Im Mahlwerk der „Häppchen“-Zuteilung: Eine „planwidrige Regelungslücke“ kann die Bundesregierung beim „Kinderfreizeitbonus“ nicht erkennen, was an der offensichtlich also geplanten Lücke nichts ändert

Es kann jedem von uns bei ehrlicher Arbeit passieren, dass man was vergisst, dass man unbeabsichtigt Fehler macht, dass man unter Zeitdruck das eine oder andere schleifen lässt und hinterher erkennen muss, dass man hätte anders handeln sollen.

So ist das auch bei der Gesetzgebungstechnik. Die vielen handwerklichen Fehler, die man als langjähriger Beobachter und Begleiter der dahinter stehenden Maschinerie in gefühlt zunehmenden Maße zur Kenntnis nehmen muss, betreffen nun aber nicht irgendwelche Außenseiter oder Einzelfälle, sondern oftmals geht es – gerade im sozialpolitischen Bereich – um (Nicht-)Leistungen für sehr viele Menschen. Menschen, die nicht nur jeden Euro, sondern jeden Cent gut gebrauchen können. Darunter sind auch viele Kinder, die in materiell hochgradig belasteten Verhältnissen aufwachsen müssen. Über die Kinderarmut, wie schlimm das alles ist und dass man viel mehr für die Kleinen machen müsste, wird gerne in den Sonntagsreden schwadroniert. Entscheidend ist, ob und was bei den Familien ankommt.

Nun muss man mit Blick auf die zurückliegenden anderthalb Corona-Jahre nicht ernsthaft mit umfangreichen Quallen nachzuweisen versuchen, dass die einkommensschwachen Haushalte und darunter eben auch die vielen mit Kindern erheblichen Einschränkungen unterworfen waren, dass es gerade für sie zahlreiche Kostensteigerungen und gleichzeitig teilweise wegfallende Entlastungsleistungen und keine Erhöhung der staatlichen Transferleistungen gegeben hat. Immer wieder wurde das von Sozialverbänden und aus den Reihen der parlamentarischen Opposition angemahnt. Und von der Regierung und den sie tragenden Parteien zurückgewiesen, als handele es sich um eines der üblichen Ping-Pong-Spielereien in den Hallen des Bundestages.

Aber hin und wieder muss man dann auch was tun und Geld in die Hand nehmen, vor allem, wenn es um Kinder geht, die berühren ähnlich wie Haustiere die Gemüter vieler potenzieller Wähler. Und wenn man schon was macht, dann sollte das von den Gesetzgebungstechnikern aber bitte so ausgestaltet werden, dass ein Strickmuster auf höchstem Komplexitätsniveau geliefert wird, mit der angeblich gar nicht bewusst intendierten Folge, dass die tatsächliche Inanspruchnahme und damit die in echt fließenden Euros überschaubar bleiben.

Nehmen wir als Beispiel den „Kinderfreizeitbonus“ (§ 71 SGB II, § 16 AsylbLG, bzw. § 6d BKGG), der wiederum Teil des Aktionsprogramms „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ der noch amtierenden Bundesregierung ist. Was um alles in der Welt soll das nun wieder sein, wird sich der eine oder andere völlig berechtigt fragen. Und die Berufszyniker werden bei der Wortgestaltung sofort annehmen, dass hier die Marketingabteilung der Regierung wieder ganze Arbeit geleistet und eine Mücke zum semantischen Elefanten aufgeblasen hat.

Schauen wir also beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) vorbei, denn die müssten doch zuständig sein, wenn es um Kinder geht. Und siehe da, mit Datum vom 5. Juli 2021 findet man eine Mitteilung an uns alle, die mit nur einem Wort überschrieben ist, nach dem wir suchen: Kinderfreizeitbonus. Und wir lesen weiter und erfahren:

»Um Familien mit geringem Einkommen zu unterstützen, bekommen diese ab August einen Kinderfreizeitbonus in Höhe von einmalig 100 Euro je Kind ausgezahlt. Der Bonus kann individuell für Ferien-, Sport- und Freizeitaktivitäten eingesetzt werden.«

