Die „Wohnkostenlücke“ im Hartz IV-System

Seit Jahren wird hier immer wieder über das Wohnkostenproblem im Grundsicherungssystem berichtet – vgl. nur als ein Beispiel den Beitrag Und wieder einmal grüßt täglich das Murmeltier: Hartz IV und die Wohnungsfrage vom 20. Dezember 2015. Dort wurde darauf hingewiesen, dass es neben dem „Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts“ nach § 20 SGB II als zweite Säule die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung gibt. Wobei man immer genau lesen muss, denn im hier relevanten § 22 SGB II heißt es im ersten Satz: »Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.« In dem Beitrag aus dem Jahr 2015 wurde genau an dieser Stelle angemerkt: »Und da fängt der Ärger an, denn es handelt sich bei der Formulierung „angemessen“ um einen der im Sozialrecht weit verbreiteten unbestimmten Rechtsbegriffe, deren Auslegung und Infragestellung Lohn und Brot für einen ganzen Zweig der Juristerei sicherzustellen vermag.«

Bei vielen Betroffenen, die auf SGB II-Leistungen angewiesen sind, führt hingegen die Auslegungsakrobatik um das Wort „angemessen“ dazu, dass sich das Brot nicht vervielfacht, sondern ganz im Gegenteil weniger wird. Denn nicht anerkannte Wohnkosten, also die Wohnkostenanteile, die von den zuständigen Jobcentern nicht als „angemessen“ anerkannt werden, müssen von den Betroffenen (zu denen übrigens neben den SGB II- auch die SGB XII-Leistungsbezieher gehören, also beispielsweise die altersarmen Menschen, die Grundsicherung im Alter beziehen) aus dem Geldbetrag für die Regelleistungen gedeckt werden, mit denen der existenzminimale Lebensunterhalt gewährleistet werden soll. Der Regelbedarf nach § 20 SGB II selbst ist seit Anbeginn des 2005 in Kraft getretenen Systems hinsichtlich der Höhe höchst umstritten und immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die derzeitige konkrete Höhe des Regelbedarfs eben nicht das Existenzminimum sicherstellen kann, weil die aus dem Regelbedarf abgeleiteten Leistungsansprüche kleingerechnet worden sind. Wenn dann aus einem sowieso unterdimensionierten Regelsatz auch noch Geld für die Deckung „nicht angemessener Wohnkosten“ abgezweigt werden muss, dann wird verständlich, warum Kritiker davon sprechen, dass im Ergebnis keine Sicherstellung des Existenzminimums mehr gewährleistet werden kann. Denn aus den Regelleistungen sollen Lebensmittel, Kleidung, Möbel, Kosten für soziale Teilhabe und Mobilität gezahlt werden.

Um die Frage, wann Kosten für eine Wohnung und die Heizung derselben (nicht mehr) angemessen sind, kreisen seit Jahren intensive Debatten und zahlreiche Widersprüche und Klagen vor den Sozialgerichten beziehen sich auf diesen Bereich des Hartz IV-Systems. Und wir sprechen hier über eine richtig große Nummer. 2020 haben die Jobcenter mehr als 16 Mrd. Euro für die Kosten der Unterkunft und Heizung ausgegeben.

Und man kann das mit den nicht übernommenen Wohnkosten im Grundsicherungssystem ebenfalls in Euro und Cent auf den Punkt bringen – zugleich wird dann erkennbar, dass es sich eben nicht um eine vernachlässigter kleine Größenordnung handelt. Die aktuellsten und zugleich bis auf die Ebene der einzelnen Jobcenter heruntergebrochene Darstellung der Zahlen findet man in der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage im Bundestag:

➔ Wohnkostenlücke 2020, Bundestags-Drucksache 19/31600 vom 19.07.2021

In den Vorbemerkungen der Fragesteller wird das Wohnkostenproblem so auf den Punkt gebracht: »Die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung (KdUH) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in angemessener Höhe soll das Existenzminimum sichern. Die Verfahren zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen sind allerdings seit vielen Jahren regelmäßig Gegenstand politischer und gerichtlicher Auseinandersetzungen. Dies bringt Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten und die Gefahr der Unterschreitung des Existenzminimums für die Beziehenden von Leistungen nach dem SGB II und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) mit sich. In zahlreichen Klagen von Leistungsbeziehenden stellten Sozialgerichte immer wieder fest, dass kommunale Konzepte rechtswidrig waren … Andere Kommunen verzichten von vornherein auf eigenständige Konzepte und greifen auf erhöhte Wohngeldwerte zurück … Auch dadurch sind keine existenzsichernden Beträge garantiert, weil die Wohngeldwerte weder am Existenzminimum ausgerichtet sind noch häufig genug angepasst werden … Im Ergebnis bestehen zwischen der Miete, die Personen im Leistungsbezug nach dem SGB II und SGB XII tatsächlich zahlen müssen, und den als angemessen anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung regional teilweise erhebliche Differenzen. Regelmäßig wird diese „Wohnkostenlücke“ von Leistungsbeziehenden aus dem Regelbedarf bestritten – oft nicht als Ausdruck individueller Prioritätensetzung, sondern schlicht, weil es keinen günstigeren Wohnraum gibt. Dadurch wird das Existenzminimum unterschritten.«

Und wie groß war sie nun im Jahr 2020, die Differenz zwischen den anerkannten und den tatsächlichen Wohnkosten das Hartz IV-Bezieher?

»Die Differenz zwischen tatsächlichen und anerkannten laufenden Kosten für Unterkunft und Heizung belief sich im gesamten Jahr 2020 in Deutschland auf 474 Millionen Euro.« (S. 3)

Das betraf nicht alle Hartz IV-Haushalte. Konkret: »Im Durchschnitt des Jahres 2020 überstiegen in 450.000 Bedarfsgemeinschaften die tatsächlichen laufenden Kosten der Unterkunft und Heizung die anerkannten Kosten. Bezogen auf alle Bedarfsgemeinschaften mit laufenden aner- kannten Kosten der Unterkunft entspricht das einem Anteil von 16,9 Prozent

Man kann der Antwort der Bundesregierung diese weiteren Informationen entnehmen:

»Die Differenz zwischen den durchschnittlichen monatlichen laufenden tatsächlichen und anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung belief sich im Jahr 2020 in Deutschland auf durchschnittlich 15 Euro je Bedarfsgemeinschaft.« Also pro Monat 15 Euro. Nun wird der eine oder andere möglicherweise sagen, dass das doch noch ein überschaubarer Betrag sei. Aber man muss bei der Bewertung berücksichtigen, dass diese Durchschnittszahl dadurch zustande gekommen ist, in dem man die nicht anerkannten Wohnkosten durch alle Bedarfsgemeinschaften geteilt hat, also auch unter Berücksichtigung der Hartz IV-Haushalte, bei denen die Wohnkosten vollständig übernommen wurden. Betrachtet man nur die Bedarfsgemeinschaften, bei denen es eine Differenz zwischen den tatsächlichen und den anerkannten Wohnkosten gegeben hat, dann bekommt man einen anderen Betrag, den die Fragesteller auch abgerufen haben:

»Die Differenz zwischen den durchschnittlichen monatlichen laufenden tatsächlichen und anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung bezogen auf die Bedarfsgemeinschaften, in denen die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung höher waren als die anerkannten Kosten, betrug im Jahr 2020 durchschnittlich 87 Euro.« Hier ebenfalls pro Monat. Bei diesen Haushalten wurden im Schnitt 15 Prozent der tatsächlichen Wohnkosten nicht vom Jobcenter bezahlt.

Wobei das alles Durchschnittswerte sind – so gibt es Jobcenter, bei denen die nicht anerkannten Wohnkosten ganz andere Regionen erreichen, so wird beispielsweise für das Jobcenter München von 213,13 Euro pro Monat als Differenz zwischen den anerkannten und den tatsächlichen Wohnkosten berichtet bei den Bedarfsgemeinschaften, bei denen ein Teil der Wohnkosten als nicht angemessen eingestuft wurde.

