»Die Auswirkungen des drogenpolitischen Experiments Portugals sind durch die Forschung bestätigt …; aus dieser Erfahrung kann und muss eine Welt, die in einem gescheiterten „Kampf gegen Drogen“ gefangen ist, etwas lernen. Der portugiesische Ansatz mit seinem innovativen Charakter zeigt, dass der Drogenproblematik nicht mithilfe von Generälen, Polizisten oder Strafrichtern, sondern vielmehr mithilfe von Ärzten, Sozialarbeitern und Wissenschaftlern begegnet werden muss.«
Artur Domosławski (2011): Drogenpolitik in Portugal. Die Vorteile einer Entkriminalisierung des Drogenkonsums, Warschau: Open Society Foundations, Juni 2011, S. 8
Was muss das für eine Aufregung gewesen sein für die Führungskräfte der FDP auf ihrem Podium beim Bundesparteitag 2021: »Das kam überraschend. Mit einer klaren Mehrheit hat sich die FDP hinter den Antrag ihres Bezirksvorsitzenden von Berlin-Marzahn Roman-Francesco Rogat gestellt, der de facto die Forderung nach einer Entkriminalisierung aller Drogen in Deutschland bedeutet hätte. Angelehnt an das „portugiesische Modell“ hatte Rogat eine „liberale Drogenpolitik“ und „mehr Prävention statt Bestrafung“ ins Wahlprogramm zur Bundestagswahl schreiben wollen«, so dieser Bericht vom Mirko Schmid: Parteitag der FDP stimmt für Entkriminalisierung aller Drogen – und korrigiert sich. »Der Beschluss löste umgehend hektisches Treiben und fast schon panische Reaktionen der Parteispitze um Christian Lindner aus. Dessen Vize, Wolfgang Kubicki, nannte eine „vollständige Freigabe aller Drogen“ etwas, „das die Freien Demokraten unter keinem Gesichtspunkt gutheißen können“. Wenn künftig jeder straffrei jede Droge konsumieren könne, „dann haben wir ein Riesenproblem bei der Gestaltung unserer Zukunftsfähigkeit“, warnte er. Lindner selbst berief sich auf technische Probleme, deretwegen sich Gegner des Antrages nicht hätten zu Wort melden können – angesichts der Corona-Pandemie findet der Parteitag der Liberalen weitestgehend online statt.«
„Vollständige Freigabe aller Drogen“? Was hat – ausgerechnet – Kubicki geraucht oder getrunken? Denn darum geht es bei dem „portugiesischen Modell“ überhaupt nicht. Neben dem Eindruck, dass man in der FDP die Delegierten im wahrsten Sinne des Wortes als Stimmvieh zu betrachten scheint, die gefälligst nach den Vorstellungen der Parteispitze und notfalls so lange abzustimmen haben, bis das denen da oben passt, ist hier relevant, dass man offensichtlich keine inhaltliche Ahnung hat von dem, was man da so brüsk zurückgewiesen und geschreddert hat.
Zitiert wird auch der Generalsekretär der FDP, Volker Wissing, mit diesen Worten zur „Erklärung“, warum man den Beschluss für den Antrag, der immerhin auf über 60 Prozent kam, wieder einkassiert hat: »Der sprach von einem „Zufallsergebnis“, viele Parteimitglieder hätten gar nicht gewusst, was das „portugiesische Modell“ bedeute. Außerdem seien einige Freidemokraten verwirrt gewesen.« Das gilt dann wohl eher für die Parteiführung.
Es geht um Entkriminalisierung der Konsumenten, nicht um die Freigabe aller Drogen
Man sollte wirklich schon wissen, um was es bei diesem „portugiesischen Modell“ geht. In einer 2011 veröffentlichten Studie berichtet Artur Domosławski:
Im Jahr 2001 »startete Portugal ein Experiment, an das sich bis dahin nur wenige Länder herangetraut hatten: die Entkriminalisierung des Besitzes und Konsums von Drogen einschließlich solcher, die in einigen Ländern als „harte Drogen“ eingestuft werden, wie Kokain und Heroin. Die damit verbundenen Veränderungen des Drogengesetzes und der nationalen Politik Portugals markierten einen Wendepunkt für das Land und einen Meilenstein in der internationalen Drogenpolitik. Im Rahmen der neuen Maßnahmen wird nicht mehr versucht, den Drogenkonsum durch die Bestrafung der Konsumenten zu verringern; vielmehr wird der Drogenkonsum nicht länger als Straftat behandelt, obgleich Drogen nach wie vor als illegal gelten … Portugals Reformen beschränken sich nicht darauf, den Besitz von Drogen als Ordnungswidrigkeit zu behandeln; sie umfassen vielmehr eine breite Palette von Maßnahmen wie Prävention und gesellschaftliche Aufklärung, Maßnahmen, die Menschen vom weiteren Konsum kontrollierter Substanzen abhalten sollen, Schadensminimierung, Therapien für Drogenabhängige und die Unterstützung bei der Wiedereingliederung Drogenabhängiger in die Gesellschaft.«
Es handelt sich hier also um einen primär gesundheitspolitischen Ansatz, der versteht, dass wir es vor allem mit einem Suchtproblem zu tun haben und dass man damit so umgehen sollte, wie man das mit anderen Erkrankungen auch macht. Eine Kriminalisierung von suchtkranken Menschen ist hier schlichtweg fehl am Platz und kontraproduktiv mit erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Folgeschäden, die dadurch hervorgerufen werden.
