Es geht wieder aufwärts. Leider auch mit der Kinderarbeit

»Erstmals seit 20 Jahren ist die Zahl der Kinder, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, weltweit wieder gestiegen. Anfang 2020 seien 160 Millionen Minderjährige von Kinderarbeit betroffen gewesen, etwa 8,4 Millionen Kinder mehr als 2016«, berichtet Zacharias Zacharakis unter der Überschrift Kinderarbeit nimmt erstmals seit 20 Jahren wieder zu. Fast jedes zehnte Kind weltweit ist von Kinderarbeit betroffen, davon 63 Millionen Mädchen und 97 Millionen Jungen.

Fast die Hälfte aller betroffenen Kinder verrichte gefährliche Arbeit, die ihre Gesundheit, Sicherheit und moralische Entwicklung direkt beeinträchtige. Die Zahlen stammen aus diesem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF):

➔ ILO and UNICEF (2021): Child Labour. Global estimates 2020, trends and the road forward, Geneva: International Labour Office (ILO) and New York: United Nations Children’s Fund (UNICEF), 2021

Der „Child Labour“-Bericht, der alle vier Jahre veröffentlicht wird, verdeutlicht, dass die Fortschritte bei der Überwindung von Kinderarbeit zum ersten Mal seit 20 Jahren ins Stocken geraten sind. Damit hat sich der bislang positive Trend umgekehrt: Zwischen 2000 und 2016 war die Zahl der Mädchen und Jungen in Kinderarbeit noch um 94 Millionen gesunken, berichtet UNICEF. Die Zahl der jungen Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren in Kinderarbeit ist deutlich angestiegen, so dass diese Altersgruppe nun weltweit etwas mehr als die Hälfte der von Kinderarbeit betroffenen Kinder stellt. In Subsahara-Afrika haben Bevölkerungswachstum, wiederkehrende Krisen, extreme Armut und unzureichende soziale Basisschutzmaßnahmen in den letzten vier Jahren zu zusätzlichen 16,6 Millionen Mädchen und Jungen in Kinderarbeit geführt. Und nun drohen die Folgen der Corona-Pandemie. Selbst in Regionen, in denen es seit 2016 einige Fortschritte gab, wie in Asien und der Pazifik-Region sowie in Lateinamerika und der Karibik, sind diese durch Covid-19 gefährdet.

Millionen weitere Mädchen und Jungen seien durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie gefährdet: »Der Bericht warnt, dass weltweit neun Millionen zusätzliche Kinder bis Ende 2022 durch die Pandemie in Kinderarbeit gedrängt werden können. Ein Simulationsmodell zeigt, dass diese Zahl auf 46 Millionen ansteigen könnte, wenn gefährdete Kinder keinen Zugang zu angemessenen sozialen Basisschutzmaßnahmen haben.« Und die Pandemie hat auch Rückwirkungen auf die Kinder, die schon in Kinderarbeit feststecken: »Wirtschaftliche Schocks und Schulschließungen wegen der Covid-19-Pandemie bedeuten auch zusätzliche Risiken für die Kinder, die bereits vorher Kinderarbeit geleistet haben. Möglicherweise müssen sie länger oder unter schlechteren Bedingungen arbeiten, während viele weitere in die schlimmsten Formen der Kinderarbeit gezwungen werden, weil ihre Eltern ihre Jobs oder Einkommensmöglichkeiten verloren haben.«

„Wir verlieren im Kampf gegen Kinderarbeit an Boden, und das letzte Jahr hat diesen Kampf nicht einfacher gemacht“, wird UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore zitiert. „Jetzt, im bereits zweiten Jahr mit weltweiten Lockdowns, Schulschließungen, wirtschaftlichen Krisen sowie schrumpfenden Staatshaushalten, sind viele Familien gezwungen, tragische Entscheidungen zu treffen. Wir fordern Regierungen und internationale Entwicklungsbanken auf, vorrangig in Programme zu investieren, die Kinder aus Kinderarbeit herausholen und wieder in die Schule bringen können, sowie in soziale Schutzprogramme, die Familien helfen können, diese Entscheidung gar nicht erst zu treffen.“

„In Afrika ist die Lage am dramatischsten. Dort muss beinahe jedes fünfte Kind arbeiten“, wird der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zitiert. „Viele von ihnen schuften auch für unseren täglichen Konsum: auf Kaffee- oder Kakaoplantagen oder in Coltan-Minen für unsere Handys.“ Der Minister verweist auf das gerade erst im Bundestag verabschiedete und höchst umstrittene „Lieferkettengesetz“: „Das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit muss in den Lieferketten eingehalten werden“.

