„Der gesundheitliche Verbraucherschutz gehört zu den zentralen Elementen der staatlichen Fürsorgepflicht. Sein Anliegen ist es, Verbraucherinnen und Verbraucher vor Gesundheitsgefahren durch Lebensmittel, Bedarfsgegenstände, Tabakerzeugnisse und kosmetische Mittel zu schützen.“ (Bundesrechnungshof 2012)
Und erneut werden wir konfrontiert mit mehreren „Lebensmittelskandalen“. Wobei die Begrifflichkeit an sich schon zu hinterfragen wäre, denn sicher sind die einen oder anderen Lebensmittel von skandalös schlechtem Geschmack, aber sie können an sich keinen Skandal hervorrufen. Dahinter stehen Menschen, konkrete Unternehmen – und wieder einmal das (Nicht-)Handeln staatlicher Autoritäten, die eigentlich in einem Kernbereich der staatlichen Daseinsfürsorge unterwegs sind bzw. sein sollten.
Und bei den Fragen des Verbraucherschutzes geht es nicht nur um das von möglichst unabhängigen Institutionen zu prüfende Preis-Leistungsverhältnis bei Nassrasierern oder Waschmaschinen, wie man zuweilen bei der dominierenden Warentesterei annehmen könnte, sondern im wahrsten Sinne des Wortes um Leben oder Tod, wie wir diese Tage erneut leider wieder zur Kenntnis nehmen müssen. Die Ereignisse rund um den Wursthersteller Wilke werden als ein weiterer Fall in die Geschichte der (bekannt gewordenen) „Lebensmittelskandale“ eingehen.
Das hessische Unternehmen soll, wie das Robert-Koch-Institut mittlerweile mitgeteilt hat, nicht nur wie bislang berichtet für zwei, sondern für drei Todesfälle im Jahr 2018 verantwortlich sein, sowie für 37 weiteren Krankheitsfällen wegen keimbelasteter Wurst . Und das vor dem Hintergrund, dass dem Unternehmen Wilke vorgeworfen wird, hygienische Mängel vertuscht und billigend in Kauf genommen zu haben. Wilkes Wurst war mit Listerien-Keimen befallen, die für die meisten Menschen zwar ungefährlich sind, wenn man aber immungeschwächt ist, dann muss man um sein Leben fürchten. »Mitte September hatten die Behörden den Nachweis geführt, dass die Keime mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Tod zweier Menschen und die Erkrankung von 37 weiteren verantwortlich waren. Der Betrieb im Landkreis Waldeck-Frankenberg wurde am 1. Oktober geschlossen. Er hat vorläufige Insolvenz angemeldet, gegen seinen Geschäftsführer laufen Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung«, kann man diesem Artikel entnehmen: Hessische Wurstfirma Wilke belieferte Kliniken und Unis. Doch der Wursthersteller blieb nicht lange allein.
»Nach dem Skandal beim hessischen Wursthersteller Wilke wurden am Freitag erneut Lebensmittel zurückgerufen. Diesmal betrifft es die Milch. Wegen der Gefahr von Durchfallerkrankungen nehmen das Deutsche Milchkontor und Fude+Serrahn eines ihrer Produkte vom Markt«, so dieser Artikel: Verseuchte Milch. »Bei Routinekontrollen sei „bei einzelnen Artikeln“ eine Belastung mit Aeromonas hydrophila/caviae festgestellt worden, teilten die beiden Unternehmen mit. Dies könne „zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Durchfall führen“.« Das hat sicher zur aktuellen Beunruhigung vieler Verbraucher beigetragen. Allerdings muss man darauf hinweisen, dass es wohl erhebliche Unterschiede zwischen dem Wurst- und dem Milchfall gibt. Darauf weist Tim Niendorf in seinem Artikel „Skandal um Skandal“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.10.2019) hin, denn:
Die »Deutsche Milchkontor (DMK) aus Bremen und das Hamburger Unternehmen Fude & Serrahn (hatten) bei einer Routinekontrolle eine unerfreuliche Entdeckung gemacht. „Einzelne“ Milch-Artikel, hieß es, seien mit dem Bakterium Aeromonas hydrophila verunreinigt. Ursache hierfür war eine undichte Dichtung in einem Produktionswerk im münsterländischen Everswinkel. Nachdem diese entdeckt worden war, schickten die Unternehmen Proben an ein externes Labor, dessen Experten einen Wasserkeim nachwiesen. Am selben Tag gingen auch die ersten Kundenreklamationen ein, am Freitag ließen die beiden Unternehmen dann Literpackungen mit frischer fettarmer Milch aus der Molkerei in Everswinkel zurückrufen. Die großen Lebensmittelhändler nahmen die Milch umgehend aus dem Verkauf. Die Unternehmen hatten also umgehend reagiert, die Produkte waren schnell vom Markt. Der Grund: Es war einfach, die Lieferkette zurückzuverfolgen.«