➔ Man sollte sich verdeutlichen, welche Größenordnung die repressive Strategie und Kriminalisierung überwiegend von Kleinkonsumenten in Deutschland hat (und welche Ressourcen bei Polizei und Justiz oftmals ohne irgendeinen Effekt außer Ressorcenverschwendung gebunden und dass erhebliche negative Folgen bei vielen Betroffenen beobachtet werden). Der Frankfurter Suchtforscher Heino Stöver wird in einem Beitrag zur Drogenpolitik mit diesen Worten zitiert: »„Die Repression hat insofern ein Rekordniveau erreicht, als dass wir mittlerweile 360.000 Strafverfahren zählen, sogenannte Rauschgiftdelikte, wie das Bundeskriminalamt das nennt. Von diesen 360.000 Strafverfahren – das sind von der Polizei durchermittelte Verfahren – sind aber 80 Prozent Fälle, die sich nur in einem Mengenbereich bewegen, der zum Eigenbedarf dient. Tatsächlich zeichnen sich in den jährlich erscheinenden Lagebildern des Bundeskriminalamts zur Rauschgiftkriminalität zwei Entwicklungen ab. Zum einen findet die Polizei bei Kontrollen und Durchsuchungen immer häufiger kleinere Mengen an illegalen Drogen und reicht diese Fälle an die Staatsanwaltschaft weiter. Insgesamt ist die Zahl dieser sogenannten konsumnahen Delikte seit 2015 um ein Drittel gestiegen. Und zum anderen ist die Zahl der übrigen Rauschgiftdelikte in der Statistik, bei denen es um Herstellung, Handel oder Verkauf geht, nahezu konstant. „Also im Grunde genommen verfolgt die Polizei zunehmend und hauptsächlich Konsumierende von Drogen. Und das kann eigentlich nicht sein. Das ist nicht Aufgabe der Polizei“, sagt Heino Stöver.«
»Im Jahr 2001erfolgte in Portugal ein Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik. Portugal entschied sich dafür, die Kriminalisierung von Drogenkonsumenten zu beenden und dem Drogenproblem mit einem public health-Ansatz zu begegnen.« So auch der Startpunkt der Beschreibung des „portugiesischen Modells“ in dieser Arbeit:
➔ Heino Stöver und Maximilian Plenert (2013): Entkriminalisierung und Regulierung. Evidenzbasierte Modelle für einen alternativen Umgang mit Drogenhandel und -konsum, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Juni 2013
Zu Portugal findet man hier diese Bilanzierung: »Neben dem Ausbau von Substitutionsbehandlungen und Spritzentausch ist das Spezifische am portugiesischen Modell, dass die Strafgerichte nicht länger für Konsumenten zuständig sind, wobei die Illegalität aller Handlungen im Umgang mit Drogen weiterhin gegeben ist. Das Gesetz sieht explizit vor, dass Menschen, die von der Polizei mit Drogen angetroffen werden, vor ein Komitee aus einem Juristen, einem Sozialarbeiter und einem Psychologen geladen werden. Dieses kann bestimme Strafen (Geldstrafe, Platzverbote, Einschränkung von Waffenbesitzrechten) verhängen und Auflagen wie eine Therapie aussprechen. Die Tatsache, dass die Polizei weiterhin Drogen beschlagnahmt, wird von den Vertretern der Gesundheitsbehörden eher bedauert. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen bestimmte Delikte nicht länger verfolgt oder bestraft werden, hat in Portugal das Parlament explizit das Gesetz angepasst, während die Cannabis Social Clubs in Belgien oder Spanien beispielsweise ihre Duldung oder faktische Legalität aus der Rechtspraxis und Gerichtsurteilen ziehen … Zwölf Jahre nach der Entkriminalisierung in Portugal liegen inzwischen auch einige aussagekräftige Bewertungen dieser Politik vor … Dass Portugal nicht zum „Drogenparadies Europas“ und zu einem Mekka der Drogenkonsumenten wurde, zeigt einmal mehr, dass die Dammbruchbefürchtungen nicht haltbar sind. Die drogenbezogenen Straftaten gingen zurück. Der Konsum entwickelte sich wie in den Nachbarländern Spanien und Italien. Die Zahl der jugendlichen Konsumenten und die Zahl der Problemkonsumenten sanken … Fazit: Die repressive Klammer ist gelockert worden, ohne dass es nennenswerte negative Effekte gab, wohl aber positive Entwicklungen in der Zahl der Gefängnisinsassen, die aufgrund von Drogenkonsum, -besitz oder -erwerb verurteilt worden sind.«
