Mehrbedarfe im Hartz IV-System: Daumen hoch für Schülertablets, Daumen runter für Mund-Nase-Bedeckungen. Ein Streifzug durch aktuelle Entscheidungen der Sozialgerichte

»Der Bedarf für die Anschaffung eines internetfähigen Computers zur Teilnahme an dem pandemiebedingten Schulunterricht im heimischen Umfeld sei im Regelbedarf nicht berücksichtigt. Es handele sich um einen grundsicherungsrechtlich relevanten Bedarf für Bildung und Teilhabe. Denn die Anschaffung eines internetfähigen Endgeräts sei mit der pandemiebedingten Schließung des Präsenzschulbetriebs erforderlich geworden.« (LSG NRW vom 22.05.2020 – L 7 AS 719/20 B ER, L 7 AS 720/20 B ER) Das Landessozialgericht NRW spricht hinsichtlich der Kosten für ein Tablet von einem „anzuerkennenden unabweisbaren, laufenden Mehrbedarf“.

»Eine Schülerin der 8. Klasse an einem Gymnasium, die Sozialleistungen erhält, hatte Ende Januar einen internetfähigen Computer beantragt. Dafür hatte sie auch eine Bestätigung ihrer Schulleiterin vorgelegt, wonach der Rechner für die Hausaufgaben benötigt werde. Das Jobcenter hatte die Anschaffung jedoch abgelehnt, auch das Sozialgericht Gelsenkirchen verneinte in einem Eilrechtsschutzverfahren den Bedarf«, so dieser Artikel: Schülertablet für digitalen Unterricht gilt als Mehrbedarf. Da die Schülerin mittlerweile durch eine private Spende einen internetfähigen Laptop erhalten habe, brauche sie keinen Eilrechtsschutz mehr, aber die Richter des LSG haben den Sachverhalt genutzt, um grundsätzlich zu entscheiden.

Dafür gibt es nun auch wirklich Anlass genug. In den Regelbedarfen für Kinder und Jugendliche sind im laufenden Jahr 2020 für 0-6Jährige 76 Cent, für 6-14Jährige noch 55 Cent, für 14-18Jährige 23 Cent und für volljährige im Elternhaus lebende Erwachsene 88 Cent für Bildung enthalten. „Spitzenreiter“ sind die alleinstehenden bzw. alleinerziehenden Erwachsenen, für deren Bildung stolze 1,12 Euro im Regelbedarf vorgesehen sind. Also pro Monat.

Die Richter haben nicht nur festgestellt, dass der Bedarf für die Anschaffung eines internetfähigen Computers zur Teilnahme an dem pandemiebedingten Schulunterricht im heimischen Umfeld im Regelbedarf nicht berücksichtigt und dass die Anschaffung eines internetfähigen Endgeräts mit der pandemiebedingten Schließung des Präsenzschulbetriebs erforderlich geworden sei, sondern sie haben sich auch in die Welt der Preisfindung begeben. Dazu kann man der Pressemitteilung des Landessozialgerichts NRW entnehmen:

»Die Höhe des geltend gemachten Bedarfs sei mit etwa 150 Euro, orientiert an dem für ein internetfähiges Markentablet (10 Zoll, 16 GB RAM) ermittelten Preis i.H.v. 145 Euro sowie dem Bedarfspaket „digitales Klassenzimmer“ der Bundesregierung (150 Euro je Schüler), zu veranschlagen.«

Eine Bedarfspaket „digitales Klassenzimmer“ mit einem konkreten Betrag in Höhe von 150 Euro je Schüler? Was soll das nun wieder sein? Am 15. Mai 2020 meldete sich das Bundesbildungsministerium unter der Überschrift Was Sie zum Sofortprogramm für digitale Lernmittel wissen sollten zu Wort: »Der Koalitionsausschuss hat beschlossen, 500 Millionen Euro bereitzustellen, um Schülerinnen und Schülern, die zu Hause nicht darauf zugreifen können, ein mobiles Endgerät zu geben … Der DigitalPakt Schule wird dafür um eine gemeinsame Vereinbarung zwischen Bund und Ländern für ein „Sofortprogramm“ ergänzt.« Wenn man dann weiterliest, dann stößt man auf diesen Hinweis: »Die Länder entscheiden jeweils, nach welchem Verfahren die Geräte für die Schulen beschafft werden. Verteilt werden sollen sie durch die Schulen selbst … die Schulen (sollen) selbst die Kriterien für die Verteilung der Geräte an die Schülerinnen und Schüler festlegen.« Hinzu kommt – wenn man schon Geld verteilt: Das „Sofortausstattungsprogramm“ sollen die Schulen auch für die Erstellung von Online-Lehrangeboten nutzen.

