Einige Workaholics sind unter uns. Eine Abschätzung der Verbreitung von suchthaftem Arbeiten in Deutschland

Und schon sind wir mittendrin in einem scheinbaren Generationenkonflikt, wenn wir sowas zu lesen lesen bekommen: »Viele junge Menschen verweigern sich der 40-Stunden-Woche. Manch einer hält uns deshalb für vergnügungssüchtig. Dabei wehren wir uns lediglich gegen eine Arbeitsmoral, die krank macht«, schreibt Lea Schönborn unter der Überschrift Teilzeit ist nicht gleich Aperol-Zeit. Sie zählt sich zu dieser „Generation Z“, also den nach 1995 Geborenen. Denen eile, so die Autorin, »auf dem Arbeitsmarkt der Ruf voraus, sich vor allem um ihre Work-Life-Balance zu sorgen.« Und sie zitiert: »Studien belegen: Der jungen Generation ist freie Zeit mindestens genauso wichtig wie Erfolg im Job, die Work-Life-Balance hat bei der Wahl eines Arbeitgebers einen hohen Stellenwert … Jugendliche wollen ungern Überstunden für die Karriere ableisten und genauso wenig am Wochenende arbeiten – sogar, wenn sie dafür einen entsprechenden Ausgleich bekommen würden. Und ja, auch Teilzeit finden viele von uns attraktiv.« Aber, so Schönborn, das bedeute nicht, dass man faul sei, sondern: »Stattdessen heißt es einfach nur, dass wir unser Wohlbefinden priorisieren – bevor es zu spät ist.« Sie schreibt dann weiter von einem angeblichen „Missverständnis zwischen den Generationen“.

Und wer ist die andere Generation? Man ahnt es schon, vor allem diese Baby Boomer: »Viele Menschen jenseits der 40 haben hart geschuftet, um sich ihre Position zu verdienen. Daraus folgern sie: Die Neuen auf dem Arbeitsmarkt müssen mindestens genauso hart arbeiten wie wir, damit sie es verdient haben, irgendwann – wenn sie älter sind –, ein gutes Leben zu führen.« Und schnell werden abgrenzende Zerrbilder an die Wand geworfen von „den Älteren“: »Unsere Werte haben sich verschoben im Vergleich zu denen der vorherigen Generationen. Wir brauchen keine Statussymbole, keine fetten Autos und ausladenden Vorstadtvillen.« Man muss nicht besonders begabt sein, um zu verstehen, dass die unterstellten Werte sicher nur für einen Teil der Älteren gelten und ebenfalls übergriffig ist es, „die“ Jüngeren unter so einem Dach zu vereinen: »Wir wollen in der Gegenwart leben. Ich will mich nicht aus Liebe zum Job oder um der Weltrettung willen in den Burn-out arbeiten.« Und sie schlussfolgert: »Wir Jungen haben einen Vorsprung, weil wir wissen, wie wir nicht leben wollen. Wir haben gesehen, wohin es führt, wenn sich unsere Eltern kaputt arbeiten: Burn-out und sehnsüchtiges Warten auf die Rente. Deshalb wollen wir lieber jetzt glücklich sein.«

Nein, hier soll jetzt keine Grundsatzdebatte eröffnet werden, ob das nicht ein sehr oberflächlicher, mit zahlreichen Klischees gepflasterter Blick auf einen kleinen Teil der Welt ist, den man sich leisten können oder der von anderen mit ihrer Arbeit ermöglicht werden muss.

Hier soll stattdessen vor dem Hintergrund der vorgetragenen Klage, was „zu viel Arbeit“ auslösen kann, der Blick gerichtet werden auf Ergebnisse einer neuen Studie, die sich mit einer Gruppe beschäftigt, die gleichsam Rekorde aufstellt, wenn es um Arbeitsvolumina geht – und die tatsächlich neben ihrer Funktionalität für eine lange und intensive Erwerbsarbeit ausgerichteten Gesellschaft oftmals auch einen individuellen Tribut zahlen muss für das, was sie geleistet haben, wie das bei vielen anderen Suchterkrankungen auch der Fall ist, bei dem langandauernder Konsum zu schweren körperlichen Schäden führt bzw. führen kann.