Also das ist doch mal eine Ansage. 100 Euro auf die Hand und die können dann auch ganz individuell eingesetzt werden. Offensichtlich handelt es sich um ein Dankeschön der Regierung: »Mit dem Kinderfreizeitbonus in Höhe von 100 Euro je Kind werden Familien unterstützt, die wenig finanziellen Spielraum haben und die auf eine lange Zeit mit teils harten Einschränkungen während der Corona-Pandemie zurückblicken.«

Und das Dankeschön der Regierung kommt sogar ganz unbürokratisch, jedenfalls wurde das versprochen: »Der Kinderfreizeitbonus wird in der Regel automatisch ohne Antrag ab August 2021 ausgezahlt. Familien mit Kinderzuschlag, Wohngeld oder Sozialhilfe erhalten ihn von der Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit.« Nun ja, es gibt natürlich wieder diese Ausnahmefälle: »Familien, die nur Wohngeld und keinen Kinderzuschlag beziehen, und Familien mit Sozialhilfe müssen einen formlosen Antrag bei der Familienkasse stellen.«

Aber wer bekommt eigentlich den das Sparschwein der kleinen Racker sprengenden Betrag?

»Den Kinderfreizeitbonus erhalten minderjährige Kinder und Jugendliche aus bedürftigen Familien und Familien mit kleinen Einkommen, die im August 2021 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II oder XII, dem Asylbewerberleistungsgesetz, dem Bundesversorgungsgesetz, den Kinderzuschlag oder das Wohngeld beziehen.«

Hört sich doch ziemlich klar und eindeutig definiert an. Also alles gut? Mitnichten, wenn man nun mit solchen Meldungen konfrontiert wird:

»Unterstützung für soziale und kulturelle Teilhabe erreicht zu wenige bedürftige Familien«, berichtet Lisa Ecke in ihrem Artikel Alleinerziehende ohne Kinderfreizeitbonus. Wie, ausgerechnet Alleinerziehende, auf deren überdurchschnittlich große Betroffenheit von Armutslagen doch immer wieder hingewiesen wird? Das muss ein Druckfehler sein. Lesen wir weiter:

»Den Kinderfreizeitbonus erhalten Minderjährige im Grundsicherungsbezug sowie diejenigen, die in Haushalten wohnen, die den Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen« – darauf wurde hier ja schon hingewiesen. Aber:

»Doch viele in Armut lebende Kinder erreicht der Freizeitbonus überhaupt nicht. Laut einer Antwort des Bundessozialministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion … haben rund 190.000 Kinder und Jugendliche keinen Anspruch auf die staatliche Einmalzahlung, obwohl sie in einem Hartz-IV-Haushalt leben.«

Das muss ein Irrtum sein, denn auf der Seite des BMFSFJ hatte man doch lesen können: »Den Kinderfreizeitbonus erhalten minderjährige Kinder und Jugendliche aus bedürftigen Familien und Familien mit kleinen Einkommen, die im August 2021 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II oder XII, dem Asylbewerberleistungsgesetz, dem Bundesversorgungsgesetz, den Kinderzuschlag oder das Wohngeld beziehen.«

Aber die 190.000 Kinder und Jugendlichen leben doch in einem Hartz IV-Haushalt und dann kann es doch nicht sein, dass die keinen Anspruch haben (dürfen) auf die 100 Euro vom Vater, wahlweise von Mutter Staat. Die Auflösung dieses scheinbaren (und echten) Widerspruchs aus der Denke der Leistungsvoraussetzungen:

»Das liegt vor allem daran, dass der Bonus nicht für diejenigen Kinder und Jugendlichen gezahlt wird, die zwar in einem Hartz-IV-Haushalt leben, jedoch selbst kein Hartz IV beziehen. Dies betrifft insbesondere Minderjährige in Haushalten von Alleinerziehenden, die mit der Kombination aus Unterhaltsvorschuss und Kindergeld ihren eigenen Bedarf decken können.«

Alles klar?

Betroffene gehen bei dem Kinderfreizeitbonus also leer aus, weil sie keine Leistung vom Jobcenter bekommen. Obwohl auch sie auf Hartz-IV-Niveau leben.

