Wenn man in diesen Tagen die Berichterstattung in Deutschland verfolgt, dann muss man zu dem eindeutigen Befund kommen, dass hier das totale staatliche Impfversagen seine nervtötenden Schneisen schlägt. Ob es nun die Probleme der EU mit den Impfstoffherstellern sind, die am Beispiel von AstraZeneca fast schon karikaturale Ausmaße angenommen haben, oder die Tatsache, dass Heerscharen von über 80 Jahre alten Menschen selbst unter totaler Mobilmachung sämtlicher Kinder und Kindeskinder im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Glücksspiel konfrontiert werden, wenn sie versuchen, einen dieser Impftermine in einem der mehreren hundert Impfzentren des Landes zu ergattern. Und dann werden einem noch die Zahlen bereits durchgeführter Impfungen aus anderen Ländern um die Ohren gehauen, so dass man schnell in den nationalen Schützengraben getrieben wird, wobei in Deutschland bei nicht wenigen eine ganz eigene und moderne Fassung der Dolchstoßlegende kultiviert wird, dass „uns“ „die anderen“ abzocken bei dem überaus knappen Gut Impfstoffe gegen Covid-19.
Und zwischenzeitlich bringen sich immer mehr ganz unterschiedliche Personengruppen in Stellung, wer warum aber nun ganz bald an die Nadel kommen sollte. Dabei sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt und man kann sich ja durchaus bei vielen Berufsgruppen zahlreiche Argumente vorstellen, warum die alsbald geimpft werden sollten. Aber während für den Großteil der Bundesbürger eine Impfung realistischerweise noch ganz weit weg ist, was hier viele Monate meint, fühlen sich manche Politiker bereits jetzt bemüßigt, über Erleichterungen für die Geimpften im Sinne einer Aufhebung der Einschränkungen, denen wir derzeit noch alle ausgeliefert sind, lauthals zu debattieren. Für die Gastronomen könnte der Zyniker unter den Beobachtern zu der naheliegenden Empfehlung kommen, dass die unmittelbare Zukunft auf dem Seniorenteller in der Ü-80-Variante liegen wird.
Nun soll hier nicht weiter in den gekränkten nationalen Eingeweiden herumgestochert werden, denn wir haben es nicht nur mit einer Ausnahmesituation in Deutschland zu tun, sondern mit einer globalen Pandemie. Anders formuliert: Selbst wenn jetzt irgendein organisatorischer Supermann oder eine Superfrau daherkommen würde und die viel beklagte Chaotik der Nicht-Impfungen Schritt für Schritt zu einem besseren Ende drehen würde – wir leben nicht auf einer Insel, auch wenn das die vorherrschende Wahrnehmungsebene zu sein scheint. Wir sind eingebettet in eine globalen Pandemie und selbst wenn wir es schaffen würden, nur mal so hypothetisch angenommen, die Lage hier bei uns in die Nähe der Wieder-Kontrolle zu bugsieren, könnte es sein, dass der ganze Erfolg eines solchen Unterfangens atomisiert wird durch Eskalationen in anderen uns im näheren oder weiteren Umfeld umgebenden Ländern.
Denn es geht – offensichtlich schon kompliziert genug – nicht nur um die Impfungen in den an sich reichen Ländern, zu denen Deutschland gehört, sondern auch um die Frage, wie es denn für die vielen Menschen weitergeht in den bitterarmen, armen und auch in den Schwellenländern. Auch wenn der eine oder die andere an dieser Stelle abwehrend einwenden wird, dass wir uns eben nicht um die ganze Welt kümmern können (und selbst unsere Hausaufgaben nicht geregelt bekommen), so muss man doch eben zur Kenntnis nehmen, dass in den heutigen Zeiten und angesichts der gegebenen Verhältnisse nach vielen Jahren der Globalisierung alles miteinander verknüpft ist und zusammenhängt.
