»Der Gewerkschaftsbund fordert ein Aktionsbündnis gegen Kinderarmut – weil die Zahl der auf Hartz IV angewiesenen Kinder und Jugendlichen seit Jahren kaum gesunken ist«, so diese Meldung: Zahl der auf Hartz IV angewiesenen Kinder sinkt nur leicht. Und die Zahl wird dann auch in vielen anderen Meldungen konkretisiert: Mehr als 1,5 Millionen Kinder sind auf Hartz IV angewiesen. Oder: »Im September 2019 lag deren Zahl bei rund 1,51 Millionen, wie aus einer Auswertung des Deutsche Gewerkschaftsbundes (DGB) von Daten der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht«, so dieser Bericht: Rund 1,5 Millionen Kinder auf Hartz IV angewiesen. Alle beziehen sich auf diese Veröffentlichung des DGB-Bundesvorstandes:
➔ DGB (2020): Weiterhin 1,5 Millionen Kinder im Hartz-IV-Bezug, Berlin, 23.01.2020
Der DGB erläutert: »Nach wie vor leben 1,5 Millionen Kinder in Deutschland von Hartz IV, kaum weniger als vor drei Jahren. Das zeigt eine aktuelle Auswertung des DGB. Danach sind Haushalte mit Kindern von der ansonsten relativ günstigen Entwicklung bei der Anzahl der Hartz-IV-Bezieher weitgehend abgekoppelt: Die wirtschaftlich gute Lage und die günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt haben nicht dazu geführt, dass sich die Zahl von Kindern im Hartz-IV-Bezug spürbar reduziert hat.« Wie immer muss man hier einmal genauer hinschauen.
Von wem genau spricht der DGB eigentlich? »Die Zahl von Kindern bis 14 Jahren, die mit ihren Eltern Hartz-IV-Leistungen beziehen müssen, stagniert auf hohem Niveau. Im September 2019 erhielten 1.510.440 Kinder Hartz IV. Das sind kaum weniger als drei Jahre zuvor, als 1.558.428 Kinder Leistungen bezogen.«
Wann ist ein Kind (k)ein Kind (mehr) und was ist es dann?
Nun könnte der eine oder andere auf die Frage kommen, wieso hier bei 14 Jahren eine Grenze gesetzt wird. Wegen der Strafmündigkeit? Oder weil man hier die Grenze zwischen Kind und Jugendlicher überschritten hat? Aber sind nicht viele 15 oder 16 Jahre alte jungen Menschen faktisch weiterhin Kinder? Vielleicht will man eine besondere Aufmerksamkeit generieren, die man in der Öffentlichkeit vor allem für kleinere Kinder eher bekommt als für Jugendliche?
Man könnte natürlich auch auf die Idee kommen, dass der Schnitt bei „bis 14 Jahre“ einen anderen, konkret: einen bürokratischen Ursprung haben könnte. Und mit dieser Fährte ist man gut bedient, denn im Hartz IV-System gibt es im Grundsatz eine Zweiteilung der Leistungen beziehenden Menschen – da gibt es die „erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ und die eben nicht erwerbsfähigen. Ein Kind von drei oder zehn Jahren gilt zumindest hier in Deutschland nicht als erwerbsfähig. Anders aber sieht das aus, wenn das Kind, das für die allermeisten Eltern weiterhin Kind bleibt, den 15. Geburtstag feiert, denn mit der Vollendung dieses Lebensjahres wird man in der Hartz IV-Welt den „normalen“ Erwachsenen gleichgestellt und statistisch beginnt die Erwerbsfähigkeit. Ein anderer Status also, auch wenn sich in der Familie nichts geändert hat, das nunmehr für erwerbsfähig erklärte Kind weiterhin wie vorher auch zur Schule geht und das noch eine geraume Zeit lang machen wird.
Insofern könnte man für den September 2019 statt den 1.510.440 Kindern, von denen der DGB spricht, auch ganz offiziell von der BA eine andere Zahl heranziehen: 1.900.049 „Kinder unter 18 Jahren“, kann man beispielsweise der BA-Veröffentlichung Strukturen der Grundsicherung SGB II (Zeitreihe Monats- und Jahreszahlen ab 2005) entnehmen, die im Januar 2020 veröffentlicht wurde. Als Kind im Sinne dieser Statistik gelten ausschließlich minderjährige und unverheiratete Kinder, die in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft leben. Darin enthalten sind nicht nur die über 15, aber unter 18 Jahre alten Kinder in Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften, sondern auch weit mehr als 100.000 Kinder, die laut Bundesagentur für Arbeit (BA) „ihren individuellen Bedarf durch eigenes Einkommen decken“ können sowie die „vom Leistungsanspruch ausgeschlossenen Personen“.