»Der von der großen Koalition vereinbarte Zuschuss von 150 Euro für bedürftige Schüler zur Anschaffung von Laptops oder Tablets soll nicht direkt an die Familien gehen. Die Geräte sollen stattdessen für die Schulen beschafft und von diesen an Schülerinnen und Schüler ausgeliehen werden«, so dieser Artikel: Bedürftige Schüler bekommen Leihgeräte statt 150-Euro-Zuschuss.

Interessant ist vor dem Hintergrund der genannten 150 Euro allerdings dieser Hinweis der rheinland-pfälzischen Bildungsministerin und derzeitigen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz (KMK), Stefanie Hubig (SPD): »… die Länder (wollen) das Geld … vorrangig für Geräte ausgeben. Sie selbst rechne mit 350 Euro pro Stück. Damit ließen sich mit den 500 Millionen Euro bundesweit kurzfristig rund 1,4 Millionen Laptops oder Tablets für den Verleih anschaffen.« Ja was denn nun? 350 Euro oder 150 Euro? Ob die Richter das bei ihrer offensichtlich akribischen Recherche auf Preisvergleichsportalen im Internet, die zu exakt 145 Euro geführt hat, überhaupt zur Kenntnis genommen haben? Wir werden es nie erfahren. Die Bildungsministerin Hubig ergänzt dann noch: »Allerdings müssen die Länder noch klären, wie die Geräte versichert und gewartet werden oder wie Schülerinnen und Schüler, die zu Hause kein WLAN haben, ins Internet kommen.« Und man gibt sich wirklich Mühe: »Hubig sagte, sie hoffe, die Schülerinnen und Schüler bekämen die Geräte für einen langen Zeitraum geliehen, „damit sie auch ein Stück weit das Gefühl haben, dass es ihr Gerät ist“.«

Bevor jetzt möglicherweise eine heimelige Stimmung aufkommt, sollte wieder das Augenmerk auf die 150 Euro gerichtet werden: Lehrervertreter hatten diese Summe zuvor als viel zu niedrig kritisiert. Es sei blanker Hohn anzunehmen, dass Eltern und Jugendliche, die sich bisher die Anschaffung eines digitalen Endgeräts nicht hätten leisten können, dies mit 150 Euro könnten, so Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).

➔ Man muss sich klar machen, dass bereits vor der Corona-Krise die Regierung mehrfach auch höchstrichterlich kritisiert wurde für die fehlende bzw. mangelhafte Abbildung von bildungsbezogenen Mehrbedarfen im Grundsicherungssystem. Dazu einige Hinweise: »Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte die Bundesregierung bereits mit Urteil vom Juli 2014 (BVerfG v. 23.07.2014 – 1 BvL 10/12) aufgefordert, die Bildungskosten in den Regelleistungen aufzustocken. Zum 1. August 2019 ist das „Schulbedarfspaket“ von 100 auf 150 € erhöht worden, diese Erhöhung umfasst aber lediglich die Gegenstände zur persönlichen Ausstattung für die Schule und Schreib-, Rechen- und Zeichenmaterialien, aber keine darüber hinaus gehenden Bedarfe. Das Bundessozialgericht hat im vergangenen Jahr in Bezug auf Schulbücher, die selbst angeschafft werden müssen, Folgendes festgestellt: Wird bei der Berechnung des Regelsatzes ein existenzsichernder Bedarf nicht ausreichend berücksichtigt und dementsprechend nicht gedeckt, so sind die einschlägigen Regelungen über gesonderte, neben dem Regelbedarf zu erbringende Leistungen (u.a. § 21 Abs. 6 SGB II), verfassungskonform auszulegen (BSG, Urt. v. 08.05.2019 – B 14 AS 6/18 R, – juris, Rn. 25). In besagtem Schulbuchurteil hat das Bundessozialgericht zudem klargestellt, dass im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung auch einmalig anzuschaffende, aber laufend benötigte Bedarfe als Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II zählen, obwohl diese Norm einmalige Bedarfe ausschließt. Das Gericht begründet dies damit, dass die Schul- und Bildungsbedarfe in den Regelbedarfen unzureichend seien und dass es weder mit 23 noch mit 88 Cent möglich und zumutbar sei Schulcomputer zu finanzieren. Neben diesem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts zum „Schulmehrbedarf“ gibt es eine Reihe von sozialgerichtlichen Entscheidungen, in denen Schulcomputer basierend auf § 21 Abs. 6 SGB II erfolgreich erstritten wurden.«