Die auf Gesundheitsschutz ausgerichtete Philosophie des „portugiesischen Modells“ und der Unterscheid zwischen Entkriminalisierung und Legalisierung wird auch in dem Beitrag Drogenpolitik in Deutschland – Zeit für einen Strategiewechsel? von Timo Stukenberg aus dem April 2021 klar erkennbar:
»Ein Anruf bei Nuno Capaz. Er ist Soziologe und arbeitet seit 20 Jahren für das portugiesische Gesundheitsministerium in der Hauptstadt Lissabon. Sein Arbeitsplatz ist die sogenannte CDT, eine staatliche Kommission zur Vermeidung des Drogenmissbrauchs.
„Wir hatten in den Achtzigern ein riesiges Problem mit Heroinmissbrauch. Es wurde größtenteils gespritzt, was sehr schädlich ist. Es gab viele HIV-Infektionen, viele Überdosis-Tote und Hepatitis unter den Nutzerinnen und Nutzern. Die Hygiene-Bedingungen waren schrecklich. Es gab offene Märkte in Lissabon, Porto und anderen Städten. Im Fernsehen waren es immer die gleichen Bilder von Leuten, die Schlange stehen, um Heroin zu kaufen, sich spritzen auf der Straße.“
Im Jahr 2001 beschloss Portugal daher eine völlig neue Drogenpolitik. Eine Gruppe von Fachleuten hatte mehr als 80 Vorschläge erarbeitet, um die Drogenkrise in Portugal zu beenden. Der wohl wichtigste Vorschlag war laut Capaz die Einrichtung eines Staatssekretärs, der die Drogenpolitik seitdem koordiniert. Ein anderer Vorschlag, der in Deutschland am häufigsten diskutiert wird: eine konsequente Entkriminalisierung von Drogenkonsumierenden – egal, welche Droge sie nutzten. Soziologe Capaz erklärt, was sich seitdem geändert hat:
„Der Unterschied ist, wenn ich im Jahr 2000 eine illegale Substanz gekauft habe und ein Polizist tauchte auf, hätte er den Drogendealer und mich direkt mitgenommen und wir wären vor Gericht gelandet, weil es eine Straftat ist. Heute kommt in der gleichen Situation nur der Dealer vor Gericht. Ich würde zu einer Vermeidungskommission geschickt, weil es sich nur um eine Ordnungswidrigkeit handelt.“
Juristisch gesehen ist der Besitz jedweder Droge zum Konsum in Portugal vergleichbar mit Autofahren ohne Anschnallgurt. Die Vermeidungskommission, in der Capaz sitzt, kann dafür zwar Bußgelder verhängen. Viel wichtiger sei aber die Möglichkeit, den Drogengebrauch der Nutzerinnen und Nutzer einzuschätzen und sie bei Bedarf an Hilfsangebote zu verweisen. Ohne die Strafandrohung durch die Polizei kämen die Mitglieder der Kommission mit den Drogenkonsumierenden ins Gespräch und könnten herausfinden, wie ihnen wirklich geholfen werden kann.
„Was wir letztlich getan haben, ist nicht, die Substanz zu entkriminalisieren. Wir haben die Nutzerinnen und Nutzer entkriminalisiert. Du hast eben vom Krieg gegen die Drogen gesprochen. Den führen wir immer noch, aber es gibt keinen Krieg mehr gegen die Konsumierenden. Das ist was völlig anderes.“«
Das ist die zentrale Botschaft des „portugiesischen Modells“: Man führt keinen Krieg mehr gegen die Konsumierenden. Das wäre auch für Deutschland sinnvoll. Aber dafür müsste man das Modell erst einmal verstanden haben.