Selbst aus den Kerninstitutionen des globalen Kapitalismus kommen besorgte Töne: »Engpässe beim Zugang zu Impfstoffen könnten die wirtschaftliche Erholung in Ländern mit niedrigen Einkommen beeinträchtigen – und damit die Finanzstabilität der ganzen Welt bedrohen. Dieses von Ökonomen bereits mehrfach geäußerte Szenario hat nun auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem jüngsten Finanzstabilitätsbericht aufgegriffen«, so beispielsweise diese Meldung: Gefahr für die Finanzstabilität? Lesen wir weiter: „Eine ungleiche Verteilung von Impfstoffen könnte zu gefährlichen Schieflagen im internationalen Finanzystem führen“, warnt der Fonds. Zwar habe es in den vergangenen Monaten Rekordzuflüsse von Geldern in die Volkswirtschaften vieler Schwellenländern gegeben. Sollte sich jedoch die Covid-19-Pandemie in diesen Staaten mangels ausreichendem Impfstoff verschlimmern, könnte es ebenso rasch zu einer Kapitalflucht kommen, mit verheerenden Folgen für die wirtschaftliche Erholung, so Tobias Adrian, der Leiter der Kapitalmarktabteilung des IWF. Sollten einige dieser Staaten infolge eines erneuten Einbruchs ihrer Wirtschaft nicht mehr in der Lage sein, ihre Auslandsschulden zu zahlen, könne dies die globale Finanzstabilität erschüttern, so der IWF.
Nicht nur vor diesem Hintergrund, sondern aufgrund der Vernetzung der modernen Gesellschaften heutzutage müsste es eigentlich das oberste Ziel sein, nicht nur eine möglichst schnelle Impfung der eigenen Bevölkerung hinzubekommen, sondern dieses Ziel im globalen Maßstab zu sehen und entsprechend einzubetten. Denn was nützt es selbst aus einer explizit nationalen Sichtweise, wenn man zwar erfolgreich die eigene Bevölkerung mit einer Impfung zu schützen versucht, aber aufgrund der Abkoppelung der ärmeren Länder wütet dort das Virus weiter und Mutationen können sich dort entfalten – und kommen eher über kurz als lang wieder in den reicheren Ländern an. Im schlimmsten Fall erweist sich dann das Investment in den Schutz der eigenen Bevölkerung als wertlos.
Aber selbst wenn man die Zielbestimmung auf die globale Ebene heben würde, stellt sich das Problem der quantitativen Verfügbarkeit (die Wirksamkeitsfragen mal ausgeklammert an dieser Stelle), mit dem wir uns aktuell wie beschrieben herumschlagen müssen, in einer mehrfach potenzierten Art und Weise. Das verweist dann auf die Produktionsseite. Und an dieser Stelle hat sich nun eine Debatte entwickelt, in der es um eine Art Kollektivierung der bislang privatwirtschaftlich organisierten Produktion der Impfstoffe geht, was aber mit den gegebenen Rechten konfligieren würde.
Sind die Impfstoffe der wenigen Hersteller öffentliche Güter für alle? Einige Anmerkungen zu der Grundsatzfrage, wem was eigentlich gehört
Normalerweise lernen Studenten der Ökonomie am Anfang ihres Studiums, dass die allermeisten Güter, die uns umgeben, private Güter sind. Und von deren Konsum kann man ausgeschlossen werden, wenn man schlichtweg nicht über die pekuniäre Leistungsfähigkeit verfügt, sich diese Güter kaufen zu können. Oft rivalisiert man auch im Konsum dieser Güter mit anderen, die das Gut ebenfalls gerne haben und in Anspruch nehmen wollen. Aus den sich ergebenden Angebots-Nachfrageverhältnissen kommt es dann „normalerweise“ über den Preismechanismus zu einem wie auch immer gearteten Ausgleich der bedien Marktseiten. Die Studenten lernen aber auch, dass es (wie so oft im Leben) Ausnahmen vom Regelfall gibt. Und gleichsam am anderen Ende des Spektrums der Güterbegriffe, weit von den privaten Gütern entfernt, stehen die öffentlichen Güter oder auch Kollektivgüter genannt. Die zeichnen sich aus durch eine Nicht-Ausschließbarkeit sowie eine Nicht-Rivalität im Konsum dieser Güter. Klassischerweise lernen die angehenden Ökonomen dann als Beispiel für solche „Abweichler“ unter den Gütern, dass die innere und äußere Sicherheit zu diesen Kollektivgütern gehören. Und sie lernen, dass es nur sehr wenige „echte“ oder „reine“ Kollektivgüter gibt. Schwieriger wird es dann für den einen oder anderen, wenn man die Mischformen zwischen den rein privaten und den rein öffentlichen Gütern zur Kenntnis nehmen und durchdringen muss, ob nun Allmende- oder Club- bzw. Mautgüter oder sehr umstritten die sogenannten „meritorischen“ Güter, die eigentlich private Güter sind, die man aber aus welchen politischen (und auch handfest ökonomischen) Gründen nicht der Markt- und damit der dort herrschenden Preissteuerung überlassen will.
