Tönnies darf wieder Schweine schlachten und zerlegen lassen. Und wie geht es mit denen weiter, die das „Schweine-System“ am Laufen halten?

Das geht jetzt schneller, als die möglicherweise in Kurzarbeit und Homeoffice befindlichen Nachrichten-Redaktionen dies in Worte zu formen in der Lage sind. »Tönnies darf seit Donnerstag (16.07.2020) wieder schlachten – zunächst geringere Mengen und unter strengen Auflagen mit neuem Hygienekonzept. Ob sich dadurch für die Arbeiter nachhaltig etwas ändert, bleibt fraglich«, so die erste Meldung des WDR: Wiederaufnahme der Schlachtungen: Was ändert sich bei Tönnies? NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hatte am Morgen angekündigt, dass das Schlachtunternehmen ab sofort strenger von den Behörden kontrolliert werde: „Tönnies wird völlig anders arbeiten als vorher.“ »Die ersten Schweine sind bereits angeliefert worden, nach der Schlachtung folgt in der Produktionskette die Zerteilung der Tiere für die weitere Verarbeitung. Allerdings steht die Genehmigung für den zweiten Produktionsschritt noch aus. Diese hat die Stadtverwaltung von Rheda-Wiedenbrück noch nicht erteilt«, so diese Meldung aus der ersten Runde: Tönnies startet Schlachtbetrieb nach Zwangspause. Und dann einige Stunden später: Tönnies: Alle Produktionsbereiche wieder am Start: »Nach der Wiederaufnahme des Schlachtbetriebes am Donnerstag (16.07.2020) ist für das Tönnieswerk nun auch wieder die Schweine- und Sauenzerlegung frei gegeben. Ab Freitag dürfen die 2.714 Arbeiter das Werksgelände betreten und ihre Arbeit schrittweise wieder aufnehmen. Das teilt die Stadt Rheda-Wiedenbrück am Donnerstagabend mit.«

Seit vier Wochen ist die hocheffiziente Tötungsanlage des Tönnies-Konzerns in Rheda-Wiedenbrück im coronabedingten Lockdown und das jetzt alles so schnell gehen muss mit dem Wiederhochfahren hat erst einmal und wahrscheinlich ausschließlich betriebswirtschaftliche Gründe, die nicht nur beim Schweinebaron Tönnies selbst liegen, sondern die mit solchen Zahlen aus dem an sich durchgetakteten Produktionssystem Fleisch erkennbar werden:

»Es geht um 100.000 Schweine. Pro Woche. Seit vier Wochen. Also um jetzt schon 400.000 Schweine, die nicht wie geplant geschlachtet werden können. Sie stauen sich in den Ställen. Sie blockieren den Platz für nachrückende Ferkel, sie müssen fressen, sie kosten zu viel Geld und nehmen zu viel zu. Sie passen nicht mehr ins System«, so Merlind Theile unter der Überschrift Wohin mit 400.000 Schweinen, die nicht geschlachtet werden können. Das »Schwein ist zu einem Störfall geworden, den kurzfristig niemand zu beheben weiß. Die Stilllegung von Europas größtem Schlachthof ist für die Industrie wie ein Fehler in der Matrix. Bis zu 14 Prozent der deutschen Schlachtkapazität stellte Tönnies bereit, sie fallen jetzt weg … Die effiziente Maschinerie, die der Mensch zur Produktion von Wurst und Fleisch ersonnen hat, ist ins Stocken geraten. Das Problem ist nun, dass die Lebewesen weiterleben.« Während man beispielsweise Autos oder andere Teile zur Not zwischenlagern kann in der Hoffnung auf eine Auflösung der Absatzverstopfungen, ist das bei den Schweinen schwieriger. Und das treibt nicht nur die Schweineproduzenten in die Bredouille, sondern man kann das auch an den Preisen ablesen: »Ein Preiskampf tobt ohnehin schon, da das Angebot an Tieren für den Schweinemarkt jetzt zu groß ist. Für ein Mastschwein bekommt ein Bauer nun etwa 150 Euro, rund 50 Euro weniger als vor dem Beginn der Corona-Krise mit folgender Schließung des Schlachthofs von Tönnies. Die schwereren Schweine sind grundsätzlich weniger wert: Das System honoriert nur jene Tiere, die im „Gewichtskorridor“ bleiben, die nicht „aus der Maske wachsen“, wie es in der Branche heißt.« Man kann sich vorstellen, welcher Druck von dieser Seite aufgebaut wurde, Tönnies so schnell wie möglich wieder ans Netz zu lassen.

