Viele Schulleitungen verzweifeln an Corona und der damit verbundenen un-möglichen Arbeit. Zugleich eine kleine Lehrstunde in Theorie und Praxis der vielbeschworenen Digitalisierung

Seien wir ehrlich – während der ersten Corona-Welle im Frühjahr, als im damaligen Lockdown auch die Schulen geschlossen wurden, da gab es viel Kritik an dem Un-Vermögen der Lehranstalten, die ihnen anvertrauten junge Menschen alternativ zu versorgen mit Bildungsstoff. Man konnte Stunden verbringen im Bekanntenkreis, wo dann – von erwartungslos zynisch bis das angestrebte zukünftige Leben der eigenen Projektkinder vor Augen hyperventilierend – detailliert von den Schlachtfeldern des Homeschooling berichtet wurde, von irgendwelchen als PDF- oder zuweilen als jpg-Bilddateien eingescannten Aufgaben, die von den Schülern selbstständig bearbeitet werden sollten, über abgetauchte Lehrkräfte bis hin zu Eltern, die sich gefälligst selbst über WhatsApp-Gruppen organisieren und und Informationen aus der Schule untereinander verteilen sollten. Aber es gab auch Berichte über zahlreiche gute Beispiele eines engagierten und die eigenen Schüler digital eng begleitenden Fernunterrichts. Über Schulen, die weit vorangeschritten sind auf dem Weg der vielbeschworenen Digitalisierung und in denen schnell umgeschaltet werden konnte zwischen analoger und digitaler Welt.

Die Streuung zwischen Alpha und Omega ist nicht überraschend, wenn man berücksichtigt, dass es im Schuljahr 2019/2020 in Deutschland allein 32.332 allgemeinbildende Schulen gab, außerdem 8.534 berufliche Schulen und 1.794 Schulen des Gesundheitswesens, wir also über mehr als 42.600 Lehranstalten sprechen. Und wenn man neben der Tatsache, dass wir es mit einem joch komplexen föderalen System bei den Lehrkräften mit Menschen zu tun haben, von derem tatsächlichen Handeln oder Nicht-Handeln neben der formalen Qualifikation in großem Umfang die Qualität dieser „personenbezogenen Dienstleistung“ abhängt, wie übrigens auch in vielen anderen Bereichen, man denke hier an die Pflege oder die frühkindliche Bildung und Betreuung.

Und seien wir ebenfalls an dieser Stelle ehrlich: In der ersten Welle gab es auch zahlreiche kritische bis gehässige Anmerkungen zu „den“ Lehrern, als sich viele als Risikogruppen dem Präsenzunterricht entziehen wollten. Und dass man die Schulen doch nicht wieder öffnen könne angesichts der damit verbundenen Gefahren. Die wollen sich vor ihrer Arbeit drücken, dieses Narrativ hat man oft gehört.

Und im November des Corona-Jahres 2020? Da ist es still geworden um diesen letzten Punkt, denn mit Blick auf die Schulen, auf die Schüler und die Lehrer, muss man den Eindruck bekommen, dass die „bis zur letzten Patrone“ durchhalten müssen an der Präsenzfront (während sich viele gerade der besser qualifizierten Arbeitnehmer erneut oder immer noch in ihr Homeoffice zurückgezogen haben, mit stoßgelüfteten Klassen- oder Kursräumen, bei weiterhin völlig überfüllten Schulbussen, mir Mund-Nase-Schutz und ausgetüftelten Wegeleitsystemen innerhalb der Schulgebäude, deren Schutzwirkung dann draußen oftmals ad absurdum geführt wird. Und dennoch muss man zur Kenntnis nehmen, dass die meisten Lehrer nach außen klaglos den Gestellungsbefehlen ihrer Dienstherren und -mütter Folge leisten und in diesen Tagen – in denen man fast versucht ist, zu Winterspenden aufzurufen, um die Schüler mit ausreichend warmen Decken und sonstigen wärmespendenden Textilien auszustatten – so etwas wie einen „normalen“ Unterricht aufrechtzuerhalten, koste es, was es wolle.