Auf der einen Seite wird man mit den gewaltigen Zahlen die globale Kinderarbeit betreffend erschlagen, auf der anderen Seite ist das irgendwie ganz weit weg angesichts der Abstraktheit der Zahlen und dem zwangsläufigen Verschwinden der Einzelschicksale. Auch die eigene Involviertheit mag zwar kognitiv in Umrissen erkennbar sein, aber zugleich kann man das auch irgendwie ganz gut wegdrücken, weil offensichtlich Kinderarbeit ein Problem „da unten in Afrika“ oder wo auch immer weit weg ist. Insofern ist der Hinweis des Entwicklungshilfeministers auf unseren täglichen Konsum durchaus angebracht. Dazu ein weiteres Beispiel:

»Mica-Minerale sorgen für Glanz und Glimmer. Sie finden sich deshalb nicht nur in Kosmetik und Karnevalsschminke, sondern auch in Farben und Lacken, Zahnpasta und Badeseifen. Werden in Smartphones, Laptops und Haushaltsgeräten verarbeitet. Doch der schöne Schein, den Minerale wie Muscovit, Alurgit oder Fuchsit schaffen, hat seine Schattenseite. Für den makellosen Glanz müssen in Indien und Madagaskar Zehntausende Mädchen und Jungen schuften, wie Studien zeigen, auf die das Hilfswerk Terre des Hommes (TDH) im Blick auf den Welttag gegen Kinderarbeit am 12. Juni aufmerksam macht«, berichtet Tobias Schwab in seinem Artikel Ungeschminkte Realität: Kinderarbeit für unsere Kosmetik. »Mica-Minerale werden in 35 Ländern geschürft, darunter auch in Industriestaaten wie Kanada, Finnland und Russland. Die größten Exporteure aber sind Madagaskar und Indien. Die beiden ostindischen Bundesstaaten Bihar und Jharkhand liefern allein 25 Prozent des weltweit verbrauchten Micas. Nach Schätzungen lokaler Organisationen sind dort rund 300.000 Menschen vom Abbau der Minerale abhängig.«

Und auch hier werden die negativen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie erkennbar. Beispiel Indien: »Schon vor der Pandemie hätten rund 22 000 Kinder mitarbeiten müssen. Aktuell seien es infolge der Lockdowns deutlich mehr … Covid-19 verschärfe die Lage der Familien dramatisch. Oft fällt die finanzielle Unterstützung von Angehörigen weg, die in anderen Regionen als Tagelöhner:innen gearbeitet haben, jetzt aber ohne Job sind. Und bleiben die Schulen wegen Covid-19 geschlossen, müssen die Kinder auch die Mahlzeiten entbehren, die es dort normalerweise gibt.« All das treibt immer mehr Kinder in den Bergbau. »Die Jüngsten, die Mica schürfen, seien gerade einmal vier Jahre alt. Die Arbeitsbedingungen in den meist illegalen Minen sind dabei extrem gefährlich. Die Minerale werden aus selbst gegrabenen Löchern und Tunneln geholt, die bis zu 20 Meter tief und nicht gesichert sind. Immer wieder brechen Gänge ein, werden Kinder und Erwachsene verschüttet und kommen zu Tode. Schon Minderjährige erkranken an Staublunge, sind unterernährt, dehydriert und leiden unter Blutarmut … Bis zu zwölf Stunden müssten die Kinder mit ihren Eltern schuften – und das für einen Hungerlohn. Vor der Pandemie habe eine Familie mit dem Verkauf ihrer Tagesproduktion etwa 100 Indische Rupien (rund 1,10 Euro beziehungsweise 1,40 Dollar) erzielen können. Zurzeit nutzten Aufkäufer die Not aus und zahlten noch weniger. Damit liegt der Verdienst weit unterhalb der von der Weltbank definierten Grenze für extreme Armut von 1,90 Dollar pro Tag und Person.«