Wie verbreitet ist suchthaftes Arbeiten in Deutschland?

Rund ein Zehntel der Erwerbstätigen in Deutschland arbeitet suchthaft, so eine neue Studie auf Basis repräsentativer Daten von 8.000 Erwerbstätigen. Die findet man im Original hier:

➔ Beatrice van Berk, Christian Ebner und Daniela Rohrbach-Schmidt (2022): Wer hat nie richtig Feierabend? Eine Analyse zur Verbreitung von suchthaftem Arbeiten in Deutschland, in: Arbeit, Nr. 3/2022, S. 257-282

Diese Studie untersucht mit dem Phänomen des suchthaften Arbeitens ein bis heute für Deutschland nur schwach erforschtes Thema, so die Wissenschaftler. So sei kaum bekannt, wie verbreitet arbeitssüchtiges Verhalten in Deutschland ist oder welche sozialen Gruppen von Erwerbstätigen in besonderem Maße davon betroffen sind. Auf Basis repräsentativer Daten für Deutschland aus dem Jahr 2017/18 und der Nutzung einer international etablierten Arbeitssuchtskala (Dutch Work Addiction Scale, DUWAS) kann gezeigt werden, dass suchthaftes Arbeiten kein Randphänomen darstellt.

➔ In der Studie wird von „suchthaften Arbeiten“ gesprochen, der Bergriff „Workaholic“ wird bewusst vermieden – ein Terminus, der auch in Deutschland verwendet wird, Menschen zu beschreiben, die nicht von ihrer Arbeit lassen können. Zum Ursprung dieses Kunstbegriffs: Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema suchthaftes Arbeiten gehen auf Beobachtungen von Oates (1971) zurück. Er beschrieb, dass einige Menschen ein ähnliches Verhältnis gegenüber ihrer Erwerbsarbeit aufweisen wie Alkoholiker zum Alkohol, und schuf daher den Begriff des ‚workaholism‘. Warum wird der von Berk et al. gemieden? »Nicht selten schwingt bei der Verwendung dieses Begriffs eine gewisse Bewunderung für die Leistungsbereitschaft, Motivation und Aufopferung der Workaholics mit.« Sie haben aber eine andere Perspektive: »Hingegen wird suchthaftes Arbeiten (Work Addiction) in der Regel als ein Syndrom verstanden, das ähnlich wie bei anderen Abhängigkeiten und Süchten mit negativen Folgen für Psyche und Wohlbefinden einhergehen kann.«

In einer Zusammenfassung werden die folgenden Erkenntnisse herausgestellt:

»Von suchthaftem Arbeiten Betroffene arbeiten nicht nur sehr lang, schnell und parallel an unterschiedlichen Aufgaben, sie können auch nur mit schlechtem Gewissen freinehmen und fühlen sich oft unfähig, am Feierabend abzuschalten und zu entspannen. Führungskräfte zeigen überdurchschnittlich oft Symptome suchthaften Arbeitens … Frühmorgens ins Büro und spätabends wieder raus, zu Hause noch einmal die Mails checken, einfach nicht loslassen können: Suchthaftes Arbeiten ist kein Randphänomen, das nur eine kleine Gruppe von Führungskräften betrifft. Tatsächlich sind exzessives und zwanghaftes Arbeiten in allen Erwerbstätigengruppen verbreitet.«

Die Ergebnisse der Studie sind an der einen oder anderen Stelle angesichts der Stereotypen, die man vor Augen hat, durchaus überraschend: »Wer bei IT-Berufen etwa an Leute denkt, die bis spät in die Nacht beruflich bedingt vor dem Computer hocken und IT-Probleme lösen, sieht sich getäuscht: Tatsächlich ist der Berufsbereich Informatik, Naturwissenschaft, Geografie am wenigsten betroffen.« Hier liegt der Anteilswert bei nur 6 Prozent.