➔ Merlind Theile ermöglicht uns einen Parcours-Ritt durch die Tiefen und Untiefen einer hochgradig durchoptimierten Landschaft der Fleischproduktion, in dem zahlreiche Zahnräder wie in einer durchautomatisierten Fabrik ineinander greifen (müssen): »26 Millionen Schweine gibt es in Deutschland, nahezu alle werden konventionell gehalten. Von der Besamung der Sau über die Geburt des Ferkels bis zum schlachtreifen Schwein braucht es ungefähr 300 Tage. Dieses Schweineleben findet nach ganz bestimmten Normen statt, in die das Tier sich bisher fügte, ohne weiter aufzufallen. Es wurde geboren, gemästet, geschlachtet, zerteilt, dem industriellen Korsett gemäß.
Sein Lebenszyklus gestaltet sich wie folgt: Besamung der fixierten Muttersau mit Plastikschlauch und Spermabeutel. Durchschnittliche Tragezeit: drei Monate, drei Wochen und drei Tage. Durchschnittliche Wurfgröße: 13 Ferkel. Mitunter sind es bis zu 20, was Pech für manche Ferkel ist, da die gängige Muttersau nur 12 bis 14 Zitzen hat. Alsdann Anpassung der durchkommenden Ferkel an die Haltungsbedingungen: Abschneiden des Ringelschwanzes mit der Stanzmaschine, Heraustrennen der Hoden mit dem Skalpell (bekannt als betäubungslose Ferkelkastration), Abschleifen der Vorderzähnchen mit der Bohrmaschine, damit die Zitzen der Muttersau unversehrt bleiben. Drei bis vier Wochen Säugen der Ferkel, die Mutter ist dabei fixiert im Kastenstand. Leistung der Sau im Schnitt pro Jahr: 2,32 Würfe. Immer neue Ferkel, sobald es eben geht. Nach Absetzen sechs bis acht Wochen Aufzucht auf Plastikspaltenböden bis zum Gewicht von etwa 30 Kilo. Anschließend 14 bis 16 Wochen Ausmast auf Betonvollspaltenböden, Gewichtszunahme im Schnitt pro Tag rund 850 Gramm. Gewünschtes Schlachtgewicht des Schweins: maximal 106 Kilo. Auf diese Zielgröße ist in der Maschinerie alles geeicht. Der Platz pro Schwein im Stall (gesetzlicher Mindeststandard: 0,75 Quadratmeter). Die Tötung der Tiere und ihre Fließbandverarbeitung in den großen Schlachthöfen à la Tönnies, die längst den Markt dominieren. Und schließlich auch die Fleischverpackungen, die der Lebensmittelhandel im Selbstbedienungssegment anbietet … Die Produktion von Schweinefleisch gleicht heute einem riesigen Räderwerk, in dem für gewöhnlich jedes einzelne Teilchen geschmeidig in das nächste greift. Man kennt solche normierten Prozesse aus anderen Industrien, etwa aus der Autobranche.«

Nun könnte der eine oder andere berechtigterweise die Frage aufwerfen, was denn mit den Schlachthof-Arbeitern ist, deren skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen in den vergangenen Wochen im Windschatten der Aufregung über die Corona-Infektionen in den Medien (wieder einmal) thematisiert wurden – vgl. dazu auch meinen Blog-Beitrag Tönnies und die doppelt vergessenen Unsichtbaren an den Fließbändern der Fleischindustrie vom 13. Juli 2020. In der ersten WDR-Meldung vom 16.07.2020 konnte man zu der Situation der Beschäftigten und speziell zu den osteuropäischen Werkvertragsarbeitnehmern noch lesen:

»Menschen, die Werkvertragsarbeiter beraten und für deren Probleme da sind, haben große Zweifel daran, dass sich an deren Lebens- und Arbeitsbedingungen viel verändern wird. Armin Wiese von der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) war überrascht, dass der Betrieb so schnell wieder aufgenommen werden durfte: „Gespannt sind wir auf jeden Fall, ob das alles so funktioniert und eingehalten werden kann, aber leider haben wir darin keinen Einblick.“
Viele Beschäftigte machen sich laut Wiese Sorgen um ihre Arbeitsplätze. Weil weniger Fleisch verarbeitet wird, werden auch weniger Mitarbeiter benötigt. Diejenigen, die auch jetzt – nach der Quarantäne – noch nicht arbeiten dürfen, fragen sich, ob sie trotzdem bezahlt werden … Auch ob sich durch regelmäßige Kontrollen die Unterbringungen von Werkvertragsarbeitern verbessern, fragen sich viele. „Die Enge in den Wohnungen und die hygiensichen Zustände verändern sich ja logischerweise nicht von heute auf morgen“, gibt Volker Brüggenjürgen von der Caritas im Kreis Gütersloh zu bedenken. Bisher gebe es nur Ankündigungen und Erklärungen, aber nichts würde umgesetzt.«

Und wahrlich nicht beruhigend wird dann der Landrat des Kreises Gütersloh, Sven-Georg Adenauer, mit den aufschlussreichen Worten zitiert, »dass die Kommunen, in denen die Menschen leben, die Aufgabe hätten, die Wohnsitutation zu verbessern. „Als Kreis können wir uns da schlecht einmischen, dafür sind wir zu weit weg“, so der Landrat. Auch der Tönnies-Konzern sei dafür in die Pflicht zu nehmen.«

Man hört ihn schon wieder wiehern, den bis aufs Skelett abgemagerten Gaul der (Nicht-)Zuständigkeit.

In der späteren WDR-Meldung – Tönnies: Alle Produktionsbereiche wieder am Start – kann man dann lesen (und man sollte genau lesen):

»Auch für die Werkvertragsarbeiter soll sich einiges ändern: Die Wohnraumkontrollen werden verstärkt, falls die Räumlichkeiten in den Bereich der Arbeitsstättenverordnung fallen. Die Wohnraumbewirtschaftung wird mittelfristig eine eigens dafür zu gründende Gesellschaft übernehmen. Die Mitarbeiterbeförderung wird optimiert: Je Fahrzeugtyp ist eine maximale Personenanzahl vorgegeben. Außerdem soll eine Datenbank für Adressen der Beschäftigen entstehen.«

Ja Wahnsinn: wenn und mittelfristig – und es soll. Es soll eine Datenbank mit den Adressen der Beschäftigten entstehen. Man kann sich nur die Haare raufen, wenn man noch welche hat.

Und wie ist das jetzt mit den bösen Werkverträgen? Die sollen doch verschwinden. Aber was kommt dann, wenn das passiert?

Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte auf dem Höhepunkt der empörungsgeschwängerten Berichterstattung über die Zustände im Tönnies-Schlachthof die Gunst der Stunde genutzt und in der Koalition ein gesetzliches Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in den Kernbereichen der Fleischindustrie angekündigt, dass mit dem nächsten Jahr Wirklichkeit werden soll. Seine Ministerialen brüten seitdem über einen Gesetzentwurf, der bis Ende Juli vorgelegt werden soll um dann nach der Sommerpause in das parlamentarische Verfahren eingespeist zu werden.