➔ Was soll das nun wieder, wird sich der eine oder andere kopfschüttelnd fragen. Hintergrund: »Seit einer Änderung der Statistik in 2016 wird zwischen Kindern mit und ohne eigenen Leistungsanspruch unterschieden. In die Realität übersetzt bedeutet das zum Beispiel: Ein Kind lebt in einem Hartz-IV-Haushalt, für das dieser Haushalt Kindergeld sowie von einem getrenntlebenden Elternteil Unterhaltsleistungen erhält. Zusammengerechnet liegt dieser Betrag über dem Regelsatz für das betreffende Kind, je nach Alter zwischen 250 und 328 Euro. Das Kind selbst ist also nicht hilfebedürftig, zumindest, wenn man es isoliert von dem Haushalt betrachtet, in dem es lebt. Dass dieser Haushalt insgesamt aber weiterhin von Hartz-IV-Leistungen abhängig ist, ist für die Statistik irrelevant«, erläutert uns Lena Becher.
Und 1,9 Mio. ist nicht nur mehr als 1,51 Mio., wie vom DGB verbreitet. Auch die 1,9 Millionen Kinder sollten als Untergrenze verstanden werden. Man könnte und müsste beispielsweise berücksichtigen, dass im Jahresdurchschnitt 2018 für gut 250.000 Kinder an deren Berechtigte, also die Eltern, der Kinderzuschlag ausgezahlt wurde. Eine Leistung, mit der man verhindern will, dass nur aufgrund des Vorhandenseins des Kindes oder mehrerer Kinder der Haushalt in den Hartz IV-Bezug rutscht.
➔ Man erhält den maximal möglichen Kinderzuschlag von 185 Euro pro Kind (seit Juli 2019 aufgrund der Änderungen durch das sogenannte „Starke-Familien-Gesetz“), wenn das eigene Einkommen und das zum Lebensunterhalt verwendbare Vermögen dem ALG-II-Bedarf (persönlicher Bedarf plus tatsächliche Kosten der Unterkunft) für die erwachsenen Personen der Bedarfsgemeinschaft entspricht. Der Kinderzuschlag war bis Ende 2007 unabhängig von der Kinderzahl auf maximal 36 Monate befristet. Seit 2008 wird der Zuschlag bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen längstens bis zum Ende des 25. Lebensjahres gezahlt, bei Kindern ab 18 Jahren jedoch nur, soweit ein Anspruch auf Kindergeld besteht und das Kind im elterlichen Haushalt lebt. Zur Komplexität dieser Sonderleistung und den konkreten Auswirkungen auf das Familieneinkommen vgl. beispielsweise diese Ausarbeitung von Johannes Steffen: Die Reform des Kinderzuschlags im Rahmen des StaFamG, Januar 2019.
Und man könnte – wenn es einem um „Kinderarmut“ geht – darüber hinaus auf die zahlreichen Kinder hinweisen, die in der Hartz IV-Statistik überhaupt nicht auftauchen (können), weil sie in Familien leben, deren Haushaltseinkommen knapp oberhalb der Bedarfsschwellen des SGB II liegen, die aber in der Lebenswirklichkeit oftmals in manifesten Armutslagen leben müssen, nur dass sie eben nicht offiziell gezählt werden. Und dass deren Zahl weitaus größer ist, verdeutlicht wiederum das Ausmaß der „Armutsgefährdung“, wie das die Statistiker nennen, wenn eine einzelne Person oder ein aus mehreren Personen bestehender Haushalt ein Einkommen hat, das weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beträgt (für einen Alleinstehenden beispielsweise liegt diese Armutsgefährdungsschwelle bei gut 1.000 Euro pro Monat für alle Ausgaben, vom Wohnen über Lebensmittel bis hin zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben).
Wenn man davon ausgeht, dann verändern sich die Zahlen erneut: Von 1,9 Mio. Kindern und Jugendlichen im Hartz IV-Bezug auf 2,72 Mio., die in Deutschland unterhalb der Armutsschwelle leben (müssen). Das umreißt die gewaltigen Ausmaße, die das Problem auf einer rein quantitativen Ebene hat.