Bei dem Wursthersteller Wilke hingegen zeigt sich ein ganz anderes Bild, wie Niendorf in seinem Artikel berichtet: »Schon länger muss es in dem Betrieb in Twistetal hygienische Mängel gegeben haben; davon berichten jetzt Mitarbeiter. Öffentlich zu Wort meldete sich etwa Andreas Fischer, ein ehemaliger Abteilungsleiter, der Interviews gab und Bilder zeigte, auf denen mit grün-grauem Schimmel bedeckte Würste zu sehen sind.Lange Zeit jedoch waren die Mängel nicht nach außen gedrungen. Im Gegenteil: Die Prüfungsgesellschaft DQS händigte Wilke noch im Juli ein Zertifikat des Handels aus, wonach das Unternehmen die Lebensmittelsicherheitsstandards erfülle … Doch ein paar Wochen nach dieser Prüfung ging beim hessischen Verbraucherschutzministerium eine Mail ein, die hätte stutzig machen müssen. Darin informierte das Bundesamt für Verbraucherschutz das Ministerium von einem Listerien-Befund bei Wilke, festgestellt durch das Robert-Koch-Institut, RKI. Doch es dauerte acht Tage, bis das Ministerium die Information an das Regierungspräsidium Kassel und den zuständigen Landkreis Waldeck-Frankenberg weiterleitete … Wilke durfte nicht mehr ausliefern. Es dauerte aber weitere 14 Tage, bis der Betrieb geschlossen und die Öffentlichkeit gewarnt wurde.«
Offensichtlich werden wir hier nicht nur mit einer mehr als schlafmützigen Reaktion der staatlichen Seite konfrontiert, wir erfahren auch noch was über ein anderes „Kontrollsystem“ – den Zertifizierungen. Dazu Gerhard Hegmann unter der Überschrift Wilke Wurst war bei Kontrollen vorgewarnt – Prüfer mussten sich anmelden: »Das wegen Listerien-Keimen geschlossene Wurstunternehmen Wilke wollte vorher wissen, wann der Prüfer für das im Lebensmittelhandel übliche IFS-Zertifikat auftaucht. Das hessische Unternehmen habe die Zertifizierung nach vorheriger Anmeldung und nicht in der Variante unangemeldeter Prüfung gewählt, sagte der Chef der deutschen IFS-Dachorganisation, Stephan Tromp … Das IFS-Zertifikat wird nicht von Behörden vergeben, sondern ist eine Eigenkontrolle der Wirtschaft zwischen Lebensmittelherstellern und dem Handel über die Einhaltung von Standards. Nahezu alle Handelsketten setzen IFS-Zertifikate vom Lebensmittelhersteller voraus … Wie der IFS-Chef erläuterte, werden bei angekündigten Audits, wie von Wilke gewählt, mit einer Mindestvorlaufzeit von zwei Monaten die Unternehmen vorher benachrichtigt.«
»Lebensmittelunternehmen sichern sich über Zertifikate ab, um die Qualitätsstandards ihrer Produktion zu belegen. Der Wursthersteller Wilke hatte auch eins«, so Petra Kirchhoff in ihrem Artikel Wie sich die Wirtschaft selbst kontrolliert. »Unternehmen aus der Lebensmittelbranche sind aber auch selbst verpflichtet, sich einmal im Jahr kontrollieren zu lassen. Das gilt für den Landwirt ebenso wie für den Wurstfabrikanten oder Restaurantbetreiber. Durch betriebliche Eigenkontrollen und ein entsprechendes Qualitätsmanagement muss der Unternehmer sicherstellen, dass seine Produkte den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Ein inzwischen europaweit gängiges Zertifikat, etwa vergleichbar mit dem Tüv, ist das IFS-Zertifikat. Es wird nicht von Behörden vergeben, sondern ist die Eigenkontrolle der Wirtschaft, bei der geprüft wird, ob Standards in der Produktion eingehalten werden, wie etwa bestimmte Handgriffe und Kühltemperaturen, oder ob eine ordentlich geführte Lieferantenkette vorliegt.« Kirchhoff weist darauf hin, dass beklagt werde, »dass es in Deutschland, anders als etwa in den Niederlanden, keinen Austausch zwischen den privaten und staatlichen Kontrolleuren gibt.«
Apropos Zertifikate: Zu 90 Prozent sei bei Wilke alles in Ordnung gewesen, teilte die Prüffirma mit. Erst bei 70 Prozent werde das Zertifikat nicht mehr erteilt. Also muss man 30 Prozent Mängel akzeptieren?