Wenn man um den jahrelangen Missbrauch dieses Instrumentariums (nicht nur, aber gerade) in der Fleischindustrie weiß und die elenden Bedingungen der schwächsten Glieder in einer ausdifferenzierten Ausbeutungskette vor Augen hat, dann kann dem scheinbaren Hammer eines gesetzlichen Verbots nur mit Sympathie begegnet werden. Endlich wird in dem Saustall mal aufgeräumt – und so verwundert es nicht, dass viele sofort eine Lösung der Probleme in greifbarer Nähe sahen. Aber es gab und gibt in der damit einhergehenden Verengung auf einen Baustein auch kritische Stimmen, die davor gewarnt haben, darin nun gleichsam die Durchtrennung des gordischen Knotens der Wild-West-Zustände in Teilen der Fleischbranche zu sehen. Dazu beispielsweise die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Wenn Tönnies & Co. ihre Arbeiter nicht mehr über Subunternehmen und Werkverträge ausbeuten würden, dann kostet das eine Handvoll Cent. Zugleich aber ist die Engführung auf Werkverträge problematisch vom 5. Juli 2020 in diesem Blog.

Und für diese skeptische Position bekommen wir derzeit einige Hinweise geliefert. »Um einem Verbot zuvorzukommen, will Tönnies bis Ende September 1000 Beschäftigte direkt, also mit Arbeitsvertrag von Tönnies und nicht bei Subunternehmen, einstellen. Bis Jahresende sollen die restlichen Arbeiter in der Schlachtung, Zerlegung und Verpackung folgen. Wie viele der bisherigen Werkvertragsarbeitnehmer unbefristet oder befristet angestellt werden wollen, könne Tönnies derzeit noch nicht absehen, sagte ein Sprecher. In Rheda arbeitet etwa die Hälfte der fast 7000 Beschäftigten für Subunternehmen«, berichten Katrin Terpitz und Michael Verfürden in ihrem Artikel Streit über die Werkverträge: Was die Branche vom geplanten Verbot hält. Das muss man auch vor diesem Hintergrund lesen: Lange hatte sich Clemens Tönnies, der geschäftsführende Gesellschafter der Tönnies-Holding, vehement gegen das geplante Verbot von Werkverträgen gewehrt. Der Unternehmer hatte noch Ende Mai in einem Schreiben an Heil gewarnt, dass ein entsprechendes Gesetz „die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Produzenten gefährden könnte – zugunsten von Konkurrenten in europäischen Nachbarländern wie Polen, Rumänien oder Spanien“. Offensichtlich haben sich die Zeiten geändert.

Aber in dem Artikel werden nun auch kritische Stimmen gegen diese doch an sich begrüßenswerte Entwicklung zitiert, die man erst einmal nicht erwartet hätte:

„Wir fürchten, die Fleischindustrie behält das Konstrukt der Werkverträge bei – nur unter anderem Namen“, sagt Michael Brümmer von der Gewerkschaft NGG Oldenburg, einem Zentrum der deutschen Schweine- und Geflügelzucht. Dieselben Beschäftigten seien dann eben nicht über fremde Subunternehmen, sondern über Tochterfirmen oder übernommene Dienstleister angestellt: „Am ausbeuterischen System wird das nicht viel ändern.“ … Oldenburgs NGG-Geschäftsführer Brümmer sieht den plötzlichen Sinneswandel von Schlachtkonzernen wie Tönnies skeptisch. „Sie werfen nur Nebelkerzen“, glaubt der Gewerkschafter.

Dazu noch einmal ein Blick auf die Subunternehmen: »Bei einem Werkvertrag trifft etwa ein Schlachthofbetreiber mit einem Subunternehmer eine Vereinbarung über die Schlachtung einer bestimmten Anzahl Tiere für ein bestimmtes Entgelt. Wie und mit wie vielen Arbeitnehmern der Subunternehmer dies umsetzt, bleibt ihm überlassen. Allein Tönnies arbeitet mit 25 Dienstleistern zusammen, die wichtigsten heißen DSI, MGM und Besselmann. Kritiker bemängeln schon seit Jahren Missstände – und werfen Dienstleistern unter anderem vor, Werkvertragsarbeiter mit falschen Lohnabrechnungen und teurem Wohnraum abzuzocken.«

➔ Man könnte hier auch auf den marktanteilsmäßig größten Wettbewerber von Tönnies verweisen: Westfleisch: Die bäuerliche Genossenschaft, die Nummer zwei hinter Tönnies, will bis Jahresende alle rund 3000 Werkvertragsarbeiter in feste Beschäftigungsverhältnisse übernehmen. „Das könne direkt oder über eine der beiden unternehmenseigenen Beschäftigungsgesellschaften geschehen“, sagte Finanzvorstand Carsten Schruck der „Lebensmittelzeitung“. Man achte auf den Hinweis direkt – oder über eine der Tochtergesellschaften.

