Alles ist ungleich verteilt, auch das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Aber die hängt nicht nur vom Alter ab

Wenn man über Pflegebedürftigkeit spricht, dann wird die immer gleichgesetzt mit alten Menschen, was ja auch auf den ersten Blick irgendwie einleuchtet. Denn natürlich ist die Pflegebedürftigkeit alterskorreliert, also je höher das Lebensalter, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pflegebedürftigkeit auftritt.

Nun müssen bereits an dieser Stelle einige notwendige Klärungen vorgenommen werden.

Wenn wir beispielsweise für das Jahresende 2019, für das die aktuellsten Daten der amtlichen Pflegestatistik auf Bundesebene veröffentlicht wurden, erfahren, dass es in Deutschland 4,1 Mio. Pflegebedürftige gab, von denen 80 Prozent (3,3 Mio.) zu Hause und 20 Prozent (820.000) in Pflegeheimen versorgt wurden und dass 85 Prozent der Pflegebedürftigen 65 Jahre und älter waren (34 Prozent waren sogar 85 Jahre und älter), dann sollte man auch ganz korrekt zitieren, was die Bundesstatistiker dazu schreiben: Sie berichten von Pflegebedürftigen „im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI)“. Das nun sollte man nicht als nebensächlich abtun, denn damit verbunden ist, dass man die jeweils im Gesetz und sich im Zeitverlauf auch verändernden Voraussetzungen erfüllt haben muss, um als „Pflegebedürftiger“ aufgehen zu können in den großen Zahlen, die uns immer präsentiert werden. Und wer genau als pflegebedürftig (nicht) kategorisiert wird und in welcher Ausprägung (früher waren das mal die Pflegestufen, heute sind es die Pflegegrade), das hat sich geändert in den zurückliegenden Jahren und deshalb muss man immer auch aufpassen, wenn man mit Abbildungen konfrontiert wird, in denen es um die zeitliche Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen geht.

So wird der unbefangene Beobachter bei der Abbildung über die Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen den Eindruck bekommen müssen, dass es in den vergangenen Jahren einen ganz erheblichen Anstieg der Pflegebedürftigen in Deutschland gegeben hat. So schreiben auch die Bundesstatistiker, dass es am Jahresende 2019 insgesamt 21 Prozent mehr Pflegebedürftige gegeben hat als noch Ende 2017, also nur zwei Jahre vorher. Was für ein Wachstum. Aber: „Der hohe Anstieg weist darauf hin, dass sich hier immer noch Effekte durch den seit dem 01.01.2017 weiter gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriff zeigen.“ Das muss man wissen, ansonsten werden hier Äpfel mit Birnen verglichen. Am Beginn des Jahres 2017 wurde ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff im SGB XI eingeführt, nach langen, sehr langen Bemühungen um eine Weiterentwicklung des ursprünglichen, somatisch und auf Defizite verengten Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Gesetz. Und über die neuen Pflegegrade wurden nunmehr deutlich mehr Menschen in die Kategorie „pflegebedürftig“ einsortiert, die es im alten System nicht geschafft hätten.

Das verweist zugleich auf den Aspekt, dass es auch heute noch Menschen geben kann und wird, die alltagsbezogen pflegebedürftig sind, aber die nicht als solche nach den Kriterien des SGB XI etikettiert worden sind.

Und auch eine weitere bedeutsame Information kann man der offiziellen Pflegestatistik entnehmen, hier bezogen auf die Altersdimension und die Verwendung des Begriffs Altenpflege. Im Fachdiskurs spricht man lieber von Langzeitpflege, als wolle man ablenken von den Alten in der Pflege. Aber dahinter steht die sicherlich bei den meisten Menschen verkannte Dimension, dass es zwar mehrheitlich ältere Menschen sind, die Leistungen aus der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen, aber eben nicht nur ältere Menschen. So kann man der Pflegestatistik 2019 entnehmen, dass es am Jahresende 2019 fast 161.000 unter 15-Jährige gab, die als Pflegebedürftige nach SGB XI gezählt wurden, sowie 490.000 Menschen zwischen 15 und 60 Jahre. Die allermeisten von ihnen wurden zu Hause versorgt, aber immerhin gab es auch über 35.000 unter 60 Jahre alten Menschen, die vollstationär in Pflegeheimen untergebracht waren.