Also das war sicher eines dieser Versehen, die schon mal passieren können, wenn man schnell was stricken muss. Oder doch nicht?

Die Linksfraktion im Deutschen Bundestag wollte das wissen und hat eine entsprechende Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Und aus der zitiert nun Lisa Ecke in ihrem Artikel – mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen, denen die 100 Euro vorenthalten werden, berichtet sie folgende Antwort: Eine »planwidrige Regelungslücke« sieht die Bundesregierung jedoch nicht.

Ups, dann muss man schlussfolgern, dass die Regelungslücke, durch die mal eben 190.000 Kinder und Jugendliche fallen, eine geplante Lücke im Strickmuster darstellt. So auch Katja Kipping, die mit diesen Worten zitiert wird: »Ich bin bisher davon ausgegangen, dass es sich um eine unbeabsichtigte Gesetzeslücke handelt. Die Bundesregierung hat nun in ihrer Antwort bestätigt, dass dies so beabsichtigt und vereinbart war.«

Davon müssen wir ausgehen.

➔ Übrigens: Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte bereits am 24. August 2021 auf das Problem hingewiesen: Probleme beim Kinderfreizeitbonus, so ist die Fachinformation dazu überschrieben. Dort wurde bereits ausgeführt: »Der Wortlaut des Gesetzes sieht den Kinderfreizeitbonus u.a. vor für „Leistungsberechtigte, die für den Monat August 2021 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld und das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“ (§ 71 Abs. 2 SGB II). Nach diesem Wortlaut wird die Anspruchsberechtigung auf Kinder und Jugendliche mit eigenen Leistungsansprüchen begrenzt. Damit fallen diejenigen Kinder und Jugendlichen aus der Förderung heraus, die zwar in SGB II Bedarfsgemeinschaften leben, aber selbst ohne eigenständige Leistungsansprüche nach dem SGB II / Hartz IV sind. Dies ist möglich, wenn Kinder oder Jugendliche aufgrund von Einkommen ihren eigenen Bedarf decken können. Insbesondere Kinder in Alleinerziehenden-Haushalten werden mit der Kombination aus Unterhaltsleistungen / Unterhaltsvorschuss und Kindergeld vielfach ihren eigenen Bedarf decken können. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit weist über 100.000 Fälle von sog. „Kindern ohne Leistungsanspruch“ aus (genau: 116.650 zum Jahresende 2020).«
Auch der Paritätische war sich zu dem Zeitpunkt nicht sicher, ob das nicht alles ein Versehen war: »Unabhängig davon, aus welchen Gründen die gesetzliche Regelung so gewählt wurde – ob nun die Konstellation Kinder ohne Leistungsanspruch in SGB II Bedarfsgemeinschaft schlicht vergessen wurde oder womöglich Gründe der einfacheren Administrierbarkeit ursächlich waren – kann es nicht sein, dass insbesondere Kinder von Alleinerziehenden im SGB II Bezug bei dem Freizeitbonus leer ausgehen. Die finanzielle Situation dieser Familien unterscheidet sich nicht von anderen bedürftigen Familien. Eine Benachteiligung von Kindern von Alleinerzehenden darf es nicht geben. Eine ungleiche Behandlung gilt es zu vermeiden.« Und die Forderung des Verbands? »Die Bundesregierung ist daher gefordert durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, dass der Kinderfreizeitbonus bei einem Teil der unbestreitbar bedürftigen Familien nicht ankommt.« Mittlerweile wissen wir, dass die Bundesregierung das nicht tun wird, weil das beklagte ungleiche Ergebnis nicht „planwidrig“ ist.

Die Fachinfo endet übrigens mit einer „praktischen“ Notlösungsempfehlung, die zugleich darauf verweist, welchen sozialrechtlichen Expertenstatus man haben muss, um im wahrsten Sinne des Wortes doch noch an ein paar Euros zu kommen: »Betroffenen Familien wird empfohlen, zeitnah zu klären, ob im August ein Anspruch auf sog. Kinderwohngeld besteht. Damit würde ebenfalls der Anspruch auf den Kinderfreizeitbonus geebnet.«