An dieser Stelle stellt sich nun ganz praktisch die Frage, was denn passieren könnte, wenn in der Branche nun in Vorwegnahme des angedrohten Verbots von Werkverträgen und Leiharbeit umgesattelt wird auf eine „eigene Anstellung“. Dazu kann man dem Beitrag von Katrin Terpitz und Michael Verfürden entnehmen:

»Klar ist etwa, dass die Schlachtkonzerne weiter auf Personal aus Osteuropa angewiesen sein werden. „Wir haben umfangreiche Erfahrung mit dem Versuch, in Deutschland Personal zu rekrutieren. Das ist nicht möglich“, sagte ein Tönnies-Sprecher. Die Personalgewinnung müsse voraussichtlich weiterhin in Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Polen stattfinden. „Wir werden bei der Rekrutierung sicher auf bestehende Strukturen zurückgreifen, aber auch eigene aufbauen müssen“, so der Sprecher … Rechtsanwalt Thomas Kuhn beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Werkvertragsrecht. Zu seinen Mandanten gehören bei Tönnies tätige Dienstleister, darunter die Firma MGM, die selbst in der Kritik steht. Kuhn bestätigt: Die Fleischindustrie komme nicht ohne Osteuropäer aus. „Wenn sich überhaupt Deutsche melden, schmeißen sie den Job spätestens nach drei Tagen hin“, sagt der Jurist. Gleichzeitig könne Tönnies nicht auf Jahre mit den angekündigten Direktanstellungen planen. Denn auch unter diesen Arbeitern sei die Fluktuation hoch. „Viele kommen nur für eine begrenzte Zeit, manche verschwinden einfach von heute auf morgen.”«

Branchenkenner befürchten, dass dubiose Personalanwerber weiterhin ihre Landsleute abzocken, indem sie beispielsweise Vermittlungsgelder fordern. MGM-Anwalt Kuhn meint: „Wenn alles einfach nur unter Direktanstellungen weiterläuft, wird sich nicht wirklich etwas ändern.”

Was wäre denn eine wirklich nachhaltige Lösung? Kann es die überhaupt geben?

Das ist natürlich die entscheidende Frage und man findet einen Hinweis auf einen Teil der Antwort von einem Akteur, der in dem System unterwegs ist: »Rechtsanwalt Thomas Kuhn beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Werkvertragsrecht. Zu seinen Mandanten gehören bei Tönnies tätige Dienstleister, darunter die Firma MGM, die selbst in der Kritik steht.« Von dem wurde bereits dieser Satz zitiert: „Wenn alles einfach nur unter Direktanstellungen weiterläuft, wird sich nicht wirklich etwas ändern.” Und er fährt fort:

»Will die Politik die Arbeitsbedingungen verbessern, sollte sie das seiner Meinung nach über einen Tarifvertrag oder eine gesetzliche Reduktion der produzierten Stückzahlen tun.«

In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf das Beispiel unseres Nachbarlandes Dänemark verwiesen. Dort ist es tatsächlich so, dass die Fleischarbeiter nicht auf der Basis von Werkverträgen über Subunternehmen beschäftigt werden, sondern alle sind direkt in den Fleischfabriken angestellt und werden fast ausnahmslos tariflich vergütet. Die Unterschiede sind tatsächlich gewaltig:

Während die Beschäftigten in Deutschland (auf dem Papier) nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde bekommen, sind des in Dänemark durchschnittliche Stundenlöhne von 27 Euro. Ein gewaltiges Gefälle. Das sich aus der Tatsache ableitet, das so gut wie alle Beschäftigten in Dänemark tarifvertraglich abgesichert sind. Und aufgrund des hohen Organisationsgrades, über den die Gewerkschaften in Dänemark verfügen, ist den Arbeitgebern auch klar, dass sie in einer bestimmten Branche kaum oder keine Möglichkeiten haben, mit dem Ziel des Lohndumping auszubrechen, denn die betroffene Gewerkschaft würde Hilfe von anderen Gewerkschaften bekommen, die dann beispielsweise die Belieferung der Unternehmen stören oder einstellen würde.
Vgl. dazu die Hinweise am Ende der ZDF-Dokumentation Tönnies und die Werkverträge. Ausbeutung mitten in Deutschland, die am 15. Juli 2020 ausgestrahlt wurde (Video in der Mediathek verfügbar bis zum 23.07.2021).

➔ In Dänemark verdienen Beschäftigte in der Fleischwirtschaft nicht nur im Durchschnitt etwa 27 € pro Stunde. Hinzu kommen bessere Rentenansprüche sowie großzügige Zuschläge für Überstunden, Abend- und Nachtarbeit. Arbeitsbedingungen und Löhne sind in einem Branchentarifvertrag geregelt und die große Mehrheit der Beschäftigten ist gewerkschaftlich organisiert – einschließlich der ausländischen Beschäftigten, deren Anteil auf knapp ein Drittel beziffert wird (Refslund/Wagner 2018, S. 69). Die zuständige Gewerkschaft NNF hat die Verlagerung von Beschäftigung hin zu Subunternehmen erfolgreich verhindert – allerdings um den Preis, dass ein Teil der Arbeitsplätze aus der dänischen Fleischwirtschaft nach Deutschland, Großbritannien und Polen verlagert worden ist. Die dänische Gewerkschaft hat sich jedoch trotzdem nicht erpressen lassen, Zugeständnisse bei den Löhnen oder Arbeitsbedingungen zu machen, um Verlagerungen in andere Länder zu verhindern.
Während sich Danish Crown in Dänemark ganz selbstverständlich an den dortigen Tarifvertrag hält, gibt es in den deutschen Niederlassungen des Unternehmens keinerlei tarifliche Regelungen. Das Unternehmen rechtfertigt dies damit, dass die Tarifbindung in Deutschland nicht obligatorisch sei: „Danish Crown is taking the advantage of the subcontracted workers in Germany because it is possible for them to do that there.“ (Refslund/Wagner 2018, S. 80).*

Man muss auf eine Besonderheiten der Gewerkschaften in Dänemark (neben der historisch bedingten Selbstverständlichkeit, sich dort zu organisieren) hinweisen: In Dänemark ist die Arbeitslosenversicherung nicht Pflicht. Die Arbeitnehmer müssen sich deshalb selbst bei einer Arbeitslosenversicherung anmelden, deren Träger in der Regel die Gewerkschaften sind. Eine Vollzeitmitgliedschaft beim Arbeitslosenversicherungsträger 3FA kostet 513 DKK monatlich. Hinzu kommt der Mitgliedsbeitrag zur Gewerkschaft in Höhe von ca. 464 DKK monatlich. Beiträge zur Gewerkschaft und Arbeitslosenversicherung sind bei der dänischen Steuerbehörde (SKAT) steuerlich abzugsfähig.

*) Refslund, B. and Wagner, I. (2018): Cutting to the bone – workers’ solidarity in the Danish-German slaughterhouse industry. In: Doellgast, V., Lillie, N. and Pulignano, V. (eds): Reconstructing solidarity: labour unions, precarious work, and the politics of institutional change in europe, Oxford, pp. 67–83

Wenn wir also ein System haben, in dem es eine flächendeckende Tarifabdeckung haben, dann können sich auch die schwarze Schafe der Branche dem nicht entziehen. Deshalb ist es auch keine Überraschung, dass Tönnies sich auch bereits seit langem an diese im Vergleich zur Situation in Deutschland traumhaften Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten selbstverständlich hält – und zwar in den beiden Schlachthöfen, die der Konzern des deutschen Schweinebarons in Dänemark betreibt. Zu den dortigen Bedingungen.

