Solche und andere Kinder in Österreich: Eine Differenzierung der Familienleistungen nach dem Wohnort der Kinder verstößt gegen das EU-Recht

Beamen wir uns zurück in die Zeit vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Das gab es Themen, die mit großer Verlässlichkeit immer wieder (gerne in den Sommerzeiten) für einen Empörungsmoment an die medialen Oberfläche gezogen wurden. Darunter das Kindergeld. Also das wurde und wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber für ganz bestimmte Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen und die Kindergeld beanspruchen auch für Kinder, die zu Hause geblieben sind und nicht hier leben.

Das lief dann immer nach so einem Muster ab: »Die Diskussion um Sozialleistungen für EU-Ausländer ist neu entfacht: Saisonarbeiter kassieren Kindergeld, obwohl ihr Nachwuchs gar nicht in Deutschland lebt … Der Streit um das Thema ist voll entbrannt. CSU-Abgeordnete wollen die Regeln für den Kindergeld-Bezug von EU-Ausländern ändern – damit Saisonarbeiter, deren Nachwuchs gar nicht in Deutschland lebt, kein Geld mehr bekommen. „Falsche Anreize nach Deutschland zu kommen, müssen dringend vermieden werden“, sagte CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt.« Das Zitat stammt aus dem Artikel Kindergeld und Hartz IV: So viel Geld kosten uns die Zuwanderer aus der EU vom 13. Mai 2014, der damals vom „Focus“ veröffentlicht worden ist. 

Hier wurde das Zitat in dem Beitrag Kein deutsches Kindergeld mehr für EU-Ausländer, die hier und deren Kinder dort sind? Zur Ambivalenz einer (nicht-)populistischen Forderung vom 19. Dezember 2016 erwähnt. Denn in den letzten Tagen des Jahres 2016 hatte es eine Wiederaufnahme des Themas gegeben, nun allerdings von einem Sozialdemokraten – dem damaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel: »“Es gibt kein Recht auf Zuwanderung in Sozialsysteme“: SPD-Chef verlangt eine Kürzung des Kindergelds für EU-Ausländer, wenn deren Kinder nicht in Deutschland leben«, so wird er in diesem Artikel zitiert: Weniger Kindergeld für EU-Ausländer mit Familie im Heimatland. Etwas genauer: Wenn die Kinder nicht in Deutschland lebten, sondern in ihrer Heimat, „sollte auch das Kindergeld auf dem Niveau des Heimatlandes ausgezahlt werden“. »Und Gabriel warte „seit Monaten“ darauf, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) einen Vorschlag für eine solche Kürzung des Kindergeldes vorlege. Es gebe in manchen Großstädten Deutschlands „ganze Straßenzüge mit Schrottimmobilien“, in denen Migranten nur wohnten, weil sie für ihre Kinder, die gar nicht in Deutschland lebten, Kindergeld auf deutschem Niveau bezögen. „Es gibt in Europa ein Recht auf Zuwanderung in Arbeit, aber kein Recht auf Zuwanderung in Sozialsysteme ohne Arbeit“, sagte der Vizekanzler weiter.«

In dem hier 2016 veröffentlichten Beitrag tauchte auch schon Österreich auf, denn dort wurde ebenfalls hitzig darüber diskutiert, da die Regierung im Ausland lebenden Kindern von in Österreich arbeitenden EU-Bürgern die Familienbeihilfe, so heißt das Kindergeld dort, kürzen wollte.