Aber kommen wir zurück auf die in der ersten Abbildung dargestellte Altersverteilung der Pflegewahrscheinlichkeit. Es ist und bleibt mehr als offensichtlich, dass je älter die Menschen sind, desto höher ist das Risiko der Pflegebedürftigkeit.

Aber so wenig wie es „die“ Rentner gibt, muss man man auch bei „den“ Pflegebedürftigen einer bestimmten Altersklasse feststellen, dass es „die“ 85-Jährigen nicht gibt, die ein Pflegerisiko von x Prozent haben. Innerhalb der Altersgruppen gibt es ein Gefälle, das von anderen Faktoren bestimmt wird. Beziehungsweise man muss es genauer so formulieren: Das Pflegerisiko ist bei den einen früher, deutlich früher da. Und das hat etwas mit der Lebenslage zu tun.

Die einen trifft es früher und öfter als die anderen

„Pflegebedürftigkeit hängt nicht nur vom Alter ab und tritt auch nicht zufällig auf. Im Gegenteil: Die Pflegebedürftigkeit wird durch Gesellschaft, Einkommen und Arbeitswelt beeinflusst.“ (Johannes Geyer)

„Nicht nur Einkommen und Lebenserwartung sind in Deutschland sozial ungleich verteilt, sondern auch das Pflegerisiko“, so Peter Haan vom DIW Berlin. Für eine aktuelle Analyse hat er mit Johannes Geyer, Hannes Kröger und Maximilian Schaller Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ausgewertet.

➔ Johannes Geyer, Peter Haan, Hannes Kröger und Maximilian Schaller (2021): Pflegebedürftigkeit hängt von der sozialen Stellung ab, in: DIW Wochenbericht, Nr. 44/2021

Ärmere Personen haben ein höheres Risiko, pflegebedürftig zu werden und sind früher auf Pflege angewiesen als Menschen mit hohen Einkommen. Gleiches gilt für Arbeiter und Arbeiterinnen im Vergleich zu Beamten und Beamtinnen sowie für Menschen mit hohen Arbeitsbelastungen im Vergleich zu Personen mit niedrigen beruflichen Belastungen.

Etwas genauer heißt es in der Pressemitteilung zur neuen Studie unter der Überschrift Ärmere Menschen werden häufiger und früher pflegebedürftig als Besserverdienende: »Ende des Jahres 2020 wurden knapp 3,5 Millionen Menschen ambulant gepflegt. Dabei sind Männer, die direkt vor dem Renteneintritt weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient haben, etwa sechs Jahre früher auf die häusliche Pflege angewiesen als Männer mit mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens. Bei Frauen beträgt die Differenz rund dreieinhalb Jahre. Auch nach der beruflichen Stellung zeigen sich Unterschiede: Arbeiterinnen und Arbeiter werden durchschnittlich etwa vier Jahre früher pflegebedürftig als Beamtinnen und Beamte. Um den Einfluss von physischen und psychosozialen Arbeitsbelastungen zu untersuchen, wurde der zuletzt ausgeübten Tätigkeit ein Indexwert von eins (geringe Belastungen) bis zehn (hohe Belastungen) zugeordnet. Es zeigt sich: Männer und Frauen mit hohen beruflichen Belastungen haben durchschnittlich 4,7 beziehungsweise 2,7 weniger Lebensjahre, in denen sie nicht auf die Pflege durch andere angewiesen sind, als Personen mit niedrigen Belastungen.«

Personen mit höheren Einkommen leben länger. Das haben viele Studien in mehreren Ländern deutlich gezeigt. Hinsichtlich des Pflegerisikos zeigt sich ein sehr ähnliches Muster. Menschen mit höheren Einkommen leben nicht nur länger, sondern sie sind auch länger gesund. Das bedeutet, dass ärmere Menschen, die oft eine hohe Berufsbelastung haben oder Arbeiter sind, schneller zum Pflegefall werden. Hinsichtlich der Unterschiede arbeitet die Studie heraus, dass sich die Zahl der Jahre ab dem Alter 65, bis eine Pflegebedürftigkeit besteht, sehr stark nach dem Einkommen unterscheidet. Bei Menschen mit einem höheren Einkommen besteht etwa fünf Jahre später das Risiko einer Pflegebedürftigkeit.

