„EU-Ausländer“ ist so ein Begriff, über den man mal, wenn genügend Zeit vorhanden wäre, gründlich nachdenken müsste. Ist nicht die EU für uns alle eigentlich „Inland“? Denn wir haben ja nicht nur einen schnöden Binnenmarkt, der das Gemeinsame auf Container, (noch) deutsche Autos oder Kapitalströme begrenzt, die ohne Grenzen hin und her zirkulieren können. Sondern beispielsweise auch Arbeitnehmerfreizügigkeit. Von der wird gerade in den wohlhabenderen Ländern der EU bekanntlich gerne Gebrauch gemacht, wenn es darum geht, Jobs mit lebenden Menschen zu besetzen, man die aber unter der eigenen Bevölkerung aus welchen Gründen auch immer nicht (mehr) findet. Diese Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland, das eigentlich Inland ist, bekommen (oftmals branchen-, aber durchaus auch in dem einen oder anderen Fall ausbeutungsbedingt) niedrige Löhne – auf die sie dann Steuern und Sozialabgaben zahlen müssen. Und spiegelbildlich haben sie dann auch Anspruch auf die unterschiedlichen staatlichen Leistungen. Wie beispielsweise auf das Kindergeld. Auch wenn die Kinder derjenigen, die hier arbeiten, nicht mitgekommen, sondern im Heimatland geblieben sind.
Da geht dann die erste Erregungswelle los, wie wir es seit Jahren bei uns in aller Regelmäßigkeit erleben müssen. Wieso bekommen „die“ für Kinder, die in Rumänien, Bulgarien oder Polen leben, „unser“ deutsches Kindergeld, wo doch die Lebenshaltungskosten in diesen Ländern niedriger sind? Erst vor kurzem wurden wir erneut Zeugen einer solchen Welle (vgl. dazu ausführlich den Beitrag Und jährlich grüßen die Zuckungen der Erregungsgesellschaft. Einige Anmerkungen zum Thema Kindergeld, „wir“ in Deutschland und „die“ im Ausland vom 10. August 2018).
Und dann wird ebenfalls sehr gerne und immer wieder die Forderung in die öffentliche Debatte geworfen, man müsse den (angeblichen) „Missbrauch“ des Kindergeldes dadurch eindämmen, dass man denen, die ihre Kinder in ihrem Heimatland lassen, ein entsprechend der dortigen Verhältnisse angepasstes deutlich niedrigeres Kindergeld überweist. „Indexierung“, so heißt hier die technokratische Abbildung dieses Ansatzes. In Deutschland wollen das eigentlich viele, sogar in der Bundesregierung, vor allem in Bayern. Und in unserem Nachbarland Österreich hat die neue Koalition aus ÖVP und FPÖ mit einem guten Riecher für den populistischen Resonanzboden die „Indexierung“ nicht nur gefordert, sondern bereits gesetzgeberisch mit Wirkung seit Anfang des Jahres umgesetzt – mit der Folge, dass die EU-Kommission ein Verfahren wegen der Indexierung der Familienbeihilfe eingeleitet hat. Vgl. dazu und generell zur Indexierung ausführlich den Beitrag Kindergeld hier, Familienbeihilfe dort – und viele möchten „indexieren“. Also weniger Geld für die Kinder, die vor allem in Osteuropa leben. Die EU-Kommission will das verhindern vom 24. Januar 2019.
Und die „Missbrauchs-Chiffre“, die dem Kindergeld, das ins Ausland überwiesen wird, a) trotz aller mehr als überschaubaren quantitativen Bedeutung und b) der vielen unterschiedlichen Fallkonstellationen, die das verständlich erscheinen lassen, mittlerweile zugeschrieben wird, entspringt auch der in Deutschland auf den ersten Blick scheinbar sehr plausiblen Verbindung der Kindergeldzahlungen mit der Armutszuwanderung aus bestimmten EU-Mitgliedsstaaten, namentlich Rumänien und Bulgarien, nach Deutschland, vor allem in bestimmte Städte, die über immer noch billigen Wohnraum verfügen wie beispielsweise im Ruhrgebiet. Das ist ein echtes Aufreger-Thema und bewegt auch die Medien: Kriminelle Kindergeldgeschäfte: Städte kämpfen gegen organisierten Betrug, so ist beispielsweise eine Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks vom 24. Januar 2019 überschrieben. Doch sogleich wird in der Einleitung erkennbar, dass es so einfach nicht ist: »Südosteuropäische Banden beziehen Kindergeld aus Deutschland für Kinder, die es gar nicht gibt. Manche Kommunen sind besonders stark betroffen. Andererseits ist die Schadenssumme im Verhältnis sehr gering. Und es gibt zahlreiche Arbeitskräfte, die Steuern zahlen und zurecht Kindergeld beziehen.«
Vor diesem Hintergrund muss man mangelndes Interesse nicht befürchten, wenn in den Medien die Frage aufgeworfen wird: Wird Kindergeld für EU-Ausländer eingeschränkt? Eine Bejahung werden sich viele wünschen. »Darf die Leistung bei Arbeitslosigkeit eingeschränkt werden? Der Europäische Gerichtshof fällt heute ein Urteil zu diesem Thema«, erfahren wir hier von Wolfgang Landmesser. »Heute entscheidet der Europäische Gerichtshof einen Fall aus Irland. Einem Rumänen, der dort seinen Job verlor, wurde das Kindergeld gestrichen. Er klagte dagegen.« Der Beitrag wurde um 01:39 Uhr online gestellt und da waren selbst die EuGH-Richter höchstwahrscheinlich noch im oder kurz vor dem Tiefschlaf. Aber am Vormittag nicht mehr, denn da haben sie ihre Entscheidung verkündet und die Mitteilung über das Urteil ist mal wieder lang, aber eben auch aussagefähig:
➔ Gerichtshof der Europäischen Union: Das Unionsrecht verlangt nicht, dass eine Person eine Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ausübt, um dort Familienleistungen für ihre Kinder zu beziehen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Urteil in der Rechtssache C-322/17 Eugen Bogatu / Minister for Social Protection, Luxemburg, 07.02.2019
Zudem gibt es noch einen Folgesatz, der gleich unter die Überschrift gesetzt wurde, damit ihn auch alle lesen: »Zudem ist der entsprechende Anspruch auf Familienleistungen nicht auf den Fall beschränkt, dass der Antragsteller zuvor eine beitragsabhängige Leistung erhalten hat.«
Wie immer in solchen juristischen Angelegenheiten zuerst der Blick auf den Sachverhalt, der dem Verfahren zugrunde lag:
»Im Januar 2009 beantragte Herr Eugen Bogatu, ein seit dem Jahr 2003 in Irland wohnender rumänischer Staatsangehöriger, bei den irischen Behörden die Gewährung von Familienleistungen für seine beiden Kinder, die in Rumänien wohnen.
