Jenseits der verfassungsrechtlich akzeptierten „Bundesnotbremse“: Ein „unverzichtbarer Mindeststandard schulischer Bildungsleistungen“ als (neues) Grundrecht

Viele haben auf diese Entscheidung aus Karlsruhe gewartet: „Verfassungsbeschwerden betreffend Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite („Bundesnotbremse“) erfolglos“, so ist die Pressemitteilung zu BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 überschrieben. Das hohe Gericht hat »Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich unter anderem gegen die durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen sowie bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie richteten.« Die beanstandeten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen waren Bestandteile eines Schutzkonzepts des Gesetzgebers. Dieses diente in seiner Gesamtheit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen. Obgleich damit in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingegriffen wurde, kommt das BVerfG zu dem Prüfergebnis: Diese Maßnahmen waren »in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem Grundgesetz vereinbar; insbesondere waren sie trotz des Eingriffsgewichts verhältnismäßig.«

Aber nicht nur die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen lagen dem BVerfG zur verfassungsrechtlichen Prüfung vor, sondern auch die Schulschließungen. Dass die Schulen geschlossen wurden, ist für das Verfassungsgericht im Nachhinein erlaubt. Aber es ist deutlich zu spüren, dass diese Frage strenger gesehen wird … „Umfassende Grundrechtseingriffe wie beispielsweise durch Schulschließungen kommen nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht“, so dieser Bericht über die heutige Entscheidung: Corona-„Notbremse“ war rechtmäßig. Und gerade diese Entscheidung ist besonders interessant, weil die Verfassungsrichter in den Beschluss etwas eingebaut haben, was den einen oder anderen überrascht und hinsichtlich seiner mittel- und langfristigen Wirkungen möglicherweise von großer Bedeutung werden kann. So heißt es in dem Artikel von Gigi Deppe: »Zum ersten Mal erkennen die Richterinnen und Richter ausdrücklich ein Recht der Kinder auf schulische Bildung an.«

Das müssen wir uns genauer anschauen. Aus der Pressemitteilung „Schulschließungen waren nach der im April 2021 bestehenden Erkenntnis- und Sachlage zulässig“ zu BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21 (Hervorhebungen nicht im Originaltext):

»Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst, soweit es nicht um die berufsbezogene Ausbildung geht, die Schulbildung als Ganze, also sowohl die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten wie auch Allgemeinbildung und schulische Erziehung. Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung von Schule.«

Das muss man erst einmal sacken lassen: Mit diesem Beschluss setzen die Verfassungsrichter einen Rechtsanspruch auf „unverzichtbare Mindeststandards von Bildungsangeboten“ in die Welt. Und die Richter legen noch eine Schippe rauf – gleichsam losgelöst von dem unmittelbaren Kontext der Frage nach einer verfassungsrechtlich legitimierten Zulässigkeit, den Schulunterricht im Rahmen einer Infektionsschutzmaßnahme auszusetzen:

»Dem Anspruch auf einen Mindeststandard schulischer Bildungsleistungen können zwar ausnahmsweise überwiegende Gründe des Schutzes von Verfassungsrechtsgütern entgegenstehen, nicht jedoch die staatliche Entscheidungsfreiheit bei der Verwendung knapper öffentlicher Mittel. Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems.«

Merkposten: Die staatliche Entscheidungsfreiheit bei der Verwendung knapper öffentlicher Mittel kann den Anspruch auf einen Mindeststandard schulischer Bildungsleistungen nicht aushebeln.

Eine „Grundsicherung“ für schulische Bildungsleistungen?

Der eine oder andere wird sich sicher schon gefragt haben, was denn das hohe Gericht mit „Mindeststandard schulischer Bildungsleistungen“ meint. Ist das so eine Art „Grundsicherung“ hinsichtlich eines existenzminimalen schulischen Bildungsangebots?

