Sozialhilfe in Österreich: Eine Hilfe, die „langsamer“ und „weniger effizient“ ist? Ein Gesetz, das vor Hilfe abschottet?

Österreich wird seit einiger Zeit regiert von einer „türkis-grünen“ Bundesregierung. Davon hatte man in unserem Nachbarland eine „türkis-blaue“ Regierung (also eine Koalition aus ÖVP und FPÖ), damals noch unter Führung des seit Ende des vergangenen Jahres privatisierten Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP). Über eines der Prestigeprojekte der damaligen Koalition wird so berichtet: »Nach ausgiebigen Klagen über „Zuwanderung in das Sozialsystem“ und angeblich arbeitsfeindlich hohe Leistungen ersetzten ÖVP und FPÖ die bestehende Mindestsicherung 2019 durch ein neues Sozialhilfe-Grundsatzgesetz. Die Koalition drehte dabei das Prinzip um: Statt Mindeststandards gelten nun Höchstlimits … Der Verfassungsgerichtshof hob zwar zwei umstrittene Vorschriften – mit der Kinderzahl sinkende Leistungen, Kopplung an Sprachkenntnisse – auf, doch einige Verschärfungen blieben. Bei der notwendigen Umsetzung in eigene Gesetze genießen die Bundesländer allerdings einen gewissen Spielraum – und wie stark die neuen Vorgaben eine Verschlechterung bedeuten, hängt auch von der früheren jeweiligen Regelung ab. Sechs Länder haben ein Sozialhilfegesetz beschlossen, Tirol, Wien und das Burgenland sind säumig.«

Über welche Größenordnung sprechen wir hier? 2020 bezogen laut Statistik Austria insgesamt 260.114 in Österreich Sozialhilfe oder Mindestsicherung, 37 Prozent davon waren Kinder. Mit 88.492 ist die Gruppe an Menschen aus Drittstaaten in etwa so groß wie jene mit österreichischer Staatsbürgerschaft (87.583), die restlichen kommen aus der EU oder sind staatenlos.

Die neue Sozialhilfe habe die Verfahren weder vereinfacht noch zu einer schneller und effizienter gewährten Hilfe geführt: Das sagen mehr als 80 Prozent jener Funktionsträger, die Sozialhilfebezieher unterstützen. Ein Beispiel:

»Kein Einkommen, keine Krankenversicherung, das Konto im Minus: M. lebte nur noch von Spenden via Hilfsorganisationen. Doch die Behörde in Oberösterreich habe den Antrag auf Sozialhilfe drei Monate liegen gelassen, erzählt Birgit Lechner, Erwachsenenvertreterin des geistig beeinträchtigten und psychisch kranken 20-Jährigen. Als nach einer Beschwerde weitere vier Wochen verstrichen seien, sei sie selbst aufs Amt gegangen – und so lange geblieben, bis die willige, aber überlastete Bearbeiterin den Antrag abgefertigt habe.«

Das Beispiel ist diesem Artikel entnommen: Vernichtendes Zeugnis für Sozialhilfe nach türkis-blauem Vorbild. Solche Erfahrungen seien kein Einzelfall. Herausgefunden hat dies die österreichische Armutskonferenz, indem sie Fachleute mit Praxiserfahrung befragt hat; vorwiegend waren es Sozialarbeiter sowie Juristen.

Überschrieben haben die ihre Pressemitteilung so: Sozialhilfestudie: Hilfe jetzt „langsamer“ und „weniger effizient“. Die Erhebung „Die im Dunkeln sieht man nicht..“ geht den Auswirkungen der neu eingeführten „Sozialhilfe“ nach – dort, wo der Beobachtungszeitraum bisher am längsten ist: in Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg. Was haben die herausgefunden?