Bevor manche an dieser Stelle abwinken und darauf hinweisen, dass das doch alles nur in den Lehrbüchern der Ökonomen von Relevanz ist: Gerade in der Diskussion über die aktuelle Pandemie tauchen die Begriffe und weitaus bedeutsamer die dahinter stehenden Konsequenzen auf. Beispielsweise in diesem kurzen Beitrag von Lothar Funk: Kollektivgut: Ökonomik der Pandemiepolitik. Dort wird von einem „auch globalen Kollektivgutcharakter von Corona“ gesprochen. Was aber bedeutet das im Kontext der Impfstoffe, die von privatwirtschaftlich aufgestellten Unternehmen entwickelt, produziert und vertrieben werden? Hier werden wir nicht nur konfrontiert mit überaus komplexen Regulierungsfragen (beispielsweise hinsichtlich der Zulassung), sowie der Bedeutung temporärer Monopole in der Pharmaindustrie über Patente, sondern auch mit der Tatsache, dass es sich eben nicht um eine triviale privatwirtschaftliche Frage handelt (ein Unternehmen hat etwas erfunden und will nun berechtigterweise die Früchte der eigenen Arbeit ernten), denn die Staaten haben enorme öffentliche Mittel für die Entwicklung und Produktion der Impfstoffe zur Verfügung gestellt. Anders formuliert: Wem gehören die Impfstoffe BNT126b2 der Unternehmen BioNTech und Pfizer sowie mRNA-1273 des US-amerikanischen Unternehmens Moderna? Wirklich nur den Unternehmen? Selbst wenn man zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die beiden Wirkstoffe den genannten Unternehmen gehören – ist es dann auch selbstverständlich, dass die Verwertung der Rechte an den Wirkstoffen nach den üblichen Kriterien der privatwirtschaftlich über Patente geschützten Art und Weise erfolgen sollte angesichts einer globalen Pandemie, mit der nicht nur, aber eben auch das Problem verbunden ist, dass der übliche Mechanismus einer Verteilung der knappen Impfstoffe nach der Zahlungsfähigkeit (und der Zahlungsbereitschaft) auf dem „Markt“ für Impfstoffe zwangsläufig das Ausschlussprinzip zur vollen Entfaltung bringen muss?
Kritische Gedanken hierzu hat der an der Universität Amsterdam lehrende Daniel Loick in diesem Kommentar vorgetragen: Tödlich exklusiv. Während man in Europa versucht, die Corona-Impfstoffproduktion schnell anzukurbeln, gehen weite Teile der Welt leer aus. Der geltende Patentschutz muss dringend aufgehoben werden, um alle zu schützen, so seine Hauptthese. Wahrlich nicht nur für den Historiker interessant ist sein Einstieg in die Begründung der Forderung: »Anfang des 17. Jahrhunderts begründete der niederländische Rechtstheoretiker Hugo Grotius ein allgemeines „Recht auf unschädliche Benutzung“. Demnach muss allen Menschen die Nutzung eines Guts gewährt werden, solange dem Eigentümer dadurch kein Schaden entsteht. Es ist daher für Grotius zum Beispiel ungerecht, einem anderen zu verweigern, dass er sich an meinem Feuer ein eigenes Feuer anzündet. Ebenso illegitim ist es, Lebensmittel zu vernichten, derer man selbst nicht bedarf, oder anderen eine Quelle zu verheimlichen, aus der man getrunken hat.«
Diese alte Idee eines Rechts auf unschädliche Benutzung wird von Loick übertragen auf das Patentrecht in Bezug auf Arzneimittel. Der Patentschutz ermöglicht es Pharmakonzernen nicht nur, die Preise für Medikamente festzusetzen, sondern auch, anderen die Herstellung von Generika zu untersagen. Mit Blick auf die aktuelle Pandemie:
»Die Entwickler des bislang wirksamsten Impfstoffes, die deutsche Firma BioNTech, und ihr US-Partner Pfizer, werden in diesem Jahr allein an dem Vakzin etwa 13 Milliarden Dollar Gewinn machen. Dieser Gewinn entsteht dadurch, dass sie die Nutzung ihres Patents weiten Teilen der Welt vorenthalten: Während sich die reichsten Länder bereits den Großteil der verfügbaren Impfdosen gesichert haben, werden die ärmsten Regionen der Welt – und damit die große Mehrheit der Weltbevölkerung – noch Jahre auf einen Schutz gegen das Corona-Virus warten müssen.«
Und Loick steht mit seiner Forderung nach einer Aufhebung des Impfschutzes nicht alleine: »Bereits im Oktober letzten Jahres haben die Regierungen von Indien und Südafrika, unterstützt von über 100 weiteren Ländern, in einem Schreiben an die Vereinten Nationen gefordert, für den Corona-Impfstoff den Patentschutz aufzuheben. Eine solche Freigabe könnte die Produktionskapazitäten hochfahren und würde mittelfristig Hunderttausende Leben retten.«