Und weiter ging es dann im Jahr 2018. Wenn „unser“ Kindergeld ins Ausland fließt – dann kann es sich nur um „EU-Irrsinn“ handeln. Oder ist es wieder einmal komplizierter?, so ein weiterer hier am 28. März 2018 veröffentlichter Beitrag. Auslöser war eine dieser BILD-Kampagnen: „EU-Irrsinn mit unserem Kindergeld“, so hatte diese Zeitung am 22.03.2018 mit den üblichen großen Lettern auf der Titelseite aufgemacht – und zahlreiche Politiker schlossen sich der dadurch in Bewegung gesetzten Karawane an. Im August des Jahres 2018 musste dann mit diesem Beitrag nachgelegt werden: Und jährlich grüßen die Zuckungen der Erregungsgesellschaft. Einige Anmerkungen zum Thema Kindergeld, „wir“ in Deutschland und „die“ im Ausland. Als „Lösungsvorschlag“ wurde in Deutschland eine „Indexierung“ des Kindergeldes diskutiert, also die Abstufung der Leistungshöhe des ins Ausland gezahlten Kindergeldes nach den Lebenshaltungskosten in den anderen Ländern. 

Und die Österreicher haben anders als die Deutschen aus Worten auch Taten folgen lassen. Die damalige ÖVP/FPÖ-Bundesregierung hat tatsächliche eine Indexierung der Familienbeihilfe vorgenommen, die zum 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist. Dazu der Beitrag Der Europäische Gerichtshof als blutdrucksteigernde Instanz? Wieder einmal geht es um das Kindergeld für „EU-Ausländer“ im Inland mit Kindern im europäischen Ausland vom 7. Februar 2019. Da wurde dann auch schon mehr als deutlich erkennbar, worauf die Kritiker einer Indexierung des Kindergeldes bereits frühzeitig hingewiesen haben: das wird mit dem EU-Recht konfligieren. Und folgerichtig hatte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungverfahren gegen die Alpen-Republik eingeleitet. Deren damalige Regierungsvertreter zeigten sich uneinsichtig: »Die amtierende österreichische Regierung zeigt sich offiziell uneinsichtig: »Die Familienministern Juliane Bogner-Strauß (ÖVP) sieht das alles anders als die Kommission. Sofern die Kommission sich nicht von den österreichischen Argumenten überzeugen lasse, sei letztlich der Europäische Gerichtshof am Zug, so die Ministerin.«

➔ Am 1. Januar 2019 führte Österreich einen Anpassungsmechanismus für die Berechnung der Pauschalbeträge der Familienbeihilfe und verschiedener Steuervergünstigungen ein, die Erwerbstätigen gewährt werden, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Diese Steuervergünstigungen umfassen den Kinderabsetzbetrag, den Familienbonus Plus, den Alleinverdienerabsetzbetrag, den Alleinerzieherabsetzbetrag und den Unterhaltsabsetzbetrag. Die Anpassung kann sowohl nach oben als auch nach unten erfolgen und richtet sich nach dem allgemeinen Preisniveau im betreffenden Mitgliedstaat.

➔ »Laut Ministerium fielen im Vorjahr 125.300 Kinder, die in anderen Staaten der EU oder des mit einbezogenen EWR lebten, unter die Indexierung. Besonders Familien aus Osteuropa zählen zu den Verlierern. Beispiele: Für Kinder unter drei Jahren beträgt die nach Alter gestaffelte Familienbeihilfe in Österreich derzeit 114 Euro. Lebt das Kind hingegen dauerhaft in der Slowakei, werden nur 81,05 Euro ausbezahlt. In Tschechien sind es 74,67 Euro, in Ungarn 65,55 Euro, in Rumänien 55,06 Euro und im Schlusslichtland Bulgarien 52,90 Euro. Auch Kinder in Italien (105,34) oder Deutschland steigen mit 108,64 Euro schlechter aus. Gewinner der Indexierung sind hingegen Kinder aus verschiedenen westlichen Ländern wie der Schweiz (158,69), Frankreich (115,60) oder den Niederlanden (117,53) sowie aus nordischen Staaten.« (Quelle: Indexierte Familienbeihilfe: Alles andere als ein Aus wäre eine Überraschung)

Der Europäische Gerichtshof hat nun den letzten Zug gemacht und entschieden: Die Kindergeldregeln in Österreich verstoßen gegen EU-Recht

