Gruppe (38 Prozent) erleben berufliche Einschränkungen durch die Unterstützung der pflegebedürftigen Person … Flexible Arbeitszeitmodelle bzw. die Möglichkeit mobil zu arbeiten, ist also gerade auch für die Gruppe der auf räumliche Distanz Pflegenden von erheblicher Bedeutung – sowie insgesamt für das Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf vielfach diskutiert.«