➔ »Mehr als die Hälfte der WTO-Mitgliedsländer unterstützt den Antrag. Das reicht aber nicht für einen Beschluss. Normalerweise versucht die Organisation, Entscheidungen im Konsens zu treffen. Möglich ist aber auch ein Beschluss mit einer Drei-Viertel-Mehrheit. Im März treffen sich die Mitglieder des zuständigen TRIPS-Rates zu ihren nächsten offiziellen Beratungen. Dass dort eine Entscheidung getroffen wird, erscheint jedoch unwahrscheinlich. Denn unter anderem die EU, die USA, Japan und Großbritannien sind gegen ein Aussetzen des Patentschutzes. Sie verteidigen damit ein System, das vor allem Unternehmen nutzt, die in den reichen Ländern ihren Sitz haben.« (Quelle: Baars/Lambrecht 2021; TRIPS = Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights)
Christian Baars und Oda Lambrecht berichten zu der Forderung nach einer Aufhebung des Patentschutzes in ihrem Artikel Bremsen Patente die Impfstoffproduktion?: »Die weltweiten Standards zum Schutz von geistigem Eigentum, das sogenannte TRIPS-Abkommen, haben die WTO-Staaten in den 1990er-Jahren beschlossen, auch auf Druck großer Pharmakonzerne. Die Entwickler von Medikamenten oder Impfstoffen genießen seitdem umfassende Rechte. Ihre Patente sind für bis zu 20 Jahre geschützt. In diesem Zeitraum dürfen nur sie die Mittel herstellen oder produzieren lassen. Jetzt, während der Pandemie, könnte dies viele Leben kosten, sagen Kritiker der Patentregeln. Auch viele internationale Organisationen, darunter die UN-Menschenrechtskommission, die UNESCO und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), fordern einen offenen Zugang zu Daten und Informationen. Im Mai hatte die WHO bereits Rechteinhaber dazu aufgerufen, Patente in einen gemeinsamen Pool einzuspeisen. Staaten sollten entsprechende Klauseln in die Verträge mit Pharmaunternehmen aufnehmen. Doch bis heute hat … keine Firma Rechte eingespeist.«
Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle die durchaus nachvollziehbare Frage aufwerfen, warum die Pharmafirmen ihre Rechte „in einen gemeinsamen Pool“ einspeisen sollten, denn die exklusiven Patente mit ihren langen Schutzzeiten wirken wie ein (temporäres) Monopol mit allen damit verbundenen ökonomischen Vorteilen. Und möglicherweise noch schlimmer: Könnte ein solcher schritt, vor allem wenn die Unternehmen gezwungen werden, nicht am Ende dazu führen, dass kein forschendes Unternehmen mehr bereit ist, in diesem mit hohen Unsicherheiten verbundenen Bereich schnell zu handeln? In diese Richtung geht nicht überraschend auch die Argumentation aus den Riehen der Pharmaindustrie. Dazu Baars und Lambrecht:
»Vertreter der Industrie erklärten in den vergangenen Monaten wiederholt, der Schutz geistigen Eigentums mache Erfindungen erst möglich. Nur so gebe es Anreize zu investieren. Insofern sei es Unsinn oder sogar gefährlich, eine solche Initiative zu unterstützen, sagte etwa Pfizer-Chef Albert Bourla während einer virtuellen Pressekonferenz im Mai. Der Generaldirektor des Internationalen Pharmaverbands (IFPMA) in Genf, Thomas Cueni, äußerte aktuell die Befürchtung, dass Firmen möglicherweise nicht bereit seien, eine solch „außerordentliche Leistung“ wie jetzt erneut zu erbringen, wenn man ihnen sage, dass in einer Pandemie der Schutz des geistigen Eigentums nicht mehr gelte. Außerdem sei „nicht ein einziger Impfstoff mehr da, wenn man das jetzt machen würde“, sagte Cueni.«
Doch hier gibt es Widerspruch von unterschiedlichen Seiten: Beispielsweise von »Zoltán Kis vom Imperial College in London. Er forscht zu neuen Methoden zur Herstellung von Impfstoffen. Das Offenlegen von Know-How und Patenten „könnte sicher eine Lösung sein, um mehr Impfstoffe zu produzieren“ … Denn wenn man die Technologie für verschiedene Hersteller zur Verfügung stellen würde, dann könnte man „sicherlich viel mehr Impfstoffe“ produzieren.« Und auch der Begriff des öffentlichen Gutes taucht hier wieder auf: »Suerie Moon, Co-Direktorin des Global Health Centre in Genf, weist darauf hin, dass die Forschungsgrundlagen für die schnelle Corona-Impfstoff-Entwicklung jahrzehntelang an öffentlich finanzierten Universitäten geschaffen worden seien. Sie sieht vor allem Staaten in der Verantwortung. Diese sollten von Pharmaunternehmen verlangen, dass sie ihre Technologie weitergeben, „damit möglichst viele verschiedene Hersteller auf der ganzen Welt mit der Produktion beginnen können“ … Sie fordert die Impfstoff-Technologien in der jetzigen Notsituation als „globales öffentliches Gut“ zu teilen, „so dass alle auf der Welt davon profitieren“.«
