Wie sieht es aus an den Fließbändern der deutschen Schlachtindustrie? Von Licht und Schatten nach dem Verbot der Werkverträge im Kernbereich der Fleischindustrie

Im vergangenen ersten Corona-Jahr war das – für einen Moment – eines der ganz großen Themen (gewesen): die Situation in den Schlachthöfen des Landes. Die oftmals mehr als skandalösen Arbeits- und Lebensbedingungen der zumeist aus Osteuropa angeheuerten Arbeitskräfte wurden im Kontext von Corona-Hotspots bei Tönnies & Co. auf die Fernsehbildschirme und und die Zeitungen gespült. Nicht, dass das bis dahin kein Thema gewesen war – schon seit Jahren wurde immer wieder (auch in diesem Blog in zahlreichen Beiträgen) über die Missstände in den deutschen Billig-Schlachthäusern berichtet. Aber eines war diesmal anders als vorher: Auch im vergangenen Jahr war die Wahrnehmung der und die Aufregung über die skandalösen Umständen, unter denen hier Tiere von Menschen geschlachtet und verarbeitet werden, ein eher punktuelles Ereignis, das dann von den neuen Säuen, die man durchs Dorf der umkämpften Aufmerksamkeitsökonomie treibt, verdrängt wurde.

Aber anders als früher hat sich diesmal die Debatte über politische Konsequenzen mit dem Abklingen der medialen Aufmerksamkeit nicht erledigt, der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nutzte die Gelegenheit, die sich rund um die Skandalisierungswelle im vergangenen Jahr ergab und brachte einen weitreichenden Regulierungsvorstoß auf den Weg, eine Art „Lex Tönnies“, dessen Kern aus einem Verbot der ebenfalls seit Jahren zunehmend kritisch bewerteten und in bestimmten Branchen und Unternehmen tatsächlich auch für Lohndumping und der Flucht aus den normalen Arbeitgeberpflichten instrumentalisierten Werkverträge besteht (zu den Tiefen und Untiefen rund um das Thema Werkverträge auch in anderen Branchen vgl. den Beitrag Eine Bilanz des Werkvertrags – Die Landbockwurst als „Werk“ von Peter Kessen, 02.02.2021).

Für einen umfassenden Rückblick auf die Corona-Krise in der deutschen Fleischindustrie im vergangenen Jahr vgl. diese Studie:
➔ Peter Birke (2021): Die Fleischindustrie in der Coronakrise. Eine Studie zu Arbeit, Migration und multipler Prekarität, in: Sozial.Geschichte.Online 29, 2021

Mit dem Verbot der Werkverträge wollte der Bundesarbeitsminister das bisherige Geschäftsmodell der Fleischbarone in Deutschland, das über die Ausdifferenzierung eines undurchsichtigen und jede Verantwortung atomisierenden Systems mit dubiosen Vermittlungsagenturen und einem in einer ganz eigenen Schattenwelt blühenden Subunternehmerunwesen dazu geführt hat, dass andere europäische Länder um uns herum massiv Klage erhoben gegen das „Billig-Schlachthaus“ Deutschland, weil man die eigenen Leute nicht mehr oder kaum noch halbwegs anständig bezahlen konnte aufgrund des enormen Preisdrucks, der von der industriellen Tiertötung in Deutschland ausgeht.

Und eigentlich lief der Vorstoß des Bundesarbeitsministers so, wie man das üblicherweise kennt: Nach einer ersten Einigung am 20. Mai 2020 über Eckpunkte für ein „Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ versuchten die Lobbyisten, über ihre Kanäle die Gesetzgebung zu verwässern – und lange Zeit schien es so, als könnten sie Teile der Unionsfraktion im Bundestag und damit den Koalitionspartner auf ihre Seite ziehen. Am Ende kam dann nach einigen letzten Zuckungen doch noch ein Gesetz heraus, das viele so schon nicht mehr erwartet hatte.

