Bei Riester-Menschen können es auch schon mal bis zu 150 Jahre werden. Warum Versicherungsunternehmen mit völlig überzogenen Lebenserwartungen kalkulieren

Was für eine Botschaft: BdV: Riester-Versicherer kalkulieren mit Lebenserwartung von bis zu 150 Jahren. Das sind doch mal Perspektiven, also für den einen oder anderen unter uns. Wenn auch die meisten Leser sicherlich den Kopf schütteln und mit Blick auf das angegebene Lebensalter die Ferndiagnose „Unsinn hoch x“ stellen werden. Aber lesen wir weiter: »Der Bund der Versicherten (BdV) wirft den Versicherern vor, bei der Riester- und Rürup-Rente mit völlig überzogenen Lebenserwartungen zu rechnen … So würden die Renten mit einer Lebenserwartung von bis zu 150 Jahren kalkuliert. Der Verband fordert, dass der Gesetzgeber eingreift.«

Das machen die Versicherer sicher mit einer ganz bestimmten Absicht, die wir uns gleich genauer anschauen werden. Aber an dieser Stelle könnte dem einen oder anderen einfallen, dass hier schon mal vor einigen Jahren die Figur des äußerst langlebigen Riester-Menschen aufgetaucht ist.

Am 27. Oktober 2014 wurde hier der Beitrag Weil der Riester-Mensch durchschnittlich hundert Jahre alt wird und weil er die FAZ liest, kann er sicher glauben, dass sie sicher ist, die (Riester)-Rente veröffentlicht. Damals ging es um die für die Riester-Renten-Versicherungsunternehmen unangenehme kritische Diskussion darüber, was für ein schlechtes Geschäft die Rieser-Rente im Regelfall für die Versicherten darstellt – und die sickerte damals immer bedrohlicher für die lukrativen Geschäftsmodelle auch in die öffentliche Berichterstattung, was nicht nur, aber sicher auch zu dem damals schon beobachtbaren Rückgang der Freude, eine staatlich subventionierte Riester-Rente abzuschließen, beigetragen hat.

Ausgangspunkt 2014 war diese Behauptung des FAZ-Redakteurs Dyrk Scherff: »Riestern lohnt sich nicht – dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Die staatlich geförderten Fonds und Versicherungen seien so teuer, dass die Kosten die erzielten Renditen auffressen. Man müsse 100 Jahre alt werden, um überhaupt mehr herauszubekommen, als man eingezahlt hat, heißt es dann. Doch das stimmt so nicht.« Und warum nicht? Die Überraschung ließ nicht lange auf sich warten: »100 Jahre (klingt) zwar alt. Aber es entspricht der durchschnittlichen Lebenserwartung von heute 30- oder 40-Jährigen. Viele dürften älter werden.«

Halleluja – was für Perspektiven. Also angeblich. Der damalige Beitrag hat dann den ziemlich dreisten Versuch als das entlarvt, was er war: heiße Luft. Aber eines, was nun auch in diesen Tagen wieder zum Thema gemacht wurde, konnte man schon damals mitnehmen: Offensichtlich gibt es eben nicht „die“ Lebenserwartung, sondern ganz unterschiedlich kalkulierte für solche und andere Menschen.