Und schon sind wir bei den staatlichen Kontrolleuren angekommen. Und da liegt offensichtlich einiges im Argen. So bilanziert Tim Niendorf in seinem Artikel: »In Frage steht auch das komplizierte Kontrollsystem, das bundesweit auf 400 Behörden verteilt ist. Der Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure Deutschlands sprach sich nun dafür aus, mehr Kontrolleure einzustellen. Die Zahl der in der Regel unangekündigten Kontrollen sei in den vergangenen Jahren gesunken, wie es hieß.«
Angesichts der jüngsten Probleme mit verseuchten Lebensmitteln fordern die Lebensmittelkontrolleure, endlich das Personal bei den Überwachungsbehörden aufzustocken. „Wir benötigen dringend mehr Personal“, so wird der stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure, Maik Maschke, in diesem Artikel zitiert: Verseuchte Milch. „Wir konnten 2018 nur 42 Prozent der notwendigen Kontrollen machen“, sagte Maschke unter Verweis auf einen Bericht des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Grundsätzlich seien die Kontrolleure schon froh, wenn Stellen von Kollegen, die altersbedingt aus dem Dienst ausscheiden, wiederbesetzt würden. Für die Stellenbesetzung sind die Bundesländer zuständig.
Und schon sind wir mittendrin in einer der vielen Blüten der organisierten vielgliedrigen Teilzuständigkeiten in unserem föderalen „System“, dessen problematische Auswirkungen wir auch aus anderen Bereichen kennen. Man darf eben nicht vermuten, dass es ein kohärentes und transparentes System der Aufsicht, Kontrolle und Sanktionieren in einem derart existenziellen Bereich wie der Lebensmittelsicherheit gibt. Ganz im Gegenteil.
In seinem Artikel Lebensmittelüberwachung: Wie Kontrollen ablaufen und was Verbraucher tun können skizziert Steven Micksch einige Grundzüge der bestehenden Regelungen: »Die amtliche Lebensmittelkontrolle ist Aufgabe der Bundesländer und Kommunen. In Hessen hat das Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Aufsicht. Es trifft grundsätzliche Entscheidungen, entwickelt Untersuchungsprogramme und koordiniert die Aktivitäten der Lebensmittel- und Veterinärüberwachungsbehörden in den Städten und Landkreisen. Zudem informiert es in Krisenfällen die anderen Länder und die Öffentlichkeit.«
➔ Beispiel Lebensmittelkontrolle der Stadt Frankfurt am Main: »Die relevanten Betriebe werden in einem Schema erfasst und einer Gefahrenanalyse unterzogen. Anschließend wird festgelegt, welcher Betrieb wie oft kontrolliert werden muss. So sind Fleisch, Fisch sowie Backwaren häufiger zu untersuchen als Erfrischungsgetränke und alkoholische Getränke. Das Frankfurter Ordnungsamt ist für etwa 9.000 Betriebe zuständig, darunter fallen Herstellungs- und Verarbeitungsbetriebe, aber auch Gastronomieeinrichtungen und Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung wie Kitas, Schulen oder Krankenhäuser. Zwischen zehn und 20 Lebensmittelkontrolleure überprüfen die Frankfurter Betriebe.«
Und hier werden die Verhältnisse in einer Großstadt wir Frankfurt am Main beschrieben – man kann sich gut vorstellen, wie beispielsweise die personelle Ausstattung in kleineren Städten oder vielen Landkreisen des Landes ist. Genau, unterirdisch schlecht ist sie.
Die für Wilke zuständige Behörde verfügte laut Informationen des Landkreises an die Verbraucherorganisation Foodwatch im vergangenen Jahr über 3,15 Stellen für Kontrolleure, bei annähernd 3.000 zu kontrollierende Betrieben. Noch Fragen?
