Mehr als 300.000 verlorene Lebensjahre durch Covid-19? Zehn Jahre hätte jeder Verstorbene noch zu leben gehabt, den Großteil der Krankheitslast tragen Männer, so eine neue Studie

»Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts (RKI) haben errechnet, dass Covid-19 im Jahr 2020 in Deutschland insgesamt 305.641 Lebensjahre gekostet hat – 60 Prozent davon entfielen auf Männer, 40 Prozent auf Frauen«, so Werner Bartens in seinem Artikel 305.641 verlorene Lebensjahre durch Covid-19. »Diese statistischen Werte gewinnen zusätzliche Wucht mit Angabe der Jahre, die den an einer Infektion mit Sars-CoV-2 Gestorbenen vermutlich geblieben wären, hätten sie die Erkrankung nicht bekommen: Demnach beläuft sich der Verlust an Lebenszeit durch Covid-19 im Durchschnitt auf 9,6 Jahre – bei Frauen sind es im Mittel 8,1 Jahre, bei Männern sogar 11 Jahre.« Bartens stellt seinem Bericht über die Ergebnisse einer neuen Studie diesen Hinweis voran: »Das Gesamtergebnis entzieht sich weitgehend der menschlichen Vorstellungskraft, zudem stecken Leid und Tod und Tausende Einzelschicksale dahinter.«

Wie kommt man auf solche Zahlen? Zur Methodik schreiben die Wissenschaftler: »Auf Basis laborbestätigter SARS-CoV-2-Meldefälle im Jahr 2020 (Datenstand 18. Januar 2021) werden durch Tod verlorene Lebensjahre („years of life lost“, YLL) und durch gesundheitliche Einschränkungen verlorene Lebensjahre („years lived with disability“, YLD) zur Krankheitslast insgesamt („disability-adjusted life years“, DALY) aufsummiert. Die Methodik ist angelehnt an die „Global Burden of Disease“-Studie. Bestehende Vorerkrankungen werden bei der Berechnung der YLL nicht berücksichtigt. Die angelegte Restlebenserwartung berücksichtigt aber ein mittleres altersspezifisches Niveau an Morbidität.«

Die Hinweise zur Methodik findet man in der Zusammenfassung dieser Studie:

➔ Alexander Rommel et al. (2021): COVID-19-Krankheitslast in Deutschland im Jahr 2020. Durch Tod und Krankheit verlorene Lebensjahre im Verlauf der Pandemie, in: Deutsches Ärzteblatt 2021, DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0147 (online first), 12. Februar 2021

Einige wichtige Befunde der Studie findet man in dem zusammenfassenden Beitrag Verlorene Lebenszeit durch COVID-19: Schätzung zu Folgen der Pandemie:

»Im Vergleich liegt der Verlust an Lebensjahren durch COVID-19 im Jahresdurchschnitt über den „years of life lost“ durch untere Atemwegsinfekte, reicht allerdings in Bezug auf verlorene Lebensjahre nicht an das Ausmaß klassischer Todesursachen heran, wie etwa Darm- oder Lungenkrebs, Schlaganfall, COPD oder ischämische Herzerkrankungen.

Enorm sind die Unterschiede bei der geografischen Verteilung der Krankheitslast in Deutschland. Hier erweisen sich der Südosten und Süden sehr viel stärker durch den Verlust an Lebenszeit betroffen als die Mitte und der Norden Deutschlands.

Während lediglich bei 1 % der erkrankten Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren ein schwerer Verlauf der Erkrankung zu verzeichnen war, liegen die entsprechenden Werte bei den über 70-Jährigen bei mehr als 20 %.

Allerdings entstanden wegen der höheren Restlebenserwartung jüngerer Verstorbener bei Frauen 21 % und bei Männern 35 % der durch Tod verlorenen Lebenszeit vor Vollendung des 70. Lebensjahres.«

DALY („disability-adjusted life years“), die Krankheitslast insgesamt, besteht aus den durch Tod verlorenen Lebensjahren („years of life lost“, YLL) und durch gesundheitliche Einschränkungen verlorene Lebensjahre („years lived with disability“, YLD). Die Krankheitslast durch COVID-19 war in West- und Süddeutschland höher, in Nord- und Nordostdeutschland geringer. Nach Altersstandardisierung bleiben die regionalen Unterschiede bestehen. Insbesondere in Raumordnungsregionen in Bayern und Sachsen war die Krankheitslast besonders hoch. Hierin spiegelt sich das Infektionsgeschehen der ersten und zweiten Infektionswelle mit hohen Fallzahlen in Bayern und Baden-Württemberg und in der zweiten Welle insbesondere auch in Sachsen.
Quelle der Abbildung: Rommel et al 2021.

Offene Fragen

Wie immer bei solchen Studien und Berechnungsergebnissen bleiben offene Fragen. So weisen Rommel et al. (2021) selbst darauf hin, dass »bei COVID-19 von einem multikausalen Sterbegeschehen auszugehen (ist); die unikausale Erfassung der Todesursachen in Deutschland ist in dieser Hinsicht problematisch.«

Und ein weiterer Punkt ist durchaus diskussionsbedürftig – Rommel et al. (2021) schreiben zu den durch Tod verlorenen Lebensjahren (YLL) und ihrer Berechnung: »Andere Krankheitslaststudien zu COVID-19 adjustieren bei Berechnung der YLL die Restlebenserwartung für bestehende Vorerkrankungen. Demgegenüber wurde hier, angelehnt an die „Global Burden of Disease“-Studie, für alle Verstorbenen eine krankheitsunabhängige altersspezifische Restlebenserwartung angelegt. Dadurch wird die mittlere erreichbare Lebenserwartung zum Maßstab für den Verlust an Lebenszeit. Quantifiziert wird ein durch Prävention und Versorgung „idealerweise“ potenziell vermeidbarer Verlust an Lebensjahren.« Hier wäre anzumerken, dass hinter der Formulierung „krankheitsunabhängige altersspezifische Restlebenserwartung“ die Annahme steht, dass Covid-19 die Menschen einer Altersgruppe gleichsam gleichverteilt trifft hinsichtlich der tödlichen Folgen, Menschen ohne und mit Vorerkrankungen.