So wurde mit Hinweis auf die Sterbetafeln (ausdrücklich im Plural zu lesen und zu verstehen) ausgeführt: Die privaten Renten- und Lebensversicherungen rechnen mit einer viel höheren Lebenserwartung als das Statistische Bundesamt. Dazu dieses Zahlenbeispiel aus dem damaligen Blog-Beitrag: Wie alt wird ein im Jahr 2011 geborenes Mädchen werden? Auf diese Frage gibt es ganz unterschiedliche Antworten: Knapp 83 Jahre, erfährt man vom Statistischen Bundesamt. Dazu muss man wissen: Die Bundesstatistiker arbeiten mit einer Periodensterbetafel. Die berechnet die alters­spezi­fi­schen Überlebenswahrscheinlichkeiten je nach Geschlecht für die Gesamtbevölkerung nach heutigen Erfahrungen. Das wahrscheinliche Lebensalter würde sich ergeben, wenn künftig keine Veränderung in der Sterbewahrscheinlichkeit („Mortalität“) eintreten würde. Und was haben die privaten Versicherungsunternehmen gesagt? Bei den 30- bis 40-jährigen Frauen wird ein Lebensalter von 92 bzw. 91 Jahren ausgewiesen, bei den gleichaltrigen Männern sind es 87 bzw. 86 Jahre. Das sind immerhin einige Jahre mehr als das, was vom Statistischen Bundesamt ausgewiesen wurde. Die Auflösung dieser offensichtlichen Diskrepanz: Die Lebens- und Rentenversicherer haben sich bei ihren Kalkulationen auf die Sterbetafel „DAV 2004 R“ bezogen und dabei handelt es sich um eine Kohorten- oder Generationensterbetafel, was etwas anderes ist als eine Periodensterbetafel. Ein ganz wichtiger Punkt: Die zukünftige Entwicklung ist hier schon eingerechnet, auch wenn die Zukunft alles andere als klar ist, denn sie berücksichtigt die steigende Lebenserwartung künftiger Generationen. Kann so kommen, muss aber nicht.
Und wie erklären die privaten Rentenversicherer die Abweichung nach oben? Die Sterbetafel „DAV 2004 R“ berücksichtigt die spezielle Lebenserwartung von Versicherten mit einer privaten Lebensversicherung. Die Sterblichkeit von Rentenversicherten ist geringer als die Sterblich­keit in der Gesamtbevölkerung, denn wer freiwillig finanziell vorsorgt, der rechnet subjektiv mit einer normalen bis längeren Lebenserwartung und bemüht sich mehr oder weniger stark um eine gesunde Lebensweise, schon weil er die Mittel dazu hat. Personen mit einer privaten Rentenversicherung haben im Durchschnitt ein höheres Einkommen und eine höhere Bildung. Sie rauchen seltener. In der Summe aller Eigenschaften leben sie auch länger, so die Erkenntnisse der Versicherungsunternehmen.

Warum ein kalkulatorisch die 100 Jahre reißender Kunde für die Riester-Versicherer ein guter Kunde ist

Am Anfang dieses Beitrags hatte ich den BdV zitiert – aus dramaturgischen Gründen aber mit einer kleinen Auslassung. Die vollständige Fassung geht so: »Der Bund der Versicherten (BdV) wirft den Versicherern vor, bei der Riester- und Rürup-Rente mit völlig überzogenen Lebenserwartungen zu rechnen, um weniger Rente auszahlen zu müssen.« (Hervorhebung nicht im Original).

Nun wird der eine oder andere skeptisch ein Fragezeichen in die Luft werfen und möglicherweise einwenden, dass ein langes Leben doch kein Vorteil für die Versicherer sein kann, denn dann müssen sie ja auch ziemlich lange jeden Monat die Rentenleistung aufbringen und auszahlen. Schauen wir also mal genauer in die Begründung des BdV für den Vorwurf, dass man über eine (unrealistisch) hohe Lebenserwartungsannahme weniger Rente auszahlen kann. Das geht so;

Hintergrund für den Vorwurf des BdV ist, »dass die Anbieter bei staatlich geförderten Produkten die Auszahlung einer lebenslangen Rente garantieren müssen, sofern sich der Sparer nicht für eine einmalige Auszahlung des angesparten Kapitals zu Rentenbeginn entscheidet.«

So würden die Unternehmen zum Beispiel für heute 37-Jährige mit einer Lebenserwartung von etwa 100 Jahren bis hin zu 150 Jahren kalkulieren, während das Statistische Bundesamt eine Lebenserwartung von lediglich 87 bis 91 Jahren prognostiziere. Dabei zeige sich ein großer Unterschied zwischen den einzelnen Versicherern und Tarifen. Axel Kleinlein, Vorstandssprecher beim Bund der Versicherten (BdV), wird mit diesem Rechenbeispiel zitiert:

➔ »Unterstellt ein Versicherer für einen 67-Jährigen etwa eine Lebenserwartung von 97, so muss das angesparte Geld für 30 Jahre Rente ausreichen. Kalkuliert er aber bis 117, so muss das gleiche Geld auf 50 Jahre verteilt werden. Die Rente kann dann nur noch etwas mehr als die Hälfte im Vergleich zum ersten Szenario betragen.«

Wie kann es dazu kommen? Dazu muss man wissen, was der Rentenfaktor in der privaten Rentenversicherung ist:

➔ Die Rentenfaktoren geben an, wie viel Monatsrente die Sparer pro 10.000 Euro Kapital bekommen. Der BdV behauptet, dass es eine immense Spreizung zwischen 15 und 29 Euro garantierter Monatsrente pro 10.000 Euro angespartem Kapital geben würde. „Damit haben die Rentenfaktoren deutlich mehr Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg einer Riester-Rente als die Kapitalanlage“, so Axel Kleinlein. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) beschreibt den Rentenartfaktor so: »Mit dem Rentenfaktor wird das gebildete Kapital der Versicherung bei Rentenbeginn in eine lebenslange Rente umgerechnet. Üblicherweise gibt er an, wie hoch die vom Versicherer gezahlte monatliche Rente je 10.000 € ist. Beispielsweise ergibt sich bei einem Rentenfaktor von 30 und einem gebildeten Kapital von 40.000 € eine monatliche, lebenslange Rente von 120 €.«