»Es zeigt sich: Die Folgen für Menschen mit Behinderungen, Wohnen, Frauen in Not, Gesundheit, Kinder und Familien sind massiv. Die Verschlechterungen treffen alle. Zu besonders drastischen Kürzungen kommt es bei Menschen mit Behinderungen, deren Unterhaltsforderungen jetzt österreichweit als Einkommen gewertet werden. Kinder sind von Kürzungen gravierend betroffen und vielfach in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Die Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft hat sich mit der Sozialhilfeeinführung stark erhöht. Eine weitere massive Verschlechterung betrifft die Leistungen fürs Wohnen, auch die Wohnbeihilfe wird jetzt von den zuständigen Behörden einbehalten. Durch die Einführung der Sozialhilfe wird langsamer und wirkungsloser Hilfe gewährt. „Weniger schnell“ und „weniger effizient“ lauten dazu die Rückmeldungen aus der Befragung.«

Die Studie im Original mit den Ergebnissen der Befragung von 150 Experten findet man hier:

➔ Armutskonferenz (2022): „Die im Dunkeln sieht man nicht …“. Eine Erhebung zur „Sozialhilfe“ aus Sicht von Expert*innen der sozialen Praxis. Schatten- und Wahrnehmungsbericht der Armutskonferenz, Wien: Die Armutskonferenz. Österreichisches Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung, 2022

Im Vergleich zu der auch nicht rosigen Welt vor der „Sozialhilfe“ dominieren überall Verschlechterungen das Bild, von dem berichtet wird:

»Eine Verbesserung erkennt die Mehrheit der Befragten nirgendwo. In Salzburg stellen 74 Prozent fest, dass sich die von der Sozialhilfe umfassten Geld- und Sachleistungen im Vergleich zur Mindestsicherung verschlechtert haben, in Oberösterreich sind es 71 Prozent, in Niederösterreich 68 Prozent. Am moderatesten fielen die Einschnitte demnach in Vorarlberg aus, wo aber immer noch 54 Prozent einen Abstieg konstatieren.«

Ein weiterer wichtiger Befund: »Die Praxis sei strenger, der Ton rauer geworden, sagt Carmen Bayer von der Salzburger Armutskonferenz – das gelte selbst dann, wenn das Bundesgesetz dies nicht dezidiert vorschreibt. So habe auch die Freigiebigkeit bei jenen Extraleistungen abgenommen, die Behörden ohne Rechtsanspruch in Härtefällen gewähren: 70 Prozent erkennen eine Verschlechterung, nur knappe acht Prozent eine Verbesserung.«

In dem Beitrag Ein Gesetz, das vor Hilfe abschottet findet man diesen Hinweis: »Nach Personengruppen befragt, zeigt die Erhebung der Armutskonferenz, dass sich das Leben von Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft mit der Sozialhilfe deutlich verschlechtert hat: Das sagten 78 Prozent, 17 Prozent sahen keinen Unterschied, 5 Prozent eine Verbesserung. Es ist der schlechteste Wert unter allen, wobei auch die Situation von Kindern und Jugendlichen (69 Prozent), Menschen mit Behinderung (47 Prozent) und von Alleinerziehenden (46 Prozent) schlechter wurde.« Zynisch formuliert kann man bilanzieren, dass angesichts der Ausgangsposition bei der Schaffung der neuen „Sozialhilfe“ die damalige türkis-blaue Stoßrichtung Wirklichkeit geworden ist. Das Sozialhilfe-Grundatzgesetz, so wollten das seine Konstrukteure, soll eben auch „integrationspolitische und fremdenpolizeiliche Ziele“ berücksichtigen.

Manche Schlechterstellungen gingen dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) schon 2019 zu weit, etwa die niedrigen Sätze für Kinder in kinderreichen Familien oder ein Nachweis von Deutschkenntnissen (vgl. dazu VfGH, Sozialhilfe-Grundsatzgesetz: Höchstsatzsystem für Kinder und Arbeitsqualifizierungsbonus verfassungswidrig, 17.12.2019). Daraufhin musste das Gesetz entsprechend geändert werden. Einige der Verschärfungen bei der nun Sozialhilfe genannten Mindestsicherung blieben jedoch bestehen.

Zu einem „Neustart bei Sozialhilfe und Armutsbekämpfung“ fordert die Armutskonferenz Bund und Länder auf.

Nun gibt es mittlerweile keine ÖVP/FPÖ-Koalition mehr, sondern eine aus ÖVP und Grünen. Allerdings hört man aus deren Reihen zu dem hier skizzierten Thema – nichts.