Nun hat der EuGH entschieden und bereits die Überschrift der Mitteilung des Gerichtshofes vom 16. Juni 2022 lässt keine Fragen offen:

➔ Europäischer Gerichtshof (2022): Die Anpassung von Familienleistungen und verschiedenen Steuervergünstigungen, die Österreich Erwerbstätigen gewährt, nach Maßgabe des Wohnstaats ihrer Kinder verstößt gegen das Unionsrecht. Dieser Mechanismus stellt eine ungerechtfertigte mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit von Wanderarbeitnehmern dar. Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-328/20 | Kommission/Österreich (Indexierung von Familienleistungen), Luxemburg, 16.06.2022

»In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag, die Gegenstand der Klage sind, Familienleistungen im Sinne der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sind, die nicht aufgrund der Tatsache gekürzt oder geändert werden dürfen, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, der sie gewährt.«

Und dann kommt der Kern des Urteils: »Die Familienleistungen, die ein Mitgliedstaat Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in diesem Mitgliedstaat wohnen, müssen gemäß der Verordnung also exakt jenen entsprechen, die er Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Da die Preisniveauunterschiede, die innerhalb des die Leistungen erbringenden Mitgliedstaats bestehen, nicht berücksichtigt werden, rechtfertigen es die Kaufkraftunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten nicht, dass ein Mitgliedstaat dieser zweiten Personengruppe Leistungen in anderer Höhe gewährt als der ersten Personengruppe.«

Schlussfolgerung seitens des EuGH: »Vor diesem Hintergrund stellt der Gerichtshof fest, dass die streitige österreichische Regelung, soweit sie eine Anpassung der Familienleistungen nach Maßgabe des Wohnstaats der Kinder des Begünstigten vornimmt, gegen die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verstößt.« (Hervorhebung im Original)

Der EuGH weist darauf hin, dass nach dem Unionsrecht im Bereich der sozialen Sicherheit jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit der Wanderarbeitnehmer unzulässig ist. Da der streitige Anpassungsmechanismus aber nur zur Anwendung kommt, wenn das Kind nicht in Österreich wohnt, betrifft er im Wesentlichen die Wanderarbeitnehmer, da insbesondere ihre Kinder möglicherweise in einem anderen Mitgliedstaat wohnen.

Die von diesem Mechanismus betroffenen Wanderarbeitnehmer kommen großteils aus Staaten, in denen die Lebenshaltungskosten niedriger sind als in Österreich, weshalb sie Familienleistungen sowie soziale und steuerliche Vergünstigungen in geringerer Höhe erhalten als österreichische Arbeitnehmer.

»Dieser Anpassungsmechanismus stellt daher eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die jedenfalls nicht gerechtfertigt ist. Der Wanderarbeitnehmer ist nämlich in gleicher Weise wie ein inländischer Arbeitnehmer an der Festsetzung und Finanzierung der Beiträge, die der Familienbeihilfe und den Steuervergünstigungen zugrunde liegen, beteiligt, ohne dass es insoweit auf den Wohnort seiner Kinder ankommt. Folglich verstößt die streitige österreichische Regelung auch gegen die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union

Fazit: »Unter diesen Umständen gibt der Gerichtshof der von der Kommission erhobenen Vertragsverletzungsklage in vollem Umfang statt.« Falls Österreich dem Urteil nicht nachkommt, kann die Kommission erneut klagen und eine Geldstrafe beantragen.

Und was wird an Reaktionen aus Österreich berichtet? Mittlerweile ist dort ja die das Verfahren auslösende ÖVP/FPÖ-Regierung ersetzt worden durch eine Koalition aus ÖVP und Grünen.