Herr Bogatu übte von 2003 bis 2009 eine Beschäftigung in Irland aus. Nachdem er im Jahr 2009 seinen Arbeitsplatz verloren hatte, bezog er eine beitragsabhängige Leistung bei Arbeitslosigkeit (2009 – 2010), dann eine beitragsunabhängige Leistung bei Arbeitslosigkeit (April 2010 – Januar 2013) und schließlich eine Leistung bei Krankheit (2013 – 2015).«
Die irischen Behörden teilten dem Herrn Bogatu mit, dass sie seinem Antrag auf Familienleistungen stattgeben werden, außer im Hinblick auf den Zeitraum von April 2010 bis Januar 2013. Wieso für diese Zeit nicht? »Diese Weigerung wurde damit begründet, dass der Antragsteller in diesem Zeitraum ihrer Ansicht nach keine der Voraussetzungen erfüllt habe, die ihn zum Bezug von Familienleistungen für seine in Rumänien wohnenden Kinder berechtigten, da er in Irland weder eine Beschäftigung ausgeübt noch eine beitragsabhängige Leistung bezogen habe.«
Dagegen hat der Mann geklagt und landete schließlich vor dem High Court (Hoher Gerichtshof der Republik Irland). Der nun wandte sich an den EuGH und wollte von dieser Instanz wissen, »ob die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1 dahin auszulegen ist, dass für den Anspruch einer Person, deren Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, auf Familienleistungen in dem Mitgliedstaat, in dem diese Person wohnt, Voraussetzung ist, dass sie eine Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat ausübt oder dort aufgrund oder infolge einer Beschäftigung eine Geldleistung bezieht.«
Und die haben jetzt eine Antwort aus Luxemburg erhalten:
In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof erstens fest, dass die Verordnung bestimmt, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob sie in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Sie verlangt daher nicht, dass eine solche Person über eine besondere Stellung und insbesondere über die Stellung eines Arbeitnehmers verfügt, um Anspruch auf Familienleistungen zu haben.
Außerdem weist der Gerichtshof darauf hin, dass aus dem Kontext und der Zielsetzung der Verordnung hervorgeht, dass die Familienleistungen für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, aus mehreren Gründen zu gewähren sein können und nicht nur aufgrund einer Beschäftigung.
Schließlich betont der Gerichtshof, dass die Verordnung das Ergebnis einer Gesetzesentwicklung ist, die insbesondere den Willen des Unionsgesetzgebers widerspiegelt, den Anspruch auf Familienleistungen auf andere Kategorien von Personen als nur auf Arbeitnehmer zu erstrecken.
Und es gibt noch eine zweite Dimension, die von den EuGH-Richtern herausgestellt wird:
»Zweitens stellt der Gerichtshof fest, dass die Verordnung den Anspruch auf Bezug von Familienleistungen für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, nicht von dem Erfordernis abhängig macht, dass der Antragsteller Geldleistungen aufgrund oder infolge einer Beschäftigung bezieht.«
Fazit: Mit der heutigen Entscheidung hat der EuGH unmissverständlich deutlich gemach, dass laut EU-Recht Familienleistungen auch für Angehörige mit Wohnsitz in anderen EU-Staaten in voller Höhe zu zahlen seien.
Das ist natürlich auch für das gegen Österreich eingeleitete Verfahren wegen der Indexierung der Familienbeihilfe von Relevanz: Der EuGH schreibt explizit, dass man Anspruch auf Leistungen für die im Ausland lebenden Familienangehörigen hat, „als ob sie in diesem Mitgliedstaat wohnen würden“. Der Arbeitsrechtler Franz Marhold schließt daraus: „Der Europäische Gerichtshof bleibt bei seiner bisherigen Judikatur. Das ist eine weitere Bestätigung für die Unzulässigkeit der Indexierung der Familienbeihilfe“, so wird Marhold in dem Artikel Arbeitslosen steht Kindergeld in gesamter EU zu zitiert.
Das wird einigen dort und auch in Deutschland nicht gefallen. Aber der EuGH hat es so entschieden.