Und wo ist es besonders ausgeprägt? Auch hier ein auf den ersten Blick überraschender Befund: »Am häufigsten neigen Menschen in Land-, Forst-, Tierwirtschaft und Gartenbau zu suchthaftem Arbeiten.« Hier haben die Forscher 19 Prozent arbeitssüchtige Erwerbstätige identifiziert.

»In weiteren untersuchten Wirtschaftsbereichen, unter anderem Verkehr/Logistik, Produktion/Fertigung, Kaufmännische Dienstleistungen/Handel/Tourismus oder Gesundheit/Soziales/Erziehung liegen die Werte zwischen 8 und 11 Prozent.«

Eine schwierige Abgrenzungsfrage: Wann werden aus engagierten Erwerbstätigen solche, deren Leben von der Arbeit dominiert wird?

»Heute arbeitet die Forschung mit verschiedenen Kriterienkatalogen. International verbreitet ist etwa die Dutch Work Addiction Scale, die auch van Berk, Ebner und Rohrbach-Schmidt als Befragungsinstrument in ihrer Erhebung genutzt haben. Suchthafte Arbeit lässt sich demnach anhand von zwei Dimensionen bestimmen. Erstens muss die jeweilige Person exzessiv arbeiten, das heißt: lange arbeiten, schnell arbeiten und verschiedene Aufgaben parallel erledigen. Der zweite Faktor als Voraussetzung für suchthaftes Arbeiten ist die „Getriebenheit“ der Erwerbstätigen: hart arbeiten, auch wenn es keinen Spaß macht, nur mit schlechtem Gewissen freinehmen, Unfähigkeit zur Entspannung am Feierabend, also „Entzugserscheinungen“ in der erwerbsarbeitsfreien Zeit.«

➞ Die Auswertung stützt sich auf eine Befragung von rund 8.000 Erwerbstätigen in den Jahren 2017 und 2018. Zu jeder der beiden Dimensionen von Arbeitssucht wurden den Interviewten fünf Aussagen präsentiert, zu denen sie, mit mehreren Abstufungen, Zustimmung oder Ablehnung äußern konnten. Etwa „Ich bin stets beschäftigt und habe mehrere Eisen im Feuer“ oder „Ich spüre, dass mich etwas in mir dazu antreibt, hart zu arbeiten“.

Der Untersuchung von Berk et al. (2022) zufolge arbeiten 9,8 Prozent der Erwerbstätigen suchthaft. Weitere 33 Prozent arbeiten exzessiv – aber nicht zwanghaft. 54,9 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten dagegen „gelassen“.

Wie immer stellt sich die Frage: Ist das nun viel oder wenig? Im internationalen Vergleich sind die in Deutschland arbeitenden Menschen offensichtlich unauffällig:

»Mit rund 10 Prozent Arbeitssüchtigen erreicht Deutschland einen Wert, der nah an den Ergebnissen ähnlicher Studien aus anderen Ländern liegt. So kamen Forschende in den USA ebenfalls auf 10 Prozent und in Norwegen auf gut 8 Prozent. Aus dem Rahmen fällt Südkorea, wo eine Untersuchung einen Anteil von fast 40 Prozent ergab, allerdings mit einer etwas weiter gesteckten Definition von Arbeitssucht.«

»Unter Selbstständigen liegt die Workaholic-Quote bei 13,9 Prozent. Dies könnte auch einer der Gründe für den hohen Anteil in landwirtschaftlichen Berufen sein, denn in dieser Branche sind viele Erwerbstätige selbstständig.«

Und ein weiterer Zusammenhang wird berichtet: »Zwischen suchthaftem Arbeiten und Führungsverantwortung besteht „ein statistisch höchst signifikanter Zusammenhang“. Führungskräfte sind zu 12,4 Prozent arbeitssüchtig, andere Erwerbstätige nur zu 8,7 Prozent. „Unter den Führungskräften ist suchthaftes Arbeiten zudem umso stärker ausgeprägt, je höher die Führungsebene ist.“ Die obere Ebene kommt auf einen Anteil von 16,6 Prozent. In vielen Betriebskulturen werden an Führungskräfte wahrscheinlich Anforderungen gestellt, die „Anreize für arbeitssüchtiges Verhalten“ setzen, vermuten die Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler.«