Das „Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz)“ wurde am 22.12.2020 im Bundesgesetzblatt verkündet. Dieses Gesetz beinhaltet die folgenden Kernpunkte:

➔ Es wird grundsätzlich verboten, Fremdpersonal im Kerngeschäft der Fleischindustrie (Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung) einzusetzen. Das Fleischunternehmen darf damit im Kernbereich nur eigene Arbeitnehmer beschäftigen. Dies gilt ab dem 1. Januar 2021. Für den Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern gilt es ab dem 1. April 2021 (mit einer eng begrenzten Ausnahme für die Fleischverarbeitung). Ausgenommen hiervon sind nur Unternehmen des Fleischerhandwerks mit bis zu 49 tätigen Personen.
➔ Um die Einhaltung der Mindestlohnvorschriften der Beschäftigten wirksam überprüfen zu können, gilt eine Pflicht zur elektronischen und manipulationssicheren Arbeitszeiterfassung und -aufbewahrung in der Fleischindustrie. Es wird außerdem ausdrücklich geregelt, dass Rüst-, Umkleide- sowie Waschzeiten, soweit erforderlich und dienstlich veranlasst, als Arbeitszeit mit zu erfassen sind.
➔ m Arbeitszeitgesetz wird der seit 1994 unveränderte Bußgeldrahmen aktualisiert und der Höchstbetrag für das Bußgeld von bisher 15.000 Euro auf künftig 30.000 Euro verdoppelt. Die Bußgeldrahmen im Arbeitsschutzgesetz und im Jugendarbeitsschutzgesetz werden entsprechend angeglichen.
➔ Branchenübergreifend wird der Vollzug im Arbeitsschutz verbessert. Durch Einführung einer Mindestbesichtigungsquote im Arbeitsschutzgesetz soll schrittweise eine deutliche Steigerung bei den Betriebsbesichtigungen erreicht werden. Die 96. Arbeits- und Sozialministerkonferenz hatte 2019 die Einführung einer jährlichen Mindestbesichtigungsquote von 5 Prozent der im jeweiligen Land vorhandenen Betriebe einschließlich eines Zielkorridors bis 2026 einstimmig gebilligt und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gebeten, die Absprachen gesetzlich zu fixieren.
➔ In der Arbeitsstättenverordnung werden für die Unterbringung von Beschäftigten in Gemeinschaftsunterkünften innerhalb und außerhalb des Betriebsgeländes Mindestanforderungen an die Bereitstellung festgeschrieben, die im staatlichen Regelwerk konkretisiert werden. Diese Regelungen gelten branchenübergreifend und sowohl bei direkter als auch indirekter Bereitstellung durch den Arbeitgeber. Die Arbeitgeber werden zudem verpflichtet, die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften zu dokumentieren.

Das Gesetz wurde zum 1. Januar 2021 scharf gestellt. Bereits wenige Tage später wurde dieser Beitrag veröffentlicht: Arbeitsbedingungen bei Tönnies & Co. – Fleischarbeiter trotz neuem Gesetz unzufrieden (14.01.2021):

»Catalin Mihai ist müde, erschöpft und dennoch ziemlich aufgebracht. Gerade ist er von der Frühschicht in der Fleischfabrik von Tönnies nachhause gekommen, von vier Uhr früh bis eins am Mittag hat er am Schlachtband gestanden. Nun erzählt er am Telefon, wie sich die Arbeit aus seiner Sicht in den letzten Wochen verändert hat. „Es ist alles wie vorher: Wenn du Urlaub willst, bekommst du keinen, wenn du einen Tag frei nehmen willst, sagen die Vorarbeiter geht nicht, wenn du krank wirst, drohen sie dir, wenn du nicht kommst, wirst du rauschgeschmissen“, sagt Mihai … Mihai heißt eigentlich anders, er will seinen wahren Namen hier nicht nennen – er will keinen Ärger. Fünf Jahre lang hat er für verschiedene Subunternehmer als Schlachter bei Tönnies gearbeitet. Seit Dezember ist er bei der Firma fest angestellt, erzählt er. Eine Folge der gesetzlichen Änderungen: „Die Arbeitsverträge sind genau wie die alten. Ich verdiene Mindestlohn 9,35 Euro. Wenn ich 200 Stunden pro Monat arbeite, bleiben vielleicht 1.300 Euro übrig.“ Die Arbeitsbedingungen hätten sich seitdem nicht verbessert. Im Gegenteil, sagt der 25-Jährige. Auch weil Tönnies im Betrieb offenbar mit weniger Mitarbeitern auskommen muss. „Es ist viel härter geworden, sie haben viel weniger Leute, aber genau so viel Arbeit. Die gleiche Menge Schweine“, sagt Mihai. „Das Schlachtband läuft fast genauso schnell wie immer, 73 Schweine pro Stunden müssen wir zerlegen. Mit viel weniger Leuten. Und wenn die Frauen schwere Palletten nicht heben können, sagen die Vorarbeiter – scheißegal. Weg, hau ab. Die Chefs, die Vorarbeiter sind genau dieselben, nur dass sie jetzt bei Tönnies arbeiten – solange die nicht gehen, wird sich nichts ändern.“ Auch Mihais Kollege, der ebenfalls anonym bleiben möchte, hatte auf bessere Arbeitsbedingungen gehofft – bislang vergeblich: „Jeden Tag neun Stunden, bei vier Grad über Null.“ „Wir müssen sehr schnell am Band arbeiten – jeden Tag neun Stunden, bei vier Grad über Null. Und Pausen gibt es kaum. Zwei Mal 15 Minuten pro Schicht, mehr nicht“, sagt der Fleischarbeiter.«