»Der Skandal um die verunreinigte Wurst des Herstellers Wilke mit bislang drei Todesfällen zeigt: Das System der Lebensmittelkontrollen muss reformiert werden«, so die Kernaussage von Marie Luise Kehler in ihrem Beitrag Ein Flickenteppich der Zuständigkeiten. Und sie gibt uns dankenswerterweise einen Hinweis, dass man gerade nicht überrascht tun darf, denn die strukturellen Reformbedarfe sind schon vor Jahren mehr als genau beschrieben und mit Forderungen hinterlegt worden. Und das von einer Institution, der man sicher alles, aber nicht die Förderung fragwürdiger Jobs im öffentlichen Dienst vorwerfen kann: dem Bundesrechnungshof. Dazu Kehler:
»Die 120 Seiten lesen sich wie eine dunkle Prophezeiung, nicht wie eine nüchterne Empfehlung. Schon 2012, ein Jahr nachdem in Deutschland die Suche nach dem Ehec-Erreger Verbraucher über Wochen verunsicherte, hat der Bundesrechnungshof ein Empfehlungsschreiben zur „Stärkung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes“ herausgegeben. Darin wurden die Schwachstellen des Systems schonungslos herausgearbeitet. Wie genau die damals niedergeschriebene Mängelliste auch heute noch die Realität widerspiegelt, wird durch den jüngsten Lebensmittelskandal um das nordhessische Unternehmen Wilke deutlich.«
Wer sich den erwähnten, 2011 erstellten und 2012 veröffentlichten Bericht im Original anschauen möchte, der wird hier fündig:
➔ Bundesrechnungshof (2012): Organisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. Schwerpunkt Lebensmittel. Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung Band 16, Stuttgart 2012
Der Bericht diagnostiziert: »Die Einhaltung lebens- und futtermittelrechtlicher Vorschriften wird durch mehr als 400 amtliche Stellen überwacht, die überwiegend auf kommunaler Ebene angesiedelt sind.« In den 16 Bundesländern gelten darüber hinaus 16 unterschiedliche Kontroll-Verfahren. Damit einhergehen dann zahlreiche organisatorische Schwachstellen, die beschrieben werden (S. 14). Konkrete Weiterentwicklungsvorschläge wurden erarbeitet. Dazu Marie Luise Kehler: »Die „miteinander verflochtenen Zuständigkeiten von Bund und Land“ sollten demnach aufgelöst und dem Bund allein zugeschrieben werden. Außerdem wurde die Einrichtung eines nationalen Qualitäts- und Krisenmanagements gefordert sowie die Etablierung eines Systems, das eine lückenlose Rückverfolgung von Lebensmitteln sichert. Darüber hinaus empfahlen die Gutachter, dass die Unternehmen, die zur Eigenkontrolle verpflichtet sind, nach genau festgelegten Standards arbeiten – und auch nach solchen überprüft werden sollen. „Die finanzielle und personelle Ausstattung der amtlichen Lebensmittelüberwachung ist vielfach unzureichend“, lautete das damalige Fazit. Und heute? Passiert ist seither wenig. In erster Linie gilt weiterhin: Lebensmittelüberwachung ist und bleibt Ländersache.«
Das Gutachten des Bundesrechnungshofs ist nicht das erste seiner Art. Ein ähnliches wurde schon im Jahr 2001, kurz nach dem BSE-Skandal, verfasst. Aber auch fast 20 Jahre danach stehen wir vor einer vergleichbaren Problemdiagnose, insofern kann und muss man von den Umrissen eines offensichtlichen Staatsversagens dahingehend sprechen, endlich die notwendigen Strukturen zu schaffen, um dem gesundheitlichen Verbraucherschutz als „zentrales Element der Fürsorgepflicht“ des Staates endlich die erforderlichen Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen und der Schutzpflicht gegenüber den Bürgern auch nachkommen zu können.