➞ Nur als ergänzende Anmerkung: Selbst die deutsche Bundeskanzlerin hat sich entsprechend positioniert, also am Anfang der Pandemie, als noch kein Impfstoff vorhanden war: »Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im April vergangenen Jahres noch gesagt, es handele sich „um ein globales öffentliches Gut, einen Corona-Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen“.«
Außerdem muss man an dieser Stelle deutlich hervorheben, dass es den (meisten) Befürwortern einer Aufhebung des Patentschutzes bei den Impfstoffen in der Corona-Pandemie keineswegs um eine Art „staatliches Raubrittertum“ geht, bei dem die innovativen Pharmaunternehmen enteignet und um die Früchte ihrer wertvollen Arbeit gebracht werden. Es ist nicht nur die angesprochene Tatsache, dass enorme öffentliche Mittel für die Forschung und Entwicklung sowie den Aufbau entsprechender Produktionsanlagen zur Verfügung gestellt worden sind.*) Sondern die Unternehmen sollen nach den meisten vorliegenden Modellen im Falle einer Auflösung des herkömmlichen Patenschutzes durchaus zusätzlich – und manche fordern: „fürstlich“ – vergütet werden.
*) Daniel Loick hat das, was gerade passiert, mit diesem anschaulichen Bild beschrieben: »Eine Gemeinschaft stellt einer Privatperson Holz und Feuerzeug zur Verfügung. Diese macht damit ein Feuer, das sie dann einzäunt. Von allen, die sich an dem Feuer wärmen wollen, verlangt sie ein hohes Entgelt. Nicht nur teilt sie das Wissen, wie man am besten Feuer macht, mit niemandem, sondern sie verklagt auch alle, die nach derselben Methode ein Feuer anzünden, auf Unterlassung und Schadensersatz. Diejenigen, die kein Geld haben, das Feuer zu kaufen, erfrieren: Millionen von ihnen.«
Der »Ökonom James Love von der Organisation Knowledge Ecology International in Washington fordert schon lange ein grundlegendes Umsteuern. Er sagt, das Belohnungssystem für die Industrie müsse sich ändern, um den Zugang zu neuen Medikamenten und Impfstoffen zu verbessern. Eine Möglichkeit wäre etwa, einen globalen Fonds aufzusetzen, aus dem Prämien für die Entwicklung benötigter Arzneimittel bezahlt würden. Oder die Pharmafirmen könnten an den Umsätzen von Nachahmerprodukten beteiligt werden, wenn sie ihre Erfindungen offenlegten und dann andere Firmen die Mittel herstellen und verkaufen.«
Thomas Pogge von der Yale University verweist auf den „Health Impact Fund“**) als einen möglichen Lösungsansatz – bei dem geht es grundsätzlich um die Abkoppelung der Forschungsaufwendungen von den Preisen im Pharma-Bereich. »Beim Health Impact Fund gemeldete Pharmazeutika sind zu Herstellungs- plus Vertriebskosten zu verkaufen, bekommen dafür aber jährliche Prämien für die mit ihnen im Vorjahr jeweils erzielten Gesundheitsgewinne. Dabei werden arme Menschen voll mitgezählt, sowie auch Sekundäreffekte etwa durch abfallende Neuinfektionen«, so Pogge in diesem Interview:
**) Das Ziel des Health Impact Fund ist es, den Preis von Medikamenten von den Forschungskosten abzukoppeln. »In ihrer gegenwärtigen Form haben Arzneimittelmärkte ein Strukturproblem, das besonders armen Menschen zusetzt: Die Entwicklung neuer Medikamente wird durch unter Patentschutz erhobene Aufpreise finanziert. Das führt zu Vernachlässigung von Armenkrankheiten. Es führt zweitens dazu, dass arme Menschen keinen Zugang zu patentierten Arzneimitteln haben, selbst wenn diese billig herstellbar sind. Und es führt drittens zu Behandlungsfehlern, wo mit einem suboptimalen Mittel ein viel höherer Aufpreis zu verdienen ist als mit dem bestgeeigneten. Der Health Impact Fund würde komplementäre Anreize schaffen, die den Preis eines Arzneimittels von seinen fixen Entwicklungskosten abkoppeln und letztere mit Gesundheitsgewinnprämien abdecken«, so die Zielsetzung auf der Seite https://healthimpactfund.org/de/.