Natürlich hat die Firma Tönnies diese Aussagen mit einem allgemeinen Hinweis zurückgewiesen: „Alle Mitarbeiter haben einen deutschen Arbeitsvertrag im deutschen Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht.“

In dem Beitrag von Mitte Januar 2021 wurde auch Stanimir Mihaylov zitiert. Er ist Berater im Projekt „Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten“ bei Arbeit und Leben NRW, einer Weiterbildungseinrichtung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen und hat sich die neuen Verträge der osteuropäischen Schlachter genauer angeschaut. „Manche haben keine Veränderung bemerkt, weil dieselben Vorarbeiter wieder da sind, mit denen sie unzufrieden waren. Die wurden aus den Subunternehmen auch übernommen. Und die oft erniedrigende Behandlung war wieder da. Und die haben immer noch das Sagen. Das heißt, die Beschäftigten haben immer noch Angst, sich zu beschweren, über Sachen, die sie stören. Manche waren auch unzufrieden, weil sie einen etwas niedrigeren Lohn bekommen haben als vorher.“

Er wird aber auch mit diesen Worten zitiert: Doch noch sei es etwas zu früh, um wirklich zu bewerten, ob und wie das neue Gesetz wirkt.

Und nun, einige Wochen später, wurde dieser Beitrag veröffentlicht: Licht und Schatten nach dem Aus für Werkverträge. »Ein Vierteljahr nach dem Aus von Werkarbeitsverhältnissen in den Kernbereichen der Schlacht- und Fleischindustrie fällt das Fazit aus Gewerkschaftssicht durchwachsen aus.«

»Einige Unternehmen haben bereits im vergangenen Jahr die Werkarbeiter als eigene Arbeitnehmer eingestellt, sagte Szabolcs Sepsi von der DGB-Beratungsstelle «Faire Mobilität» in Dortmund: «Damit ändert sich natürlich nicht von heute auf morgen die Führungskultur oder der Umgang mit den Menschen.» Insgesamt spreche man von vielen zehntausend Menschen, die übernommen worden seien … Laut Sepsi ist nach wie vor die Wohnsituation ein großes Problem – er höre immer noch davon, dass teils sechs Personen in Drei-Zimmer-Wohnungen untergebracht seien und jeder 190 bis 200 Euro Monatsmiete bezahlen müsse. Allerdings hätten die großen Unternehmen Programme gestartet, die Situation zu verbessern.«

Er weist dann auf eine derzeit offene Baustelle hin: »Ein großes Thema unter den Beschäftigten seien die bislang erfolglosen Verhandlungen um einen Tarifvertrag für die Beschäftigten. «Das war auch in der Presse in Rumänien ein Thema», sagte Sepsi. Die Forderung nach einem Mindeststundenlohn von 12,50 Euro und 17 Euro für Facharbeiter werde von den Menschen geteilt. Das Angebot der Arbeitgeber von einem Stundenlohn von 10,50 Euro ohne einen Facharbeiterlohn habe die Menschen enttäuscht. Die Gewerkschaftsvorschläge waren aus Sicht der Arbeitgeber «realitätsfern und existenzgefährdend».«