Unter ähnlich prekären und gefährlichen Bedingungen schuften auch Kinder in Madagaskar. Auch hier kann man auf Informationen des Hilfswerks Terre des Hommes (TDH) zurückgreifen: Auf der Insel im Indischen Ozean entdeckten Forscher im Auftrag der TDH-Sektion Niederlande im Jahr 2019 in 14 Minen Mädchen und Jungen. »Während die Erwachsenen Schächte ausheben und Tunnelsysteme anlegen, schleppen Kinder das Gestein mit den Mineralen ans Tageslicht. Laut dem TDH-Bericht zahlen die Aufkäufer je nach Qualität des Micas für den Tagesertrag eines Erwachsenen umgerechnet zwischen 27 Cent und drei US-Dollar.«

Und das alles ist schlichtweg illegal: Schufterei im Bergbau ist eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, wie sie die Konvention 182 der International Labour Organization (ILO) definiert. Sie ist damit in allen Staaten der Welt verboten. In Indien untersagt der „Child and Adolescent Labour Prevention and Regulation Act“ ausdrücklich die Beschäftigung von Kindern im Bergbau. Insofern müssen die Behörden der Länder, aus denen die verbotene Kinderarbeit berichtet wird, kontrollieren und die Betreiber zur Verantwortung ziehen. Aber auch international tätige Unternehmen sieht Terre des Hommes in der Pflicht. Hersteller und Handel müssten klären, wo genau ihre Rohstoffe herkommen, und „sicherstellen, dass grundlegende Arbeitsrechte und Sicherheitsstandards umgesetzt werden“, so das Kinderhilfswerk. Auch an dieser Stelle wird das neue Lieferkettengesetz erwähnt, aber: »Das Lieferkettengesetz, das der Bundestag am Freitag beschließen will, soll größere Unternehmen verpflichten, menschenrechtliche Risiken bei ihren direkten Geschäftspartnern zu identifizieren und dagegen anzugehen. Auf dieser ersten Stufe der Lieferkette werden deutsche Firmen aber keine Kinderarbeit entdecken. Handelt es sich dabei doch um Produzenten von Kabeln oder Kosmetik, die weit weg von den Schürfplätzen in Indien und Madagaskar operieren. Allerdings … sollen Unternehmen auch aktiv werden müssen, wenn ihnen Berichte von Menschenrechtsverstößen auf tieferen Stufen der Lieferkette zur Kenntnis gelangen.«

Auch hier werden wir konfrontiert mit dem – höchst ambivalenten, in der Vergangenheit leider oftmals als reine Kosmetik enttäuschendem – Instrument freiwilliger Initiativen und der Selbstverpflichtungen der Unternehmen: »Immerhin hat sich 2017 in Paris die Responsible Mica Initiative (RMI) formiert, der als Gründungsmitglied auch Terre des Hommes angehört. Ziel von RMI ist es, weltweit Standards für den Mica-Abbau zu entwickeln, die Sicherheit, faire Arbeitsbedingungen und Mindestlöhne garantieren, – und vor allem auch, die Kinderarbeit zu beenden. Mitglied der Initiative sind bereits Unternehmen wie H&M, L’Oréal, Merck, BASF, Sephora, The Body Shop und Daimler. Im vergangenen November hat sich auch Porsche angeschlossen. „Von unseren Lieferanten verlangen wir die Einhaltung international anerkannter sozialer und ökologischer Standards“, begründete Uwe-Karsten Städter, Vorstand Beschaffung bei Porsche, damals den Schritt. „Mit unserem Engagement übernehmen wir Verantwortung für unseren Einfluss auf die Abbauregionen in Indien.“«

Tobias Schwab berichtet aber auch: »Auf der Liste der RMI-Mitglieder allerdings fehlen noch große Unternehmen, die Mica-Minerale in vielen ihrer Produkte verwenden. Siemens beispielsweise. Eine Anfrage, warum sich der Münchner Industriekonzern bislang nicht in der Initiative engagiert, blieb … unbeantwortet.«