Das schlägt sich dann natürlich auch nieder in der immer wieder vorgetragenen Quoten-Betrachtung. So wird für 2018 beispielsweise eine SGB II-Quote der unter 18-Jährigen in Höhe von 14,8 Prozent ausgewiesen. Also für Deutschland insgesamt. Bei einer ganz erheblichen Streuung zwischen den Bundesländern, zwischen Großstädten und dem Rest und selbst innerhalb der Städte gibt es ganz massive Streubreiten von kaum bis sehr viele Hartz IV-Kinder. So verzeichnete man für München oder Nürnberg bei den Kindern und Jugendlichen eine SGB II-Quote von 11,1 bzw. 17,4 Prozent, auf der anderen Seite standen (und stehen) Großstädte wie Bremen mit 31,3 Prozent und Essen im Ruhrgebiet mit 33,8 Prozent. In den letztgenannten Städten lebt also (mehr als) jedes dritte Kind in einem Haushalt, der Hartz IV-Leistungen bezieht.
Berücksichtigt man auch die vielen Kinder und Jugendlichen, die knapp oberhalb der Hartz IV-Bedarfsschwellen leben müssen, dann steigt die Armutsquote der unter 18-Jährigen auf 20,4 Prozent. Wenn man so rechnet, dann ist die Gruppe der von Einkommensarmut betroffenen Kinder und Jugendlichen also um fast 40 Prozent größer als es die SGB II-Quote anzeigt.
Und unabhängig, ob man die hier als Untergrenze verstandene SGB II-Quote der Kinder oder deren weiter gefasste Armutsquote betrachtet – eines wird deutlich erkennbar: Hier hat sich in den vergangenen Jahren kaum etwas verbessert im Sinne einer deutlichen Reduktion der Zahl der armen Kinder und Jugendlichen, wo doch ansonsten eher positive Botschaften ausgesendet werden wie eine deutliche Abnahme der Zahl der Arbeitslosen oder auch eine Verringerung der Zahl der Hartz IV-Empfänger ingesamt.
»Die wirtschaftlich gute Lage und die günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt haben nicht dazu geführt, dass spürbar weniger Kinder von Hartz IV leben müssen.« So auch der DGB unter der Überschrift „Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss den Niedriglohnsumpf austrocknen“. In dessen Auswertung der Daten für die unter 15-Jährigen findet man diesen Befund für den Vergleich von September 2016 mit September 2019: »Die Zahl von Kindern bis 14 Jahren, die mit ihren Eltern Hartz-IV-Leistungen beziehen müssen, stagniert auf hohem Niveau. Im September 2019 erhielten 1.510.440 Kinder Hartz IV. Das sind kaum weniger als drei Jahre zuvor, als 1.558.428 Kinder Leistungen bezogen.Der geringfügige Rückgang bei den Kindern entspricht einer Veränderung von nur minus 3,1 Prozent.«
Selbst wenn man die wie hier dargestellt höhere Zahl der Kinder unter 18 Jahren im Hartz IV-Bezug als Datengrundlage verwendet, kommt man zu dem gleichen Ergebnis: Im September 2016 gab es 1.957.857 Kinder in Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften, im September 2019 waren es 1.900.049 – und damit ebenfalls nur knapp 3 Prozent weniger. Die zu beklagende Konstanz bei den Zahlen für die Kinder im Hartz IV-Bezug verdeutlicht auch die folgende Abbildung für den längeren Zeitraum von 200 bis zum September 2019:
Bei den Kindern tut sich hinsichtlich des Niveaus offensichtlich kaum etwas, anders als bei den Personen in Bedarfsgemeinschaften insgesamt und darunter den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten.
Und welche Schlussfolgerungen zieht der DGB aus der beschriebenen Entwicklung?
„Weil die Zahl armer Kinder in den letzten Jahren kaum zurückgegangen ist, brauchen wir dringend ein beherztes Aktionsprogramm gegen Kinderarmut.“ Mit diesen Worten wird Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand zitiert. Und weiter: „Arbeitslosigkeit der Eltern und Niedriglohn sind die hauptsächlichen Ursachen für arme Familien, denn niedrige Löhne machen es trotz Arbeit oftmals unmöglich, den eigenen Lebensunterhalt und den eines Kindes aus eigenen Mitteln zu decken.
Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in West-Europa. Das Hartz-IV-System wird so durch das Aufstocken zum Reparaturbetrieb für nicht existenzsichernde Löhne. Deshalb gilt: Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss den Niedriglohnsumpf austrocknen. Dazu muss der Mindestlohn einmalig über den bestehenden Anpassungsmechanismus hinaus erhöht werden und es muss möglich gemacht werden, dass Tarifverträge leichter für alle Arbeitgeber verbindlich gemacht werden.“
Das sind sicher sehr relevante Aspekte – zugleich wird aber auch deutlich, dass man das Thema ein Stück weit instrumentalisiert für die eigenen aktuellen Forderungen nach einer deutlich stärkeren Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns als vor dem Hintergrund des bislang geltenden Anpassungsmechanismus möglich sowie dem Begehren, die Talfahrt der Tarifbindung durch das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung aufzuhalten und umzukehren.
Aber das würde nicht ausreichen, um das überaus heterogene Feld der „Kinderarmut“ – die es als solche ja eigentlich nicht gibt, handelt es sich doch immer um eine vom Familienkontext abgeleitete Armutslage der betroffenen Kinder (was auch der DGB so sieht: „Kinder sind arm und beziehen Hartz-IV-Leistungen, weil ihre Eltern arm sind und Hartz IV beziehen müssen“ – umfassend zu bekämpfen oder deren Auswirkungen wenigstens spürbar zu lindern. Das liegt natürlich auch an der realen Ausgestaltung des Hartz IV-Systems, wie es der DGB selbst beschreibt:
»Der pauschale Leistungssatz für Kinder unter sechs Jahren beträgt ab dem 1. Januar 2020 250 Euro monatlich, für 6- bis 13-jährige Kinder 308 Euro und für Kinder ab 14 Jahre 328 Euro. Mit Ausnahme der Wohnkosten muss davon nahezu der gesamte Lebensunterhalt bestritten werden. Nur für wenige Dinge und Anlässe wie beispielweise für Klassenfahrten und Schulmaterialen gibt es zusätzliche Leistungen.
Laut offizieller Herleitung sind im Regelsatz für ein 10-jähriges Kind 4,09 Euro pro Tag für Essen und Trinken vorgesehen, monatlich 2,68 Euro für Bücher und monatlich 14,60 Euro fürs Sparen für Schuhe für schnell wachsende Kinderfüße. Die Regelsätze sind zu niedrig, um Kindern eine ausreichende soziale Teilhabe zu ermöglichen. Oftmals fehlt das Geld für den Eintritt ins Schwimmbad, die Schlittschuhbahn oder das Kino.
Adventsschmuck, ein Weihnachtsbaum, Malstifte für Schulkinder oder die Kugel Eis von der Eisdiele im Sommer sind aus Sicht der Regierungskoalition Luxusgegenstände, die Haushalten im Hartz-IV-Bezug nicht zustehen. Bei der Ableitung der Regelsätze aus den Konsumausgaben einkommensschwacher Haushalte wurden die statisch gemessenen Ausgaben gestrichen.«
Eine Schlussfolgerung von Buntenbach daraus: »Die kinderbezogenen Leistungen für Geringverdienende sollten so gebündelt und erhöht werden, dass ein Leben unabhängig von Hartz IV möglich wird.« Wenn man das weiterdenkt, dann würde man sehr schnell zu der Diskussion über eine „Kindergrundsicherung“ kommen, die seit Jahren vorangetrieben wird und mittlerweile auch von mehreren Parteien aufgegriffen wurde. Darüber hinaus – und vor allem angesichts der gegebenen hoch konzentrierten Verteilung der Kinderarmut auf bestimmte Quartiere – braucht es massive Investitionen dort vor Ort in eine umfassend und vor allem nachhaltig ausgestaltete Infrastruktur, beispielsweise in die Kitas und Schulen. Und wir reden dann nicht von nur einen kleinen Zuschlag mehr – sondern über ein Mehrfaches an Ressourcen.
Wem die bisherigen zahlengetriebenen Ausführungen zu statistisch und abstrakt daherkommen, dem sei aus der unüberschaubaren Zahl an Berichten über die konkreten Ausformungen von Kinder- und letztendlich Familienarbeit beispielsweise dieser Artikel empfohlen, der einen wieder erden kann: »Eine 34 Jahre alte Mutter dreier Kinder schildert, was es bedeutet, im Monat 200 Euro fürs Essen zu haben«, so Walter Müller in seinem Artikel Armut in Österreich: „Einmal in eine Therme mit den Kindern, das wäre was“. Und keiner sollte sagen, dass das Beispiel ja Österreich und nicht Deutschland betrifft. In unserem Land spielen sich tagtäglich vergleichbare Situationen in hunderttausenden Familien ab, die sich hinter den großen Zahlen, um die es in diesem Beitrag vor allem ging, verstecken (müssen).