Und das politisch vorgegebene Durchhalten an der Präsenzfront wird nicht nur gestützt durch zahlreiche Aufforderungen aus den Reihen der Unternehmen, die darauf hinweisen, dass man offene Kitas und Schulen brauche, damit die eigenen Beschäftigten zur Arbeit kommen können, sondern auch durch ein Feuerwerk an wissenschaftlichen Veröffentlichungen vor allem aus dem Lager der Ökonomen, mit denen belegt werden soll, wie groß (angeblich) die Schäden für die jungen Menschen sind, wenn sie nicht in den oftmals maroden Schulgebäuden zum Präsenzunterricht erscheinen.

➔ Dazu nur als ein Beispiel aus der entsprechenden Literatur: »Wie werden sich die mehrmonatigen Schließungen der Schulen für alle Schüler*innen aufgrund der Corona-Pandemie auf die zukünftige Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen auswirken? In der empirischen Wirtschaftsforschung gibt es kaum robustere Befunde als den positiven Einfluss von Schulbesuch und Kompetenzerwerb auf wirtschaftlichen Wohlstand. Geht etwa ein Drittel eines Schuljahres an Lernen verloren, so geht dies über das gesamte Berufsleben gerechnet im Durchschnitt mit rund 3–4% geringerem Erwerbseinkommen einher.« Das findet man in dieser Publikation des Bildungsökonomen Ludger Wößmann:
➞ Ludger Wößmann (2020): Folgekosten ausbleibenden Lernens: Was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der Forschung lernen können, in: ifo Schnelldienst, Heft 6/2020

Und Studien spielen auch eine gewichtige Rolle wenn es um die Frage geht, ob und wenn ja, in welchem Umfang die geöffneten Schulen zum Infektionsgeschehen beitragen oder nicht, vgl. dazu beispielsweise den Versuch einer Übersicht in dem Artikel Cluster, Treiber oder sicher? Angesichts der Komplexität des Themas ist diese Bilanz am Ende des Beitrags nicht überraschend: »Dass die Schulen „Treiber“ der Pandemie sind, lässt sich durch die vorliegende Zahlen nicht belegen. Allerdings lässt sich auch nicht die Behauptung belegen, die Schulen seien „sicher“ und spielten beim Infektionsgeschehen keine Rolle.«

Von der grauen Theorie zu den Mühen der Ebene: Irgendjemand muss das vor Ort organisieren

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie
und grün des Lebens goldner Baum.

(Mephistopheles im Studierzimmer, in: Faust. Der Tragödie erster Teil, Johann Wolfgang von Goethe)

Ob man nun die Schulen als goldene Bäume bezeichnen mag, sei jedem selbst überlassen, aber eines ist gewiss: Wenn man junge Menschen und ihre Lehrer in die Schulen ruft, dann muss das unter den besonderen Bedingungen der Corona-Pandemie mit zahlreichen besonderen und zusätzlichen Arbeiten verbunden sein, um einen halbwegs Normalität simulierenden Unterricht gewährleisten zu können. Zudem muss permanent und schnell reagiert werden, wenn es doch zu Corona-Ausbrüchen kommen sollte. Und das schon vor Corona immer wieder kritisierte Problem des Mangels an Personal in vielen Schulen muss sich logischerweise verstärken, wenn Lehrkräfte beispielsweise in Quarantäne müssen oder gar krankheitsbedingt (länger) ausfallen. Das muss alles organisiert werden und dafür gibt es dann die Schulleitungen.

Nun wird sich der eine oder andere daran erinnern, dass bereits in der Zeit vor Corona, die noch gar nicht so lange, nämlich nur wenige Monate, her ist (auch wenn man subjektiv ein anderes Empfinden hat), immer wieder und vor allem immer öfter berichtet wurde, dass gerade die Schulleitungen zu einem Nadelöhr geworden sind, denn viele Leitungsstellen waren und sind unbesetzt, immer weniger Lehrer, gerade an den zahlenmäßig vielen Grundschulen, hatten bzw. haben noch Interesse, den Weg in eine Schulleitungsposition zu gehen. Das war schon vor Corona ein ernstes Problem, das sich in Ausnahmezeiten wie jetzt unter Corona natürlich nochmals potenziert.

