Das Coronavirus SARS-CoV-2 heute und eine Risikoanalyse der möglichen Folgen. Aus dem Jahr 2012

Derzeit fahren alle auf Sicht und die Verunsicherung ist extrem. Weil man nicht weiß, wie es weitergehen wird, was noch kommen wird. Das ist verständlich. Die Verantwortlichen stehen vor dem unlösbaren Dilemma, dass sie jetzt teilweise extreme Entscheidungen treffen müssen, ohne sich auf Erfahrungswerte aus der Vergangenheit stützen zu können. Die einen kritisieren, bestimmte Maßnahmen hätten schon längst ergriffen werden müssen (wie beispielsweise die Schließung von Schulen und Kitas), andere beklagen den föderalen Flickenteppich. Hinterher werden wir alle schlauer sein und viele verweisen darauf, dass man eben keine Vorlagen hat, an denen man sich orientieren könnte.

Nun könnte man zumindest an dieser Stelle ein Fragezeichen setzen, wenn man sich diesen Artikel von Alexander Fröhlich anschaut, der unter der reißerisch daherkommenden Überschrift „Die medizinische Versorgung bricht bundesweit zusammen“ veröffentlicht wurde: »Noch ist unklar, wie die Coronavirus-Pandemie weiter verlaufen wird. Eine Risikoanalyse der Bundesregierung von 2012 zeigt aber: Die Behörden waren gewarnt.«

»Sieben Millionen Tote binnen drei Jahren, Engpässe bei Lebensmitteln und ein Gesundheitssystem, das so überlastet ist, dass Menschen nicht versorgt werden können und sterben« – Fröhlich zitiert einige (mögliche) Folgen aus einer „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ der Bundesregierung. Die stammt aus dem Jahr 2012, dem Bundestag wurde sie Anfang 2013 vorgelegt. Es geht darin auch um eine Pandemie, ausgelöst durch einen fiktiven Virus.

Die zentrale These von Fröhlich: »Das Szenario, das deutliche Parallelen, aber auch Unterschiede zu der aktuellen Entwicklung aufweist, zeigt: Die Behörden in Bund und Ländern hätten vorbereitet sein können, noch bevor das Coronavirus in Deutschland aufgetreten ist – oder spätestens beim ersten Fall.« Im Lichte der Erkenntnisse der Risikoanalyse aus dem Jahr 2012 hätten die Pandemiepläne angepasst werden müssen. Das sei aber nicht geschehen.

»In der Risikoanalyse ist detailliert beschrieben, welche Folgen eine derartige Pandemie wie die jetzt anlaufende aller Wahrscheinlichkeit nach haben könnten. Zwar wird das Szenario als „bedingt wahrscheinlich“ beschrieben, „das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren“ auftritt. Aber in nicht wenigen Details liegt die Analyse erstaunlich nahe bei den aktuellen Entwicklungen durch das Coronavirus.«

Erstellt wurde die Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ 2012 federführend vom Robert Koch Institut. Schaut man in das damalige Szenario, dann wird man auf viele Parallelen stoßen, zu dem, was derzeit vor unseren Augen im realen Leben abläuft:

„Das Szenario beschreibt eine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung eines hypothetischen neuen Virus.“ Der Name: Modi-Sars-Virus. „Der Erreger stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde.“ Die in der Risikoanalyse angenommen hypothetische Krankheit hat Ähnlichkeiten mit den Covid-19-Erkrankungen. Die Symptome sind: Fieber, Husten, Übelkeit, Lungenentzündung.

Das Original der angesprochenen Risikoanalyse findet man in dieser Drucksache:
➔ Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bundestags-Drucksache 17/12051 vom 03.01.2013

Die Verfasser der Risikoanalyse rechnen in dem Szenario mit drei Erkrankungswellen. Allein im Zuge der ersten Welle wären sechs Millionen Menschen erkrankt. „Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können“, wird in der Risikoanalyse gewarnt. Nach Abklingen der ersten Welle gibt es demnach zwei weitere, schwächere Wellen, bis drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen ein Impfstoff verfügbar ist. Grund für die weiteren Welle: Auch Personen, die die Krankheit „durchlebt“ haben, werden zunächst immun, dann aber wieder anfällig: Weil das Virus mutiert.