Es zeigen sich auch Unterschiede nach dem Versicherungsstatus. Menschen mit einer gesetzlichen Pflegeversicherung haben deutlich weniger Lebensjahre bis zur Pflegebedürftigkeit als Menschen, die eine private Pflegeversicherung haben. Bei Männern beträgt der Unterschied über drei Jahre. Bei Frauen sind es gut zwei Jahre.

Jenseits der Analyse des Gegebenen – sozialpolitische Reformbedarfe

Die Autoren bleiben nicht stehen bei einer Aufarbeitung der Unterschiede und einer Hervorhebung der (Fortschreibung) der Ungleichheitsverhältnisse. Sie formulieren auch Weiterentwicklungsbedarf.

Es gibt doch eine sozialstaatliche Absicherung gegen das Pflegerisiko, wird der eine oder andere vortragen. Auch da muss man genauer hinschauen:

»Die gesetzliche Pflegeversicherung in Deutschland deckt nur einen Teil der Pflegekosten ab. Bei stationärer, teilstationärer und ambulanter Pflege fallen daher erhebliche private Kosten an. Informelle Pflege geht zudem häufig mit zeitlichen, physischen und psychischen Belastungen der pflegenden Angehörigen einher. Da Menschen mit geringen Haushaltseinkommen oder einer hohen Belastung im Beruf ein höheres Pflegerisiko aufweisen, treten die Kosten für diese Gruppe häufiger auf und reduzieren die ohnehin geringeren verfügbaren Einkommen.
Die bestehenden sozialen Sicherungssysteme kompensieren diese ungleichen Belastungen nur teilweise. Die gesetzliche Pflegeversicherung unterstützt die Pflegebedürftigen vor allem mit dem einkommensunabhängigen Pflegegeld und Sachleistungen. Diese Leistungen decken aber nur den geringeren Teil der Kosten. Zudem übernimmt die Sozialhilfe in Form von „Hilfe zur Pflege“ die Pflegekosten, wenn ein Haushalt die privaten Kosten nicht tragen kann.« (Geyer et al. 2021: 733)

Um die Ungleichheit, die durch das unterschiedliche Pflegerisiko entsteht, zu reduzieren, sind sozialpolitische Reformen notwendig, die die Verfasser der Studie.

➔ »Eine langfristige und nachhaltige Politik muss schon in der Erwerbsphase ansetzen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Pflegerisiko stark nach der Belastung im Beruf unterscheidet. Die Rolle der Belastung im Beruf zeigt sich auch dadurch, dass Personen, die auf Grund starker gesundheitlicher Einschränkungen früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen und Erwerbsminderungsrente beziehen, ebenfalls ein erhöhtes Pflegerisiko haben. Es ist daher wichtig schon während der Erwerbsphase anzusetzen und Konzepte zu entwickeln, die die Belastung während der Erwerbstätigkeit reduzieren, sodass das Pflegerisiko präventiv reduziert wird. Diese Ansatzpunkte werden gerade in einer alternden Gesellschaft immer wichtiger und entsprechen dem Bedürfnis der betroffenen Menschen, die länger selbstständig ihren Alltag bewältigen möchten.«

Allerdings wirken diese Maßnahmen erst langfristig. Um die Ungleichheit, die durch das unterschiedliche Pflegerisiko entsteht, kurzfristig zu reduzieren, müssen die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung ausgebaut werden und auch die Qualität und das Angebot in der Pflege erhöht werden. Diese Reformen kosten jedoch Geld. Daher könnte statt einer generellen Erhöhung der Leistung auch innerhalb des Pflegesystems umverteilt werden:

➔ »Private Zuzahlungen können beispielsweise stärker vom verfügbaren Einkommen abhängig gemacht werden. In die gleiche Richtung geht der Vorschlag einer Bürgerversicherung, also der Verbindung von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung, da das Pflegerisiko von Menschen mit privater Pflegeversicherung deutlich geringer ist als bei Menschen mit gesetzlicher Versicherung. Bei allen finanziellen Reformen muss aber auch stärker darauf geachtet werden, dass Menschen mit einem hohen Pflegerisiko, aber geringen Einkommen, die gleiche Qualität der Pflege bekommen, wie Menschen mit höheren Einkommen.« (Geyer et al. 2021: 734)