»Das EU-Höchstgericht erklärte die Indexierung der Familienbeihilfe für rechtswidrig, die ÖVP zeigt sich nur mäßig beeindruckt – und ärgert damit die Grünen«, so dieser Artikel: Zwist um EuGH-Urteil: Grüner Zorn über Sachslehners Kommentare. Erkennbar wird eine gewisse Bockigkeit angesichts des EuGH-Urteils seitens der ÖVP: »Die Reaktion der ÖVP: Für die türkise Generalsekretärin Laura Sachslehner „ändert das EuGH-Urteil nichts“ an ihrem Kampf „für mehr Gerechtigkeit im Beihilfensystem“. Man respektiere zwar das Urteil, lasse sich aber „vom Kurs nicht abbringen“. Dass Höchstgerichte auch schon Einbußen bei der Mindestsicherung bei fehlenden Deutschkenntnissen oder das Kopftuchverbot in der Schule als rechtswidrig erkannt haben, bringt die ÖVP offenbar nicht zum Umdenken ob der Verfassungsmäßigkeit ihrer Politik; Sachslehner spricht vielmehr davon, dass „zentrale Integrationsvorhaben (…) an Höchstgerichten gescheitert sind“.«

Die Antwort aus den Reihen des grünen Koalitionspartners: »Beim Koalitionspartner kommt das gar nicht gut an. „Wer die Urteile unserer Höchstgerichte ignoriert und die Rechtstaatlichkeit in Frage stellt, hat in der österreichischen Politik nichts zu suchen“, kommentierte die Wiener Landtagsabgeordnete Berivan Aslan einen Tweet von Sachslehner. Schon zuvor hatte die grüne Familiensprecherin Barbara Neßler die Indexierung der Familienbeihilfe als „himmelschreiende Ungerechtigkeit“ bezeichnet und dem Koalitionspartner ausgerichtet: „Für mich ist klar: Jedes Kind ist gleich viel wert. Und eines zeigt das EuGH-Urteil auch: Populismus, der sich willkürlich gegen eine Gruppe richtet, erweist sich als kein guter Ratgeber für Entscheidungen mit einer derartigen Tragweite.“«

Und Österreich drohen nun Nachzahlungen. Die Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) hat bereits Rückstellungen von 220 Millionen Euro für mögliche Nachzahlungen gebildet. Ein Gesetzesvorschlag zur Erstattung der Differenzbeträge werde so schnell wie möglich an das Parlament übermittelt, heißt es in einer ersten Stellungnahme, so diese Meldung: EuGH: Indexierung der Familienbeihilfe in Österreich rechtswidrig. »Das Urteil sei zur Kenntnis zu nehmen, Raab halte aber weiter daran fest, dass eine Anpassung der Familienbeihilfe an den Wohnort gerecht wäre. „Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist selbstverständlich zur Kenntnis zu nehmen. Dessen ungeachtet bin ich weiterhin der Ansicht, dass eine Anpassung der Familienleistungen für Kinder, die im Ausland leben, an die dortigen Lebensumstände nur fair wäre. Der EuGH hat nun anders entschieden und das ist zu akzeptieren.“«

Total bockig zeigt sich die nunmehr oppositionelle FPÖ, die einfach nicht wahrhaben will, dass auch Österreich unter das EU-Recht fällt: »Die FPÖ gibt sich kritisch. Sie fordert, dass Österreich künftig keinen Cent an Familienbeihilfe wegen Kindern bezahlen sollte, die nicht in Österreich wohnhaft sind. „Es braucht da keine Anleitung aus Brüssel“, so FPÖ-Bundesparteiobmann Klubobmann Herbert Kickl.«

Aber es gibt auch viele positive Reaktionen auf die Entscheidung des EuGH: »Sozialminister Johannes Rauch von den Grünen begrüßte das Urteil am Donnerstag. Nicht nur würde die Klarstellung des EuGH die Situation von Menschen in oft schlecht bezahlten Pflegeberufen verbessern, auch der Arbeitsmarkt würde davon profitieren. Die Arbeiterkammer und die Caritas zeigen sich ebenfalls erfreut über das Urteil des EuGH und betonen die damit einhergehenden Erleichterungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Ausland.«