Und man bleibt wie vor Jahren weiterhin verheddert in einem Gestrüpp der „multiplen Teilzuständigkeiten“ – in einem Bereich, der immer komplexer wird. So wird gemeldet, dass die Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) mehr Personal für die Lebensmittelkontrolle fordert, der Bericht aber zeigt schon in der Überschrift, wo ein Teil des Problems liegt: Klöckner sieht Länder bei Lebensmittelkontrollen in der Pflicht. »Als Bund will ich wissen, wo die Schwachstellen vor Ort liegen. Die Länder müssen bereit sein, über stärkere Konzentration und Bündelung von Verantwortlichkeiten zu sprechen, um die Lebensmittelkontrolle zu optimieren«, so wird die Ministerin zitiert – und damit eine der Empfehlungen aus den Berichten von vor vielen Jahren wiederbelebend. Klöckner will nach dem Milch-Rückruf eine Runde mit allen Länder-Agrarministerien einberufen. Einer dieser vielen Gipfel, die an uns vorbei gezogen sind. Bund und Länder haben schlichtweg ihre vor Jahren bereits klar beschriebenen Hausaufgaben nicht gemacht und müssen jetzt den Anschein erwecken, sie würden irgendwas tun.
Weitet man an dieser Stelle den Blick auf die Millionen Verbraucher, also uns alle, dann darf es nicht nur darum gehen, dass wir uns darauf verlasen müssen, dass „der“ Staat seine Schutzpflichten vollumfänglich erfüllt (woran es wie beschrieben erhebliche Zweifel gibt) – sondern der Verbraucher braucht auch Transparenz über das, was kontrolliert wurde und was dabei herausgekommen ist. Aber auch da werden wir mit erheblichen Mängeln konfrontiert. Anfang 2019 haben die Grünen im Bundestag diesen Antrag eingebracht: Transparenz über Lebensmittelkontrollen herstellen (Bundestags-Drucksache 19/7435 vom 30.01.2019). Dort findet man die folgende Problembeschreibung: »Obwohl die Lebensmittelüberwachung seit Jahren in jedem vierten Betrieb Mängel vorfindet, erfahren Verbraucherinnen und Verbraucher nur in den seltensten Fällen davon. Seit Jahren bemängeln die Bundesländer, dass sie noch nicht einmal ihren … Informationspflichten nachkommen und festgestellte Verstöße bzw. erhebliche oder wiederholte Hygienemängel veröffentlichen können … Selbst wenn Fleischereien, Bäckereien, Imbisse oder Gaststätten immer wieder durch Verstöße auffallen, verschwinden diese Ergebnisse in den Schubladen und gelangen nicht an die Öffentlichkeit.« Der Antrag stößt dann zum Kernproblem vor und benennt einen Lösungsansatz: »Wirkliche Transparenz lässt sich nur über eine generelle Veröffentlichung behördlicher Kontrollergebnisse, unabhängig vom Schweregrad möglicher Verstöße und mit Nennung von Betriebs- bzw. Produktnamen, schaffen. Diese sollten nicht nur im Internet abrufbar, sondern auch in Form eines Hygienesmileys oder -barometers direkt am Betriebsort für Verbraucherinnen und Verbraucher verständlich kommuniziert werden.« Und mögliche Skeptiker, dass ein solcher Ansatz „zu weit“ gehen könnte, bekommen diese Information: »In anderen europäischen Ländern ist die Transparenz über Lebensmittelkontrollergebnisse längst Normalität. In Dänemark informiert ein Hygienesmiley direkt am Restaurant oder Betrieb über die Ergebnisse der letzten Lebensmittelkontrolle. In Frankreich können Verbraucherinnen und Verbraucher im Internet für jeden Lebensmittelbetrieb das Ergebnis der letzten Lebensmittelkontrolle anhand einer vierstufigen Smiley-Skala einsehen. Auch in Großbritannien sind die Kontrollergebnisse aller Lebensmittelbetriebe anhand einer fünfstufigen Skala im Internet sichtbar.«
Selbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sicher nicht als regulierungsfreundlich bekannt, kommt man zu dieser eindeutigen Bewertung die staatlichen Kontrollen betreffend: »Die öffentliche Überwachung, die oft noch in Hand der Kommunen liegt, ist für dieses Umfeld nicht mehr zeitgemäß. Bund und Länder müssen stärker eingreifen, um den Verbraucher wirkungsvoller zu schützen«, so Christian Müssgens in seinem Kommentar Zeit für mehr Verbraucherschutz. Was meint er mit „dieses Umfeld“? Er bezieht sich auf die „Risiken in einem Geschäft mit wachsendem Konkurrenzkampf.“ Genauer: »Auf der einen Seite sorgt der Preisdruck der Supermarktketten und Discounter, den diese an ihre Lieferanten weitergeben, dafür, dass an allen Stellen die Kosten sinken müssen. Die daraus resultierende dünne Personaldecke dürfte in manchem Betrieb die internen Kontrollen erschweren. Gleichzeitig sorgt die Konzentration im Handel dafür, dass auch das Feld der Lieferanten tendenziell auf einige große Betriebe zusammenschrumpft. Tritt dann ein Krisenfall ein, sind sofort viele Händler betroffen.« Vor diesem Hintergrund sei eben die bisherige öffentliche Überwachung nicht mehr zeitgemäß.