Hintergrund: Derzeit finden Tarifverhandlungen über mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen für die rund 160.000 Beschäftigten in der deutschen Fleischwirtschaft statt. Die Gewerkschaft NGG ist mit folgenden Forderungen in die Verhandlungen gegangen: Mindestlohn von 12,50 Euro pro Stunde für alle Beschäftigten in der Schlachtung und Verarbeitung, einschließlich Geflügel, Erhöhung des Mindestlohns auf 14 Euro pro Stunde nach einer kurzen Einarbeitungszeit, Mindestlohn von 17 Euro pro Stunde für Facharbeiter. In einem weiteren Tarifvertrag sollen die Mindestarbeitsbedingungen wie Arbeitszeit, Arbeitszeitkonten, Zuschläge und Urlaub für die rund 160.000 Beschäftigten in der Branche geregelt werden. Diese Tarifverträge sollen vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt werden. Das heißt, sie gelten dann für alle Beschäftigten in der Fleischwirtschaft unmittelbar und zwingend, unabhängig davon, ob ein Arbeitgeber tarifgebunden ist. Am 29. März 2021 aber meldet die Gewerkschaft NGG: unter der Überschrift „Die Quittung gibt’s in den nächsten Wochen“, dass auch die dritte Tarifverhandlung ohne Ergebnis und ohne dass ein neuer Verhandlungstermin vereinbart wurde, unterbrochen worden ist. „Die Arbeitgeberseite hat zum dritten Mal kein ernstzunehmendes Angebot vorgelegt. Die Quittung gibt’s in den nächsten Wochen. Wir werden nun die Beschäftigten in den Betrieben über die Dauer-Blockade der Arbeitgeber informieren und zu Streiks aufrufen. Die Leute waren schon vor der heutigen Tarifverhandlung extrem sauer – die Stimmung in den Betrieben wird sich jetzt noch weiter aufheizen“, so Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Die Arbeitgeberseite hat durchaus ein Angebot vorgelegt: Ein Mindestlohn von 10,50 Euro pro Stunde ab dem 1. Juli 2021 (der gesetzliche Mindestlohn liegt seit dem 1. Januar 2021 bei 9,50 Euro pro Stunde. Also einen Euro mehr als die gesetzliche Lohnuntergrenze für diese wirklich schwere Arbeit – das ist dann das ganze Angebot der Arbeitgeber. Dass es immer noch keinen bundesweit gültigen Tarifvertrag gibt, hat Folgen für die Unternehmen der Branchen, denn: Gemäß dem Arbeitsschutzkontrollgesetz dürfen die Unternehmen der Fleischbranche somit ab dem 1. April keine Leiharbeit mehr einsetzen.

Bei der Entlohnung muss man wie immer im Leben genau hinschauen. Dazu Szabolcs Sepsi von der DGB-Beratungsstelle «Faire Mobilität» in Dortmund: »Der tatsächliche Verdienst in den Unternehmen gehe bei den Arbeitskräften weit auseinander, weil die Produktion selber stark arbeitsteilig sei, erklärte Sepsi. Für einfache Zerlege- und Verpackungstätigkeiten an den Fließbändern werde kaum mehr als Mindestlohn gezahlt. Auf der anderen Seite gebe es hochqualifizierte und gesuchte Fachkräfte, die die Tiere ausbeinen und zerlegen. Diese würden dank Zulagen auf Bruttolöhne zwischen 3000 bis 4000 Euro im Monat kommen, sagte Sepsi.

Man wird zum einen den weiteren Gang der Tarifverhandlungen im Auge behalten müssen, zum anderen den tatsächlichen Umgang mit den Beschäftigten, hierbei vor allem die Frage, ob lediglich eine Umetikettierung der Menschen stattgefunden oder tatsächliche Fortschritte bei den Arbeitsbedingungen erreicht worden sind. Und zu den Arbeitsbedingungen gehört – gerade in solchen höchst sensiblen Bereichen – die Kontrolle, ob also die Vorgaben auch wirklich in der Realität eingehalten werden. Nicht umsonst heißt ja das Gesetzeswerk aus dem Bundesarbeitsministerium „Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz)“. Davon haben wir bislang aber noch gar nichts erfahren.