Es wird hier bereits zitiert, dass zumindest im vergangenen Jahr die Bundeskanzlerin Angela Merkel durchaus den öffentlichen Gutscharakter von damals noch gar nicht vorhandenen Impfstoffen gegen Covid-19 gesehen und auch ausgesprochen hat. Mittlerweile wird aus der von ihr geführten Bundesregierung eine solche Position verbreitet: »Auf Anfrage … teilte das in Deutschland zuständige Bundesjustizministerium nun mit, es gebe „keine Belege dafür, dass gerade der Schutz geistiger Eigentumsrechte eine angemessene Versorgung mit Produkten behindert“. Das wichtigste Mittel für eine arbeitsteilige Produktion sei die „freiwillige Erteilung von Lizenzen durch die Rechteinhaber“. Generell sieht das Ministerium den Schutz geistiger Eigentumsrechte als „einen wichtigen marktbasierten Anreiz für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen durch private Unternehmen“«, so Christian Baars und Oda Lambrecht in ihrem Artikel. Das nun ist gerade in der globalen Corona-Pandemie eine sehr „mutige“ Position, um das mal vorsichtig auszudrücken.
»In normalen Zeiten mögen Patentrechte sinnvoll sein, obwohl man sich über Laufzeiten – in Deutschland zwei Jahrzehnte plus fünf Jahre Verlängerung – streiten kann und sich generöse Ausnahmen, etwa bei Medikamenten für Entwicklungsländer, wünschen würde. In normalen Zeiten und bei nicht lebensnotwendigen Entwicklungen können Wettbewerber über Lizenzen verhandeln oder bis Ablauf der Schutzfrist warten. In der Pharmaindustrie können danach kostengünstige Generika produziert werden. Ganz anders in einer Pandemie, in der die Nachfrage fast alle Menschen betrifft. Hier sind Wartezeiten tödlich. Wenn zudem alle den kostbaren Stoff benötigen, die Nachfrage „unelastisch“ ist, kann die Verteilung nicht über Marktpreise geregelt werden«, so Andreas Dieckmann in seinem Beitrag Suspendiert den Patentschutz! Und er veranschaulicht das globale Knappheitsproblem (das noch weitaus schlimmer ausfällt als das, was die Bundesbürger derzeit erleben): »Bis Ende 2021 wird Biontech nach Firmenangaben in Kooperation mit dem Pharmakonzern Pfizer 1,35 Milliarden Dosen produzieren können, ein Großteil davon in einer zuvor von Novartis betriebenen Anlage in Marburg. Moderna plant die Produktion von bis zu 1 Milliarden Dosen, zusammen mit dem Schweizer Konzern Lonza. Von Biontechs geplanter Impfstoffproduktion haben sich EU und USA bereits zwei Drittel gesichert. Werden die Produktionsziele beider Firmen wirklich erreicht, dann können, bei zwei Dosen pro Impfschutz, 1,175 Milliarden Menschen vor Covid19 geschützt werden. Auf diesem Planeten werden aber Ende 2021 fast acht Milliarden Menschen leben! … Das Moderna-Vakzin kann bei Kühlschrank-Temperatur von 2 bis 8 Grad Celsius für längere Zeit gelagert werden und ist daher auch für ärmere Länder geeignet. Rund 6 Milliarden Menschen sind 15 Jahre oder älter. Bei einer Impfbereitschaft von 60 Prozent würden mehr als sieben Milliarden Dosen benötigt; ein utopisches Ziel angesichts der Produktionskapazitäten der beiden Unternehmensverbünde. AstraZenica könnte demnächst hinzukommen, die Welt zu impfen würde dennoch viele Jahre dauern.«
Vakzine sind also knapp und ungerecht verteilt – eine Ausweitung der Produktion unabdingbar. Andreas Dieckmann schlussfolgert: »Der Patentschutz, auch dies mag paradox klingen, hat zwar die Innovationen angetrieben, jetzt aber behindert Patentschutz den Impfschutz. Auch wenn in den Patenten hohe Entwicklungskosten stecken, werden die Aktionäre von Biontech und Moderna in den kommenden Jahren Multi-Milliardengewinne erzielen, allein schon durch die Aufkäufe der wohlhabenden Länder. In dieser kritischen Situation ist es geboten, dass auf das Monopol der Patentrechte in Zeiten der Pandemie verzichtet wird.«
Oder wenigstens: Die Sieger des Impfstoffrennens könnten dazu angehalten werden, Lizenzen zu angemessenen Preisen zur Ausweitung der Produktion zu vergeben.