Und der BdV hat nun nachgeschaut in den Verträgen. Das Ergebnis: »Nach Berechnungen des BdV betragen für heute 37-Jährige die garantierten Rentenfaktoren für eine Rente ab 67 zwischen 15,21 Euro und 30,20 Euro bei einem Garantiezins von 0,9 Prozent.«

Das nun wiederum kann man in der Kalkulation zugrundeliegende Annahmen die Lebenserwartung der Kunden betreffend umrechnen:

»Die von den Lebensversicherern unterstellten Rentenfaktoren entsprechen einer Lebenserwartung von 95 bis 142 Jahren.«

Je nach angenommener Lebenserwartung gibt es für die gleiche angesparte Summe unterschiedliche Renten. Ein Vertrag mit einem hohen garantierten Rentenfaktor bringt eine höhere garantierte Rente als einer mit einem niedrigeren Rentenfaktor. Dafür fallen aber beim Versicherungsunternehmen dann hohe Gewinne an, wenn der Rentenfaktor klein ist.

Fazit: Der Mechanismus ist klar – je länger man die zu kalkulierende Lebenserwartung ansetzt, um so niedriger werden die monatlichen Rentenauszahlungen, denn die Rente muss ja (theoretisch) für eine sehr lange Zeit jeden Monat geleistet werden. Da ist es dann natürlich sehr praktisch, wenn dem Riester-Menschen zwischenzeitlich die Puste ausgeht, und man eben nicht 100, 20 oder gar 142 Jahre alt wird, was ganz sicher so sein wird.

Axel Kleinlein vom BdV kritisiert explizit die Allianz, seinen früheren Arbeitgeber: „Die Allianz kalkuliert sehr intransparent, indem sie in einem einzigen Vertrag mit unterschiedlichen Faktoren kalkuliert und dabei zum Teil eine Lebenserwartung von über 140 unterstellt.“ Da kam doch sicher massiver Widerspruch von dem so angegriffenen Versicherungsunternehmen? »Ein Sprecher der Allianz wies die Vorwürfe … zurück. „Die Vorwürfe sind so haltlos und spiegeln die Denke aus der „alten Welt“ wider, in eine derartige Debatte möchten wir gar nicht einsteigen.“« Ups, kein Bock auf eine Auseinandersetzung offensichtlich.

Der BdV hat seine Mitteilung zu dem ganzen Thema unter dieser Überschrift gesetzt: Regierung im Blindflug bei Riester-Verrentung. Was meinen die damit? Hat die Bundesregierung eine beschlagene Brille? Sie hat hat offensichtlich überhaupt keine Ahnung. In der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage „Auswirkungen der Null- und Negativzinsen auf die private Altersvorsorge in Deutschland“ der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag (Bundestags-Drucksache 19/17953 vom 13.03.2020) werden diese beiden Fragen
➞ Hat die Bundesregierung Kenntnisse über die Spannbreite der garantierten Rentenfaktoren der verkaufsoffenen Riester- und Rürup-Rentenversicherungstarife (bitte vom niedrigsten bis zum höchsten am Markt angebotenen garantierten Rentenfaktor aufschlüsseln)? und
➞ Welche Lebenserwartung wird nach Kenntnis der Bundesregierung bei den ihr bekannten Rentenfaktoren durchschnittlich und maximal angesetzt?
mit einem Satz abgehandelt:

»Hierzu liegen der Bundesregierung keine Auswertungen vor.«

Nur zur Erinnerung: Wir reden hier nicht über irgendeine kleinteilige Privatangelegenheit, sondern über Riester-Renten, die mit Milliarden Euro an Steuergeldern gepampert worden sind in den vergangenen Jahren und weiter gefördert werden. Nur als Beispiel das Jahr 2016: »Im Jahr 2016 wurden etwa rund 16 Mio. „Riester-Verträge“ registriert. Die staatliche Förderung (im Rahmen des Einkommensteuerrechts) dieser kapitalgeckten privaten Altersvorsorgeformen führt zu Mehrausgaben (Zulagen) bzw. zu Steuermindereinnahmen (Sonderausgabenabzug). Das Volumen der Förderung durch Zulagen betrug im Jahr 2016 etwa 2,8 Mrd. Euro. Hinzu kommt eine Steuermindereinnahme von gut 1 Mrd. Euro. In der Summe wird der Haushalt des Bundes um 3,8 Mrd. Euro belastet.«