Fazit: Es gibt einen klaren und übrigens schon seit langem auch konkretisierten Handlungsbedarf für eine Reform der staatlichen Kontrollen und darüber hinaus wertvolle Hinweise, wie man auch die Transparenz des Systems zugunsten der Verbraucher deutlich verbessern könnte. Passiert ist da bislang nur sehr wenig bis gar nichts.
Sicher kann und muss man auch ergänzend die bereits angedeutete Marktentwicklung mit in den Blick nehmen, aber man sollte nicht den Fehler machen, die derzeit mal wieder kurzzeitig in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden „Lebensmittelskandale“ ausschließlich auf die „bösen Kräfte“ in den hier relevanten Märkten zurückzuführen, so beklagenswert dieses Entwicklungen (Stichwort: „Billigschlachthaus Deutschland“ oder die durch den Kostendruck beförderten miesen Arbeitsbedingungen in vielen anderen lebensmittelproduzierenden Betrieben) auch sind. Das würde das bisherige offensichtliche Versagen staatlicher Institutionen, ihren Job ordentlich zu machen, nur überdecken bzw. davon ablenken.
Vor dem Hintergrund dieser einschränket gemeinten Anmerkung kann man dann tatsächlich die Frage aufwerfen, ob die Verhältnisse in der Branche und in den Betrieben tatsächlich einen Missstände fördernden Effekt haben.
Auch bei dem aktuellen Fall rund um die „Wilke Waldecker Fleisch- und Wurstwaren“ findet man entsprechende Hinweise. Dazu aus dem Artikel „Skandal um Skandal“ von Tim Niendorf in der FAS vom 13.10.2019: »Schon länger muss es in dem Betrieb in Twistetal hygienische Mängel gegeben haben; davon berichten jetzt Mitarbeiter. Öffentlich zu Wort meldete sich etwa Andreas Fischer, ein ehemaliger Abteilungsleiter, der Interviews gab und Bilder zeigte, auf denen mit grün-grauem Schimmel bedeckte Würste zu sehen sind … Dem Lebensmittelskandal ging … ein „Regime der Angst“ voraus. Nicht nur, dass die Belegschaft seit etwa 15 Jahren auf Lohnerhöhungen verzichten musste. Auch habe es Schikanen gegeben. Mitarbeiter hätten ihm berichtet, sie seien vom Geschäftsführer angeschrien worden. Es habe Strafversetzungen gegeben. Wenn Missstände angesprochen wurden, hätten die Vorgesetzten gesagt: Das geht dich nichts an, mach deine Arbeit, wir machen unsere.«
Und auch im SPIEGEL (Nr. 47/2019) wird das Thema aufgegriffen: Michaela Schießl schreibt in ihrem Artikel „Geschmack, neu definiert“: »Der Fall der Firma Wilke zeigt, wie krank das System der Fleischproduktion in Deutschland ist – auch durch den Preisdruck des Einzelhandels.« Sie meint, »je mehr über den Fall bekannt wird, umso klarer wird: Der Skandal entspringt nicht allein dem Versagen Einzelner oder einer besonderen kriminellen Energie. Er scheint systemimmanent zu sein, die Folge eines unerbittlichen Wettbewerbs in einer Branche mit so geringen Margen, dass jede Retoure, jeder Auftragsverlust die Existenz kosten kann.«
»Das Elend der Fleischindustrie ist oft beschrieben worden. Doch zumeist geht es um das Leiden der Tiere, deren Ställe Folterkammern sind. Oder um den trostlosen Alltag der Akkordschlachter, die zu lächerlichen Löhnen schuften müssen.
Der Fall Wilke lenkt den Blick auf das Zentrum der Branche, die Verarbeitungsbetriebe. Auch dort ist der Preisdruck enorm. Es gibt kaum noch Fachpersonal. Die Arbeiter, meist angeworben aus Bulgarien, Ungarn, Moldawien, Rumänien, sind selten gewerkschaftlich organisiert und kennen sich mit den Arbeits- und Hygienevorschriften meist nicht gut genug aus, um sich zweifelhaften Anweisungen zu widersetzen. Viele verstehen kein Deutsch. Gespart wird überall: am Personal, an der Fleischqualität, an den Herstellungskosten. Es geht um Centbeträge bei jedem Arbeitsschritt.