Und wenn sie nicht wollen, die Unternehmen? Nach deutschem Patentrecht ist die Aufhebung eines Patentschutzes gegen Entschädigung möglich, wenn „die Erfindung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll“. (Die hier einschlägige Norm ist der § 13 Abs. 1 Patentgesetz: „Die Wirkung des Patents tritt insoweit nicht ein, als die Bundesregierung anordnet, daß die Erfindung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll.“) Das Patentrecht sieht zudem die Möglichkeit vor, „Zwangslizenzen“ im öffentlichen Interesse anzuordnen.
Auch Maurice Höfgen und Dana Moriße plädieren in ihrem Beitrag Der Markt regelt das nicht! für eine Aufhebung des Patentschutzes: »Der Staat sollte … selbst eingreifen, indem er die Patente übernimmt und per Lizenz an andere Firmen verteilt.« Ihrer Meinung nach »sollten im Fall der Patentübernahme und Lizenzvergabe die Entwickler der Patente für ihre wissenschaftlich herausragende Leistung fürstlich entlohnt werden. Auch, um Anreize für Forschung an zukünftigen Impfstoffen hoch zu halten.«
Aber Höfgen und Moriße sehen neben der Rechteproblematik, selbst nach deren Lösung, noch ein anderes Problem: »Für den Aufbau eigener Produktion ist der Staat viel zu spät dran, um kurzfristige Abhilfe zu schaffen. Das hätte weit im Voraus passieren müssen. Stattdessen sollten deshalb Pharma- und Biochemieunternehmen an einen Tisch geholt und die Situation als absolute Notlage besprochen werden. Wer kann was beisteuern? Wo sind Engpässe? Welche Finanzierung braucht es?«
Anders gesagt. Wie (und dann auch noch schnell) kann man die Produktionsmengen ausweiten? Um es deutlich zu sagen: Man wird das Problem nur unbefriedigend lösen können, denn die Produktion der Impfstoffe ist ein technologisch höchst anspruchsvoller Prozess, den man nicht per Knopfdruck anstoßen und hochfahren kann.
Die hier angedeuteten produktionsseitigen Beschränkungen solle man auch immer vor Augen haben, wenn Ökonomen mit ihrem Lieblingsinstrument herumfuchteln: Den Preisen.
Dazu beispielsweise dieser neue Vorstoß: Ökonomen fordern Prämien für Impfstoffhersteller: »Pharmaunternehmen sollten nach Ansicht von Ökonomen mit Prämien zur schnelleren Lieferung von Corona-Impfstoffen bewegt werden. „Angesichts der immensen Kosten, die der Gesellschaft durch die Pandemie und die Lockdowns in ganz Europa entstehen, sollte diese Prämie sehr hoch sein“, verlangen …. Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts in München, und Daniel Gros, Mitglied des Vorstands am Centre for European Policy Studies (CEPS) in Brüssel.«
Konkret sind es zwei Ökonomen, die sich mit dieser Veröffentlichung in die aktuelle Impfstoffdebatte eingeschaltet haben:
➔ Clemens Fuest und Daniel Gros (2021): Impfstoffe: Wie man marktbasierte Anreize nutzt, um die Produktion hochzufahren. ifo Schnelldienst digital Nr. 3/2021, 30.01.2021
Dazu berichtet das ifo-Institut unter der Überschrift EU sollte Pharmaunternehmen Prämien für früher gelieferte Corona-Impfdosen bezahlen: »Die EU sollte den säumigen Lieferanten von Covid-Impfstoffen eine zusätzliche Prämie für jede zusätzliche, früher gelieferte Dosis zahlen. Das fordern die Ökonomen Clemens Fuest (ifo Institut) und Daniel Gros (CEPS) in einem aktuellen Beitrag. Die Stellungnahme ist eine Reaktion auf die wenig verbindlichen Bedingungen in den Verträgen mit den Pharmaherstellern, die nun zu einem schleppenden Verlauf der Impfmaßnahmen führen. Die zusätzlichen Kosten für die Aufstockung der Impfstoffversorgung für Europa könnten sich auf einige Milliarden Euro belaufen, schreiben die Autoren. „Die Prämien rechnen sich dennoch, denn sie wären immer noch sehr viel günstiger als ein längerer Lockdown wichtiger Teile der EU mit ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung von 14 Billionen Euro“ erläutert Fuest. „Dazu kommen die langfristigen Kosten für die Schließung von Schulen und – nicht zuletzt – der Verlust von Menschenleben.