Und um das Dauerbrenner-Thema abzurunden – es geht hier nicht nur um die Gruppe derjenigen, die sich offiziell im Hartz IV-Bezug befinden. Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, der oder die weiß, dass es zahlreichen Menschen mit niedrigen Einkommen gibt, die aus unterschiedlichen Gründen keine SGB II-Leistungen beziehen (obgleich sie grundsätzlich durchaus Anspruch hätten) oder die knapp über den Bedarfsschwellen des Sozialhilfesystems versuchen müssen, über die Runden zu kommen.

Zur Mietpreisproblematik für die unteren Einkommensgruppen gibt es auch eine neue Studie (wobei sich die dort präsentierten Daten auf das Jahr 2018 beziehen):

➔ Andrej Holm, Valentin Regnault, Max Sprengholz und Meret Stephan (2021): Muster sozialer Ungleichheit der Wohnversorgung in deutschen Großstädten. Working Paper Forschungsförderung, Nr. 222, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, August 2021

»Der Studie zufolge bleibt rund zwei Millionen Menschen in Deutschland nach Zahlung ihrer Mietkosten weniger als das gesetzlich festgeschriebene Existenzminimum zum Leben übrig. Rund 13 Prozent aller Miethaushalte in Großstädten befanden sich zuletzt in einer solchen Lage. Diese Haushalten mit rund 2,1 Millionen Menschen haben also weniger als das im Sozialrecht festgelegte Existenzminimum übrig, nachdem sie Miete und Nebenkosten bezahlt haben. Besonders ausgeprägt sind diese prekären Wohnbedingungen laut der Studie bei Alleinerziehenden, Haushalten mit Migrationshintergrund und bei Mieterinnen und Mietern mit niedrigen Bildungsabschlüssen«, so Lisa Ecke in ihrem Artikel Hohe Mieten bringen viele in Existenznot. »Die Großstadthaushalte mit Akademikern haben im Schnitt eine Wohnfläche von 82 Quadratmetern, Haushalte mit Berufsausbildung 69 Quadratmeter und diejenigen ohne einen Berufsabschluss lediglich 60 Quadratmeter. Zudem tragen vor allem Haushalte mit einem niedrigen Einkommen eine hohe Mietbelastung. So kommt es, dass die Wohnkosten das Auseinanderdriften der Einkommen in den Großstädten befeuert. Ärmere Haushalte müssen einen weit überdurchschnittlichen Anteil ihres Einkommens fürs Wohnen aufwenden, obwohl sie auf deutlich weniger Wohnraum in schlechter ausgestatteten Wohnungen leben. Besonders betroffen davon sind Alleinerziehende, rund ein Viertel von ihnen bleibt nach Abzug der Wohnkosten weniger als der aktuelle Hartz-IV-Satz zum Leben übrig.«

Der Zusammenfassung der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie unter dem Titel Fast 13 Prozent der Mieterhaushalte in deutschen Großstädten haben nach Abzug der Miete weniger als das Existenzminimum zur Verfügung kann man weitere Befunde der Studie von Holm et al. (2021) entnehmen. So auch diese Überschlagsrechnung:

»Um die größten Wohnungsprobleme in den deutschen Großstädten zu entspannen, wäre … ein deutlich größeres Angebot an Wohnungen mit einer Bruttowarmmiete von maximal 9 Euro pro Quadratmeter nötig. Das entspricht einer (Netto-)Kaltmiete von höchstens 6,35 Euro. Insbesondere kleine Wohnungen für Singles werden benötigt. Aktuell bräuchten 1,4 Millionen Großstadthaushalte eine Wohnung dieser Mietpreisklasse, um eine ihrem Einkommen angemessene Bleibe zu haben, tatsächlich wohnen sie teurer. Wollte man diese Lücke durch den Neubau von Sozialwohnungen schließen, würde das … beim aktuellen Förderumfang fast 60 Jahre dauern.«