Studie: Die Covid-19-Pandemie soll den stärksten Rückgang der Lebenswartung seit dem 2. Weltkrieg verursacht haben

»Our analyses of life expectancy show that the pandemic exacted a striking toll on population health in 2020 across most of Europe, the USA and Chile. Only males and females in Denmark and Norway, and females in Finland were successful in avoiding drops in life expectancy in our cross-national comparison of 29 countries. Early non-pharmaceutical interventions coupled with a strong health-care system may help to explain some of this success.
In contrast, the USA, followed by Eastern European countries such as Lithuania, Bulgaria and Poland, experienced the largest losses in life expectancy in 2020, with larger losses in most countries for males than females.«
(➔ José Manuel Aburto et al. 2021: Quantifying impacts of the COVID-19 pandemic through life-expectancy losses: a population-level study of 29 countries, International Journal of Epidemiology, 2021, 10)

»Die COVID-19-Pandemie hat im letzten Jahr in Westeuropa zum größten Einbruch der Lebens­erwartung seit dem 2. Weltkrieg geführt. In Osteuropa wurden … die Auswirkungen durch das Ende des Ost­blocks übertroffen. Noch stärker waren die Folgen für die USA«, so das Deutsche Ärzteblatt unter der Überschrift COVID-19: Stärkster Rückgang der Lebenserwartung seit dem 2. Weltkrieg mit Bezugnahme auf die Studie von Aburto et al. 2021.

»Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind im letzten Jahr 1,8 Millionen Menschen an COVID-19 gestorben.* In vielen Ländern ist es zu einem Anstieg der Mortalität gekommen. José Manuel Aburto vom Leverhulme Centre for Demographic Science an der Universität Oxford und Mitarbeiter haben die Auswirkungen auf die Lebenserwartung ab der Geburt und der Restlebenserwartung im Alter von 60 Jahren berechnet. Die Analyse umfasst 27 Staaten in Europa sowie Chile und die USA, die ein mit Europa vergleichbares Sterberegister führen.«

*) Allerdings sollte man sich der erheblichen Streubreite der Schätzungen bewusst sein, wenn es um die (angebliche) Zahl der „an“ Corona gestorbenen Menschen geht. So findet man in dem Beitrag Corona drückt Lebenserwartung ähnlich wie Zweiter Weltkrieg diese Größenordnung: »Geschätzt mehr als 4,7 Millionen Menschen sind bisher laut einer Zählung der Johns Hopkins University weltweit an Covid-19 gestorben.« Und auch das soll angeblich noch „zu wenig“ sein: »Laut dem Global Excess Deaths Model … liegt die Sterblichkeit infolge von Covid-19 deutlich höher. Bis zu 15,2 Millionen Menschen könnten dem Virus zum Opfer gefallen sein. Laut den Berechnungen sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent zwischen 9,3 und 18,1 Millionen zusätzliche Todesopfer zu beklagen.« Die erhebliche Varianz der Werte wird so erläutert: »Vor allem in ärmeren Ländern ist die Lage teils nur schwer zu überblicken, heißt es in einer Mitteilung. Viele Menschen, die an einer Sars-CoV-2-Infektion sterben, werden nie auf die Krankheit getestet und sind in den offiziellen Zahlen nicht aufgelistet. Manche Verstorbene, die in den Statistiken auftauchen, waren dagegen durch eine andere Krankheit geschwächt und wären wohl ohnehin gestorben – sie sind also eher mit als an Covid-19 gestorben. Auch andere Ursachen wie überfüllte Krankenhäuser und eine in der Folge schlechtere medizinische Versorgung könnten ursächlich für einen Todesfall gewesen sein.«

Zurück zu dem hier im Mittelpunkt stehenden Aspekt der möglichen Auswirkungen auf die Lebenserwartung:

In einigen Nationen seien die positiven Trends der vergangenen Jahre hinsichtlich einer steigenden Lebenserwartung in kurzer Zeit aufgehoben worden, sodass die neue Studie. Das Deutsche Ärzteblatt berichtet dazu: »In allen Ländern war es in den 5 Jahren vor der Epidemie zu einem Anstieg der Lebenserwartung bei der Geburt um 1 bis 3 Monate pro Jahr gekommen. Am stärksten hatten zuletzt litauische Männer profitiert. Dort war die Lebenserwartung ab der Geburt um mehr als 5 Monate pro Jahr gestiegen – möglicherweise eine späte Erholung von den Einbußen der postsowjetischen Ära, als die Lebenserwartung vor allem in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion stark gefallen war. Diese Gewinne der letzten 5 Jahre gingen im Jahr 2020 in den meisten Ländern durch COVID-19 verlo­ren. Mit Ausnahme der Frauen in Finnland und beider Geschlechter in Dänemark und Norwegen kam es in allen Ländern zu einem Rückgang der Lebenserwartung. Bei Frauen lag die Lebenserwartung 2020 in 15 von 29 Ländern und bei Männern in 10 der 29 Länder niedriger als im Jahr 2015, das aufgrund einer ungewöhnlich starken Grippesaison bereits ein außergewöhnlich schlechtes Jahr war.«

»Frauen verloren 2020 in 8 Ländern und Männer in 11 Ländern mehr als 1 Jahr an Lebenserwartung. Einen solchen Rückgang hatte es laut Aburto in vielen westeuropäischen Ländern seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben.
In den osteuropäischen Ländern waren die Einbußen größer als nach der Auflösung des Ostblocks. In Litauen, Bulgarien und Polen verloren die Männer 2020 mehr als 1,5 Jahre. Noch größer waren die Aus­wir­kungen in den USA. Dort ging die Lebenserwartung der Männer um 2,2 Jahre zurück. Frauen verloren in den USA und Spanien mehr als 1,5 Jahre Lebenserwartung.«

Während in Europa vor allem die Sterblichkeit bei über 60-Jährigen zugenommen habe, seien in den USA vor allem Menschen im „erwerbsfähigen Alter unter 60 Jahren“ von der gestiegenen Sterblichkeit im Zusammenhang mit dem Coronavirus betroffen (speziell zur Situation in den USA vgl. diesen Artikel, der eine weitere Studie auswertet: Studie: US-Bevölkerung verlor 9 Millionen Lebensjahre im 1. Pandemiejahr).

In westeuropäischen Ländern wie Spanien, England und Wales, Italien, Belgien wurde ein solcher Rückgang der Lebenserwartung in einem einzigen Jahr zum Zeitpunkt der Geburt zuletzt während des Zweiten Weltkriegs beobachtet. Für Deutschland gab das Statistische Bundesamt an, die Sterblichkeit im Vergleich zu 2019 sei insbesondere bei über 75-jährigen Männern und Frauen angestiegen.

In Deutschland waren die Verluste vergleichsweise gering. Aburto et al. (2021) geben den Rückgang der Lebenserwar­tung (bei Geburt) mit 0,23 Jahren bei Frauen und 0,38 Jahren bei Männern an. Für 60-Jährige sank die durchschnitt­liche Restlebenserwartung bei Frauen um 0,26 Jahre und bei Männern um 0,38 Jahre.

➞ Das statistische Konstrukt Lebenserwartung bei der Geburt ist definiert als das Alter, das ein Neugeborenes durch­schnitt­lich erreichen würde, wenn die altersspezifische Mortalität künftig konstant bleibt. Bei der handelt es sich aber um ein bewegliches Ziel. Zum einen: Derzeit ist in einigen Ländern – vor allem in den USA – hinsichtlich der Lebenserwartung bei Geburt ein negativer Trend infolge der Lebensweise (Überernährung und Bewegungsmangel) zu beobachten. Auf der anderen Seite könnte der Anstieg der Lebenserwartung in anderen Ländern wieder Fahrt gewinnen, wenn die Corona-Pandemie ausläuft. Eine gegenteilige Wirkung könnten hingegen Effekte aus der Long-Covid-Problematik bei einem Teil der Erkrankten haben, die man derzeit überhaupt noch nicht abschätzen kann. Fazit: Die Zahlen sind mit großer Vorsicht zu bewerten.