Der Original-Risikoanalyse können wir die folgenden Erläuterungen entnehmen:

»Über den Zeitraum der ersten Welle (Tag 1 bis 411) erkranken insgesamt 29 Millionen, im Verlauf der zweiten Welle (Tag 412 bis 692) insgesamt 23 Millionen und während der dritten Welle (Tag 693 bis 1052) insgesamt 26 Millionen Menschen in Deutschland. Für den gesamten zugrunde gelegten Zeitraum von drei Jahren ist mit mindestens 7,5 Millionen Toten als direkte Folge der Infektion zu rechnen. Zusätzlich erhöht sich die Sterblichkeit sowohl von an Modi-SARS Erkrankten als auch anders Erkrankter sowie von Pflegebedürftigen, da sie aufgrund der Überlastung des medizinischen und des Pflegebereiches keine adäquate medizinische Versorgung bzw. Pflege mehr erhalten können … Von den Erkrankten sterben rund 10% … Die enorme Anzahl Infizierter, deren Erkrankung so schwerwiegend ist, dass sie hospitalisiert sein sollten bzw. im Krankenhaus intensivmedizinische Betreuung benötigen würden, übersteigt die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches … Dies erfordert umfassende Sichtung (Triage) und Entscheidungen, wer noch in eine Klinik aufgenommen werden und dort behandelt werden kann und bei wem dies nicht mehr möglich ist. Als Konsequenz werden viele der Personen, die nicht behandelt werden können, versterben.« (Bundestags-Drucksache 17/12051, S. 64 f.)

Viele werden an dieser Stelle sicher an die Beschreibungen über die aktuellen Zustände in Italien denken, die uns gegenwärtig erreichen.

Und die Verfasser der Studie wussten schon 2012, was alles schieflaufen kann: „Es ist anzunehmen, dass die Krisenkommunikation nicht durchgängig angemessen gut gelingt. So können beispielsweise widersprüchliche Aussagen von verschiedenen Behörden/Autoritäten die Vertrauensbildung und Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen erschweren.“

Dazu nur ein aktuelles Beispiel – bei dem man zugleich völlig berechtigt sagen kann, dass hier wissentlich (nicht) gehandelt wird: Der Berliner Senat hat sich in den vergangenen Tagen durch einen skandalösen Nicht-Umgang mit der Krise und den notwendigen Einschränkungen „ausgezeichnet“. Nun werden ab Montag die Schulen und Kitas temporär geschlossen – und auch die vielen Bars und Clubs in der Hauptstadt müssen schließen. Also ab Dienstag der kommenden Woche. Bis dahin, vor allem am Wochenende, können die Partygänger noch mal so richtig eintauchen in das Berliner Nachtleben. Was soll das, wenn man weiß, dass es jetzt darum geht, mögliche Infektionsketten zu unterbrechen? Selbst die Fußballspiele und andere Ereignisse sind bereits abgesagt. Aber in Berliner Clubs darf man noch mal ein paar Tagen sie Sau raus lassen? Dazu dann auch entsprechende Reaktionen: Berliner Gesundheitsamtsleiter kritisiert Senat scharf: Dass Bars, Clubs oder Kneipen geschlossen werden sollen, sei zwar ein richtiger Schritt – »doch komme er spät. Und vor allem mit einer „unverständlichen Verzögerung“: Erst ab Dienstag soll das Verbot in Kraft treten.«
„Wegen dieser Entscheidung ist zu befürchten, dass sich an diesem Wochenende noch unnötig viele neue Infektionen ereignen“, so der Leiter des Gesundheitsamts Reinickendorf, Patrick Larscheid. Da soll dann keiner mehr sagen, dass man das alles ja nicht habe wissen können.

Nachtrag am 15.03.2020:

Offensichtlich hat auch der Berliner Senat erkannt, dass es mehr als fahrlässig ist, wenn man bis Dienstag wartet mit der Schließung von Clubs und anderen Einrichtungen. Also wurde eine entsprechende Verfügung zur Schließung bereits für den Samstag (14.03.2020) rausgegeben. »Nachdem der Berliner Senat am Samstagabend eine Verordnung zur sofortigen Schließung von Kneipen und Bars erlassen hat, war die Polizei in der Nacht zum Sonntag mit allen verfügbaren Kräften in der Stadt unterwegs, um die Verordnung auch durchzusetzen und die Kneipenwirte zu informieren. „Von groß nach klein und von außen nach innen“, wie Polizeisprecherin Dierschke am Abend sagte«, meldet die Berliner Zeitung. »Viele Kneipen, Spielhallen und auch manche Fitnessstudios haben noch geöffnet. Kein Wunder: Viele wissen noch gar nicht von der erst am Abend erlassenen Schließungs-Verordnung. Die Polizei durchkämmr nun systematisch die ganze Stadt, alle verfügbaren Kräfte seien dafür im Einsatz, sagt Anja Dierschke, Sprecherin der Berliner Polizei der Berliner Zeitung. Die meisten Besitzer, die geöffnet hätten, wüssten noch nicht von der Verordnung. „Wir weisen auf die Schließungs-Verordnung hin und darauf, dass wir eine zeitnahe Schließung erwarten.“ Niemand müsse „fluchtartig das Restaurant verlassen“, aber „wir wollen sehen, dass unseren Wünschen Folge geleistet wird, zum Wohle aller“.«
Und: »Etwa ein Sechstel der erfassten Berliner Coronavirus-Infektionen hat mit Club-Besuchen zu tun. „Von 263 bestätigten Fällen in Berlin sind 42 auf einen Club zurückzuführen“, erklärte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) am Samstagabend bei Twitter.«