Vor dem generellen Hintergrund, dass Schulleitungen zunehmend zu einer mehr als „knappen Ressource“ geworden sind (wie die Ökonomen das ausdrücken würden) und angesichts ihrer Bedeutung für die Realisierung des vorgegebenen Ziels, die Schulen so lange wie möglich offen und im Präsenzbetrieb zu halten, ist es besonders bedeutsam, einmal hinzuschauen, wie es bei denen aussieht, die das vor Ort dann umsetzen müssen.

Anlässlich des digital stattfindenden Deutschen Schulleiterkongress vom 26. bis 28. November 2020 hat der Verband Bildung und Erziehung (VBE) eine repräsentative Umfrage unter Schulleitungen beim forsa-Institut in Auftrag gegeben. Für die Umfrage wurden im Oktober und November 2020 bundesweit 785 Schulleitungen allgemeinbildender Schulen befragt. Die Ergebnisse kann man hier nachlesen:

➔ forsa Politik- und Sozialforschung (2020): Die Corona-Krise aus Sicht der Schulleiterinnen und Schulleiter. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung, Berlin, 13.11.2020

Man kann ja mal versuchen, mit einer erfreulich daherkommenden Botschaft zu beginnen und nicht gleich die Probleme aufzurufen. »Positiv überraschend: An mittlerweile 83 Prozent der Schulen gibt es intakte Sanitäranlagen«, berichtet der VBE in seiner Mitteilung über die Ergebnisse der Schulleiter-Befragung. Der VBE Bundesvorsitzende, Udo Beckmann, wird mit diesen Worten zitiert: „Die Aufmerksamkeit, die diesem Thema in den letzten Jahren zugekommen ist, hatte bisher nicht ausgereicht. Die notwendigen Hygienemaßnahmen im Rahmen der Pandemie sorgten nun aber für Verbesserung. So gaben immerhin 6 Prozent mehr Schulleitungen an, dass sich der Zustand seit Beginn der Pandemie verändert hat.“ Es gibt also Hoffnung.

Eine Zusammenfassung wichtiger Teilbefunde aus der Befragung findet man in dem Artikel Schulleitungen verzweifeln an Corona von Amory Burchard:

»Die Zufriedenheit und die Motivation der Schulleiter und Schulleiterinnen in Deutschland sinkt mit der Dauer der Corona-Pandemie. Übten 2019 noch 58 Prozent der Schulleitungen ihren Beruf sehr gerne aus, sind es aktuell nur noch 24 Prozent. Das größte Problem an ihren Schulen sehen 42 Prozent in der fehlenden Digitalisierung an ihrer Schule … Der Anteil an hochqualifizierten und engagierten Lehrkräften, die an der Spitze von Kollegien stehen, aber nur noch ungern zur Arbeit gehen, ist seit 2019 von vier auf 27 Prozent gestiegen. Der Anteil derer, die ihre Aufgaben häufig zu ihrer eigenen Zufriedenheit erfüllen, sank von 73 auf 60 Prozent. Und jede dritte Schulleitung gibt zu, nur noch selten mit ihrer Leistung zufrieden zu sein (2019: 17 Prozent) … Besonders vernachlässigt sehen sich die Rektor*innen von der Schulaufsicht: Fühlte sich bei einer VBE-Umfrage Anfang 2020 noch gut die Hälfte von den Kultusbehörden gut unterstützt, ist es jetzt nur noch ein Drittel … Nach der fehlenden Digitalisierung (42 Prozent) stehen aber das fehlende Personal (31 Prozent) und die Einhaltung der Abstandsregeln sowie die beengte Raumsituation (25 Prozent) ganz oben bei den Stressfaktoren für die Schulleitungen.« (Hervorhebungen nicht im Original)