Schauen wir in das Original, also BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21. Dort findet man eine genauere Herleitung, was sich die Verfassungsrichter hier gedacht haben.

Zuerst einmal wird – und das ist im Vergleich zu der bisherigen Rechtsprechung tatsächlich ein Novum – ein neues Grundrecht in die Welt gesetzt. Dazu unter Randziffer 44:

»Mit dem Auftrag des Staates zur Gewährleistung schulischer Bildung nach Art. 7 Abs. 1 GG korrespondiert ein im Recht der Kinder auf freie Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG verankertes Recht auf schulische Bildung gegenüber dem Staat.«

Ein solches Recht der Kinder auf schulische Bildung gegenüber dem Staat wurde in der bisherigen Rechtsprechung noch offengelassen, worauf das BVerfG explizit hinweist (in der Entscheidung wird dazu auf BVerfG, Beschluss vom 22.06.1977 – 1 BvR 799/76 verweisen).

»Es gewährleistet allen Kindern eine diskriminierungsfreie Teilhabe an den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulen.« Und die Privatschulen werden auch gleich mitgedacht und versorgt: »Das Recht auf schulische Bildung vermittelt ein Abwehrrecht auch insoweit, als staatliche Maßnahmen die an Privatschulen eigenverantwortlich gestaltete und den Schülern vertraglich eröffnete Schulbildung einschränken.«

Dann versuchen die Verfassungsrichter das von ihnen in die Welt gesetzte neue Grundrecht zu füllen (Randziffer 45 ff.): »Kinder und Jugendliche haben ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sie bedürfen jedoch des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können.« Nach dem Grundgesetz haben an erster Stelle diese Aufgabe.

»Doch auch Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft; der Staat muss diejenigen Lebensbedingungen sichern, die für ihr gesundes Aufwachsen erforderlich sind. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Daher ist der Staat auch insoweit, als die Pflege- und Erziehungspflicht in den Händen der Eltern liegt, gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gegenüber dem Kind verpflichtet, Sorge zu tragen, dass es sich in der Obhut seiner Eltern tatsächlich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit entwickeln kann.«

Und eine daraus resultierende Aufgabenzuschreibung an den Staat:

»Aus dem Recht des Kindes auf Unterstützung seiner Persönlichkeitsentwicklung können … auch eigene … Pflichten des Staates gegenüber den Kindern erwachsen, wo dies für ihre Persönlichkeitsentwicklung bedeutsam ist.«

Jetzt kommen wir zu dem „Recht auf schulische Bildung“ für Kinder und Jugendliche: »Das Grundgesetz … gewährleistet … eine staatliche Schulbildung als weitere Grundbedingung für die chancengerechte Entwicklung der Kinder zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit.«

»Nach Art. 7 Abs. 1 GG kommt dem Staat die Aufgabe zu, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen.«

Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen.

Mit Blick auf das Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung versuchen die Verfassungsrichter sogleich, „überschießende“ Erwartungen abzublocken: »… aus diesem Recht können keine individuellen Ansprüche auf die wunschgemäße Gestaltung von Schule abgeleitet werden; dies wäre angesichts der Vielfalt der Bildungsvorstellungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler auch schlicht nicht umzusetzen.«

Es sei »Aufgabe des Staates, die verschiedenen Bildungsfaktoren wie die Erschließung und Förderung individueller Begabungen, die Vermittlung von Allgemeinbildung und von sozialen Kompetenzen bei der Festlegung schulischer Strukturen aufeinander abzustimmen.«

Der Beschluss bleibt an dieser Stelle an der Oberfläche hängen, denn die sich nun (eigentlich) anschließende Kärrnerarbeit einer inhaltlichen Füllung dessen, was denn ein „unverzichtbarer Mindeststandard schulischer Bildungsleistungen“ genau ist, die muss noch geleistet werden. Das eröffnet Chancen, aber birgt natürlich auch Risiken. Man wird abwarten müssen, was sich aus diesem Strang noch entwickelt.