“ Jede zusätzliche Impfstoffdosis, die im Jahr 2021 geliefert wird, hat nach Schätzungen vorliegender Studien einen Wert von etwa 1500 Euro für die Gesellschaft, führen die Autoren aus, ein Vielfaches des Preises, der derzeit bei höchstens 15 Euro liegt. Die Prämie sollte zu Beginn ein Vielfaches des bislang vereinbarten Preises betragen und im Laufe der Zeit sinken. Auf diese Weise hätten die Unternehmen einen starken Anreiz, die Produktion hochzufahren.«
Man muss sich vor Augen führen, was hinter der Argumentation steht – zugespitzt formuliert: Wenn man den Impfstoffherstellern nur ein richtig großes Bündel mit Geldscheinen auf den Tisch legt, dann haben die einen „Anreiz, die Produktion hochzufahren“ und man könnte schnell die Menschen mit Impfstoffen versorgen. Wenn das wirklich so wäre, dann wäre das schlichtweg skandalös, da offensichtlich die Möglichkeit besteht, die Produktion dieses so dringend erwarteten Gutes auszuweiten und die Unternehmen das trotz milliardenschwerer Vorfinanzierung seitens der EU bzw. der Einzelstaaten nicht tun. Man könnte dann auch gleich noch die Vertreter der öffentlichen Hand, also vor allem die EU-Kommission in Haftung nehmen, da sie offensichtlich nicht darauf geachtet hat, in die Verträge den Milliarden an Fördermitteln auch eine glasklare Lieferverpflichtung zu schreiben. Aber das kann man von außen zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht wirklich feststellen, dazu fehlen die notwendigen Hintergrundinformationen.
Aber das ist auch gar nicht entscheidend, wenn gelten würde: Die Anreiz-Annahme der beiden Ökonomen hat einen entscheidenden Fehler – sie setzt voraus, dass die Unternehmen in dem Moment, wo die massive und wohlgemerkt zusätzliche Vergütung zu der sowieso schon vereinbarten Summe fließt, ihren Fabriken eine Mail schreiben, dass dir nun die Produktion mal eben verdoppeln, verdreifachen oder noch mehr können. Was aber, wenn das bei den begrenzten Kapazitäten gar nicht geht? Selbst das mögliche Argument der Ökonomen, dann würde durch die mehr als fürstliche Zusatzvergütung ein starker Anreiz für die Impfstoffhersteller ausgelöst werden, neue Produktionskapazitäten hochzuziehen, ist wenn, dann rein theoretischer Natur, denn man kann die zur Impfstoffherstellung erforderlichen Anlagen nicht mal eben „hochziehen“, das würde eine längere Zeit in Anspruch nehmen und mit dem Ausgangspunkt des Vorschlags kollidieren, man wolle eine Lösung vorschlagen, wie man schnell zu deutlich mehr Impfstoff kommen kann.
Aber selbst wenn wir rein hypothetisch davon ausgehen, dass das Modell, wir schmeißen die Hersteller jetzt aber richtig zu mit Geld, erfolgreich sein sollte (wofür derzeit nichts wirklich spricht), dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass das, was in diesem Beitrag umfassend angesprochen wurde, also die massive und im wahrsten Sinne des Wortes tödliche Ungleichheit beim Zugang zu den Impfstoffen in globaler Hinsicht, sogar noch verstärkt werden könnte, denn warum sollten die Unternehmen, die weiter von ihren monopolistischen Verwertungsrechten profitieren können, darauf verzichten, mit Blick auf die reichen Abnehmerstaaten den Preis noch ein wenig hochzutreiben?
Man kann (und muss wahrscheinlich) noch mal mehr Geld in die Hand nehmen. Dann aber nur, wenn die Systemfrage nicht nur gestellt, sondern auch gleichzeitig zugunsten des globalen öffentlichen Gutes gelöst wird.