Und all das nur, damit in Discounterläden Fleisch und Wurst zu Dumpingpreisen angeboten werden können.«
Fazit: Wieder einmal werden wir mit einem problematischen Zusammenspiel konfrontiert, bei dem die Wucht von asymmetrischen Marktprozessen auf eine zersplitterte Struktur eines „schwachen Staates“ stößt. Zu wessen Ungunsten das bislang ausgeht, ist offensichtlich geworden. Aber neben der aktuellen Bedeutung verdeutlicht die hier präsentierte grundsätzliche Behandlung des Themas, dass es innerhalb der Sozialpolitik mit Blick auf den Verbraucherschutz zwei zentrale Aufgaben gibt:
➞ Zum einen muss überhaupt wieder in Erinnerung gerufen werden, was man nur noch in alten Lehrbüchern der Sozialpolitik finden kann: Verbraucherschutz ist ein überaus bedeutsamer Bereich der Sozialpolitik, die sich immer auch als Schutzpolitik für die Menschen versteht. Dies lässt sich angesichts der Machtasymmetrie der vielen „kleinen“ Verbraucher auch und gerade ökonomisch gut begründen. Dann muss die aber nicht nur überhaupt behandelt werden als explizit sozialpolitisches Thema. Der Bereich muss dann auch in der Praxis entsprechend ausgestattet werden, nicht nur mit ausreichend Personal, sondern auch mit einer rechtlichen Absicherung des Schutzauftrags, zum dem eben gerade auch die Information der Bevölkerung gehört.
➞ Und zum anderen darf sich die „moderne“ Diskussion über Verbraucherschutz nicht nur fokussieren auf „moderne“ Herausforderungen wie die Absicherung der Verbraucher in digitalen Zeiten – so wichtig das sicherlich ist. Dazu wird gerade viel gearbeitet, geforscht und veröffentlicht – vgl. dazu nur als ein Beispiel die rund um die Digitalisierung kreisenden Arbeiten aus dem vom Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) eingesetzten Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV). Es muss auch wieder Analysen und klare Stellungnahmen zum „klassischen“ Verbraucherschutz – wie der Lebensmittelüberwachung – geben. Davon sind mindestens genau sie viele Menschen betroffen wie von Problemen mit der digitalen Existenz.
Nachtrag am 03.11.2019:
Die Berichterstattung über den Fleischskandal bei Wilke und vor allem das immer offensichtlicher werdende Behördenversagen hält an – damit verbunden die auch hier angesprochene Frage nach den Konsequenzen für diesen so existenziellen Bereich des Verbraucherschutzes. Unter der Überschrift Was der Fall Wilke über unser Kontrollsystem sagt berichtet Heike Jahberg wenig appetitliche Details: »Für Foodwatch ist der Fall Wilke ein Zeichen für das „Totalversagen“ der Lebensmittelaufsicht. Tatsächlich zeigt ein Bericht der hessischen Task Force für Lebensmittelsicherheit, in der Lebensmittelchemiker, Tierärzte, ein Lebensmittelkontrolleur und weitere Fachleute zusammenarbeiten, wie gravierend die hygienischen Zustände bei Wilke waren. Die Experten hatten den Betrieb am 2. Oktober besucht, einen Tag nach dessen Schließung durch die Behörden. Sie fanden Mäusekot in einem Kühlraum, vergammelte Fleischsaftreste in einem Aufzug, dreckige Maschinen, Schimmel, Rost, Kalk und Schmutz. In offene Wannen und Wagen, in denen unverpacktes Fleisch transportiert wurde, tropfte Kondenswasser, beim Öffnen der Aufzugtür schlug den Kontrolleuren Verwesungsgeruch entgegen. Dass Wilke Probleme hat, ist nicht neu. Bereits seit 2012 gab es immer wieder Beanstandungen. Mal fanden Kontrolleure Salmonellen, mal Listerien, mal wurden „erhebliche Hygienmängel“ beanstandet. Viel passiert ist nicht – außer Bußgeldern und der Auflage, den Laden zu säubern. Erst nach den Todesfällen haben die Behörden den Betrieb geschlossen.«