Da ist sie wieder, die Digitalisierung, hier als eines der größten Baustellen von den Schulleitern benannt. »Zwar geben 61 Prozent der Schulleitungen an, dass ihre Schule Geld aus dem Digitalpakt erhält (vor der Coronakrise: 33 Prozent), 49 Prozent haben einen Anschluss ans Breitbandnetz und 40 Prozent W-Lan in jedem Klassen- und Fachraum (jeweils plus sieben Prozentpunkte). Doch nur 15 Prozent der Schulleiter*innen sehen ihre Lehrkräfte „durch staatliche Fortbildungen auf den Einsatz digitaler Medien im Unterricht hinreichend vorbereitet“. Nur 13 Prozent sagen, Lehrerinnen und Lehrer hätten Zugang zu einem digitalen Dienstgerät. Und nur sechs Prozent erklären, dass jede Schülerin und jeder Schüler über ein eigenes digitales Endgerät verfügt«, berichtet Amory Burchard. Der Beitrag schließt mit diesem Fazit: »Der VBE-Vorsitzende geht davon aus, dass die für den Hybridunterricht notwendige digitale Ausstattung flächendeckend erst Ende 2021 zur Verfügung stehen wird. Und das dürfte noch eine optimistische Einschätzung sein.«

Zuweilen hilft der Blick auf die konkrete Situation vor Ort, um zu verstehen, dass wir es hier beim Thema Digitalisierung mit einem teilweise nur als kafkaesk beschreibbaren Abgrund zu tun haben, der sich nicht nur auf die Frage nach der Ausstattung mit irgendwelchen digitalen Endgeräten reduzieren lässt:

Nehmen wir als eines von vielen Beispielen diesen Artikel: Lichtenberg: Grundschule beendet digitalen Unterricht vorerst, berichtet die Berliner Zeitung. Schauen wir mal genauer hin: »Die Schule stieß bei der Suche nach geeigneten Lernplattformen auf Probleme. Nach einer Rüge durch die Datenschutzbeauftragte lernen die Schüler nun analog«, erfahren wir dort. Was ist passiert?

»Eine Grundschule in Lichtenberg hat den digitalen Unterricht vorerst komplett eingestellt. Grund seinen Probleme mit dem Datenschutz auf digitalen Lernplattformen, berichtete die Direktorin … Nach dem Lockdown im März habe die Schule wie viele Andere auch ein Medienkonzept erstellt. Allerdings stieß sie bei der Suche nach geeigneten Lernplattformen auf Probleme. Um Plattformen wie Microsoft-Teams im Unterricht verwenden zu können, habe sich die Schule die Einverständniserklärung der Eltern holen wollen. Ein Elternteil schaltete daraufhin die Datenschutzbeauftragte ein. Die Schule erhielt eine Rüge, wegen „datenschutzwidriger Nutzung der Software“, berichtete die Beauftragte dem rbb. Um die empfohlene Software Big Blue Button verwenden zu können, benötigt die Schule aber einen eigenen Server. Laut Schulleiterin wurde dieser im März bestellt, im Dezember soll er geliefert werden. Ebenso warte die Schule auf Tablets und Handys, denn durch die Verwendung privater Endgeräte entständen weitere Sicherheitslücken. Ein Elternsprecher zeigte sich verärgert. Seit März habe „sich in der Politik niemand darum gekümmert, dass das ganze digitale Lernen datenschutzrechtlich auf sicheren Füßen steht“.«

So ist das. Wohlgemerkt, eines von vielen Beispielen. Und selbst der Hinweis, dass es doch Schulen gibt (ja, die gibt es), in denen das mit dieser Digitalisierung sehr gut funktioniert und wo die Schüler gute Erfahrungen machen dürfen mit digitalen Unterrichtsformen, hilft nicht wirklich weiter, wenn man die eben nicht nur im engeren Sinne sozial- und bildungspolitisch relevante Dimension berücksichtigt, dass neben allen Unterschieden durch das unterschiedliche Niveau des Engagements der Lehrkräfte sowie der konkreten Schulkultur immer auch die vor Corona bereits vorhandenen Spaltungslinien und Ungleichheiten zwischen den Schulen, vor allem in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund der jungen Menschen und der sozialräumlichen Verortung der Schulen zu einer systematischen Unwucht führen (müssen). Es gibt wahrlich noch viel zu tun.