Eine sehr gute Einordnung findet man in diesem Beitrag von Florian Diekmann und Silke Fokken: Leere Mägen statt Laptops. Es geht hier nicht um eine kleine Randgruppe: »Rund jedes fünfte Kind lebt in einem Haushalt mit weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens und damit unter der Armutsrisikoschwelle. Bei den Alleinerziehenden sind es sogar mehr als zwei von fünf Kindern. Rund drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland haben Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, das Zuschüsse für Mittagessen, Busfahrkarten oder Vereinsbeiträgen vorsieht. Mit knapp zwei Millionen leben die meisten von ihnen von Grundsicherung – und damit immer noch fast genau so viele wie zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts, während die Zahl der Erwachsenen in Hartz IV seitdem deutlich gefallen ist.« Und durch die Corona-Krise könnten es nochmal deutlich mehr werden: Das Bundesarbeitsministerium rechnet mit 1,2 Millionen zusätzlichen Haushalten, die in die Grundsicherung fallen werden. Und was man auch bedenken muss: »Für die meisten armen Kinder in Deutschland ist Hartz IV … Dauerzustand: Fast die Hälfte lebt bereits seit mindestens vier Jahren in der Grundsicherung, weitere knapp 40 Prozent seit ein bis vier Jahren.«
Und die besonderen Belastungen werden benannt: Wegbrechende Zuverdienste, fehlende kostenlose Mittagessen durch die Schließung der Kitas und Schulen – und eben das teure digitale Lernen zu Hause.

In dem Artikel wird Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zitiert, die der Verteilung der Mittel aus dem Sofortprogramm an die Schulen grundsätzlich einiges abgewinnen kann, das »die 150 Euro für eine private Anschaffung viel zu knapp bemessen gewesen seien und die Geräte nun in den Schulen direkt mit den nötigen Programmen bespielt werden könnten.« Dann aber auch Kritik, vor allem hinsichtlich der etablierten Verteilung von Bundesmitteln an die einzelnen Bundesländer: »Die Soforthilfen des Bundes sollen … über den „Königsteiner Schlüssel“ verteilt werden, der sich nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Länder richtet. „Die Mittel müssten stattdessen aber über einen Sozialindex verteilt werden, weil es zum Beispiel in Berlin und Bremen besonders viele bedürftige Familien gibt“, sagt Hoffmann. In den beiden Stadtstaaten lebt jeweils fast jedes dritte Kind in einer Hartz-IV-Familie, in Bayern hingegen nur eins von 17.«

Von einem Tatbestand kann man aber jetzt schon ausgehen: Bis das Geld aus Berlin über die Bundesländer und deren Schulen wirklich in Form eines Tablets bei den Kindern ankommen werden, kann man beruhigt in Urlaub fahren, den man natürlich in Deutschland verbringen sollte.

Bei anderen Mehrbedarfen geht aber der sozialgerichtliche Daumen runter

Grundsätzlich gilt, dass Hartz IV-Bezieher in der Regel auf die pauschalierten Regelleistungen verwiesen werden, weshalb ja auch eine korrekte Bestimmung der Höhe des Regelbedarfs von so großer Bedeutung – wäre.

Ein weiteres Beispiel dafür ist diese Entscheidung – ebenfalls vom Landessozialgericht NRW: »Die derzeit zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus vorgeschriebenen Gesichtsbedeckungen sind aus dem SGB II-Regelbedarf zu finanzieren, da sie als Bestandteil der Bekleidung angesehen werden können. Dies hat das Landessozialgericht (LSG) in seinem Beschluss vom 30.04.2020 entschieden (Az. L 7 AS 625/20 B ER)«, so die Mitteilung Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen: Mund-Nase-Bedeckung begründet keinen Mehrbedarf vom 6. Mai 2020. Die Richter haben sich nicht beeindrucken lassen von der Klage eines Hartz IV-Empfängers, der die Auszahlung von 349 Euro für die Anschaffung von Mund-Nase-Schutzmasken bzw. die Gestellung solcher durch das Jobcenter verlangt hat:

»Bei Leistungsberechtigten werde gemäß § 21 Abs. 6 SGB II ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf bestehe. Der Mehrbedarf sei unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt sei und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweiche.
Nach § 12a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 der insoweit maßgeblichen Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung – CoronaSchVO) für das Land Nordrhein-Westfalen in der ab dem 27.04.2020 gültigen Fassung sei lediglich das Tragen einer textilen Mund-Nase-Bedeckung (zum Beispiel Alltagsmaske, Schal, Tuch) in bestimmten Lebenslagen erforderlich. Ähnliche Regelungen würden in den anderen Bundesländern gelten. Die Finanzierung derartiger Gesichtsbedeckungen, die als Bestandteil der Bekleidung angesehen werden könnten, sei aus dem Regelbedarf möglich. Ein unabweisbarer Bedarf liege mithin nicht vor.«