Insofern wäre eine flächendeckende Tarifbindung in Deutschland anzustreben, über eine entsprechende Allgemeinverbindlicherklärung wäre das (theoretisch) möglich.

Aber werden dann bei solchen Kostenunterschieden überhaupt noch Beschäftigte gebraucht? Wird dann nicht die Drohung der Konzerne mit der Verlagerung in andere, billigere Länder zur Realität? Eine Antwort auf diese Frage muss zweigeteilt ausfallen: Zum einen kann man gerade am Beispiel Dänemark zeigen, dass die Existenz eines konkurrierenden Billigschlachthaus-Landes wie Deutschland in der Vergangenheit tatsächlich zu einer Verlagerung von Produktion und damit von Jobs aus dem „Hochkostenland“ Dänemark verursacht hat. Aber auf der anderen Seite ist der Lohnunterschied derart erheblich, dass es eigentlich keine Schlachthöfe und andere fleischindustrielle Betriebe mehr geben dürfte in diesem Land. Es gibt sie aber immer noch.

Und hier wären wir bei einem weiteren Mythos, auf den man gerade auch in der deutschen Debatte immer wieder stößt, angekommen: Man könne sich deutlich höhere Löhne für die Beschäftigten schlichtweg nicht leisten, weil das dann zu einer massiven Preiserhöhung führen würde, aufgrund derer dann die „Wettbewerbsfähigkeit“ verloren gehen und die Produktion beispielsweise nach Osteuropa verlagert werden würde. Für die hier interessierende Fleischindustrie kann man das eindeutig widerlegen – und zugleich aufzeigen, dass die miese Bezahlung der Fleischarbeiter in Deutschland einzig und allein den Gewinninteressen der Fleischindustriellen und der zahlreichen Subunternehmen dient. Dazu wieder aus dem Beitrag Streit über die Werkverträge: Was die Branche vom geplanten Verbot hält von Katrin Terpitz und Michael Verfürden:

»Der Lohnkostenanteil in der Fleischindustrie ist allerdings gering. Gewerkschafter Brümmer schätzt, dass er nur bei rund fünf Prozent liegt. An einem Schwein, das rund 60 Kilo Fleisch hat, verdienen Werkvertragsfirmen nur etwa 1,03 Euro, zeigen Aussagen, die der NGG vorliegen … Die Margen in der Schlacht- und Zerlegebranche sind mit rund drei Prozent niedrig.«

Selbst wenn man den Lohnkostenanteil verdoppeln oder verdreifachen würde, wäre der Gesamtkosteneffekt überschaubar. Auch die dänischen Gewerkschafter weisen darauf hin, dass die erheblich höheren Lohnkosten auf die Produkte gerechnet am Ende der Kette nur einige wenige Cent mehr bei den Verkaufspreisen bedeuten würde.

Man kann dennoch davon ausgehen, dass sich die Fleischpreise, die wir heute in den großen Discountern vorfinden, verdoppeln müssten- Und das hat seine Ursache vor allem darin, dass das der „wahre Preis“ wäre, wenn man Tier- und Menschenwohl in der ganzen Kette zum Maßstab machen würde. Das würde bedeuten, dass die Landwirte mehr Geld für deutlich weniger, aber qualitativ bessere Produkte bekommen (müssen), dass der Umgang mit den Tieren entindustrialisiert wird, dass wieder lokale und regionale Kreisläufe gestärkt werden. Dass die Beschäftigten insgesamt bis zum Einzelhandel besser vergütet werden. Wenn man dann neben einer tarifvertraglichen Durchdringung der Fleischindustrie im engeren Sinne auch noch eine wirksame Kennzeichnungspflicht die Herkunft des Fleisches betreffend und wo die Tiere geschlachtet und verarbeitet wurden, hinbekommt, so dass die kritischen Verbraucher überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, eine bewusste Kaufentscheidung treffen zu können, dann würde sich das „Schweine-System“ mittel- und langfristig wenn nicht abschaffen, so doch erheblich verbessern lassen.