Neben den Gleisen. Seit 1894. Bahnhofsmissionen als letzter Halt in einer mobilen Welt

Die einen lieben es, auf Bahnhöfen zu sein, den Strom der vielen Menschen zu beobachten und die Atmosphäre des Ankommens und Wegfahrens zu genießen. Viele andere haben eine rein funktionale Beziehung zu Bahnhöfen, sie wollen irgendwo hin und Gefühle entwickeln sich bei ihnen meistens nur dann, wenn etwas nicht funktioniert. Verspätungen, Zugausfälle, fehlende Sitzplatzreservierungen. Was ziemlich häufig der Fall ist.

Zugleich gibt es gerade an diesen Orten unserer Bewegungsgesellschaft eine eigene Welt des scheinbaren Stillstandes, des völligen Gegensatzes zu den mobilen Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes auf der Durchreise sind. Gemeint sind die Menschen, die den öffentlichen Raum Bahnhof als Ort des Daseins, des Bleibens benutzen, obdachlose Menschen, Suchtkranke und die vielen anderen Einzelschicksale aus der großen Gruppen derjenigen, die man ansonsten kaum oder gar nicht zu Gesicht bekommt.

Und für viele von Ihnen gibt es in zahlreichen Bahnhöfen (noch) ein letztes Auffangnetz, das die meisten von uns kennen: Bahnhofsmissionen. Und die haben eine lange, eine sehr lange Geschichte. Genauer: Sie blicken zurück auf 125 Jahre. Denn 1894 wurde die erste Bahnhofsmission am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Berliner Ostbahnhof, ins Leben gerufen.

Wie so oft ist ein genauer Blick zurück auf die Motive interessant, die zu der Gründung geführt hat: „Von Frauen für Frauen“, so kann man das zusammenfassen, denn: »Bürgerliche Frauen aus den katholischen, evangelischen und jüdischen Gemeinden wollten damit jungen Mädchen, die kurz vor der Jahrhundertwende aus ländlichen Gebieten auf Arbeitssuche nach Berlin kamen und Opfer von sozialer und sexueller Ausbeutung wurden, „eine Lebensperspektive bieten“.« Hier wird Gisela Sauter-Ackermann zitiert, katholische Geschäftsführerin der ökumenischen Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission, dem bundesweiten Träger der Bahnhofsmissionen seit 1910 und wurde diesem lesenswerten Beitrag von Lisa Konstantinidis und Nina Schmedding entnommen: Mit oder ohne Ticket: „Jeder ist willkommen“. Darauf weisen auch die Bahnhofsmissionen selbst hin und weiten den historischen Blick: »Die Bahnhofsmissionen waren 1894 gegründet worden, um zuwandernde Frauen und Mädchen vor drohender Ausbeutung und Gewalt zu schützen. Im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte haben sie sich dann immer wieder neuen sozialen Herausforderungen gestellt, etwa der Versorgung von Kriegsheimkehrern und Geflüchteten, von Interzonenreisenden während des Kalten Krieges, von Gastarbeitern während der 60er Jahre und von Asylbewerbern und Spätaussiedlern in den 90er Jahren. 2015 waren sie auch in die Erstversorgung der an den Bahnhöfen ankommenden Geflüchteten eingebunden.« So findet man das in dieser Pressemitteilung Einfach da, seit 125 Jahren. Bahnhofsmission feiert Jubiläum.

Wer sich für die wechselvolle und höchst interessante Geschichte der Bahnhofsmissionen interessiert, dem sei diese neue Buchpublikation empfohlen:
➔ Bruno W. Nikles (2019): Bahnhofsmission und Bahnhofsdienste in Deutschland. Ein historischer Abriss ihrer Aufgaben- und Organisationsentwicklung, Opladen 2019.
Eine Rezension dieser historischen Aufarbeitung hat Franz Hamburger vorgelegt. Er schreibt: »Die Bahnhofsmission und die anderen sozialen Dienste am Bahnhof spielen in der allgemeinen Diskussion der Sozialen Arbeit keine Rolle. Zu sehr scheint die Tätigkeit am Bahnhof auf eine situative Hilfe fokussiert zu sein und zudem ist der kirchliche Charakter vieler Einrichtungen der Sozialen Arbeit, der hier noch ausdrücklich mit der Bezeichnung „Mission“ hervorgehoben wird, in der Theoriediskussion unterbelichtet.« Dabei lohnt der Blick auf die Bahnhofsmissionen, so der Rezensent, und auch er bezieht sich auf die Anfangszeiten: »Freiwilliges Engagement von Frauen für Frauen bildet den Anfang und setzt eine langsame Verstetigung und Verberuflichung der helfenden Tätigkeit in Gang – typisch für die Entwicklung der Sozialen Arbeit. Die fast modisch gewordene aktuelle Forschung zur „Internationale der Dienstmädchen“ und des Frauenhandels findet bei den Adressatinnen der Bahnhofsmission eine erstaunliche Kontinuität sozialer Probleme. Der Transnationalismus ist nichts Neues. Sorgfältig werden nach diesem Beginn die verschiedenen Phasen und Formen der sozialen Dienste und der Bahnhofsmission in Kriegen und Nachkriegszeiten mit ihren vielen Obdachlosen und Vertriebenen dargestellt. Interessant sind dann auch die Verwicklungen des sozialen Orts „Bahnhof“ in eine städtische Subkultur der Randständigkeit und der Kumulation sozialer Probleme.« Ein besonderer Mehrwert der Studie: »Die kirchliche Bahnhofsmission ist freilich nur eine historische Form der Hilfen am Bahnhof. Mit dem Roten Kreuz und der „Bahnhofshilfe des Jüdischen Frauenbundes“, mit der Kriegsfürsorge und der NS-Volkswohlfahrt, der Volkssolidarität und anderen Trägern sind historisch und politisch bestimmte Organisationsformen entstanden.«

Zurück in die Gegenwart: »Mittlerweile kommen jährlich zwei Millionen Ratsuchende in die Stationen – immer mehr sind psychisch krank oder einsam«, berichten Lisa Konstantinidis und Nina Schmedding in ihrem Beitrag. Derzeit gibt es bundesweit 104 Bahnhofsmissionen. Die Kosten werden aus staatlichen Mitteln, Kirchensteuern und Spenden zu je einem Drittel gedeckt. Die Räume stellt die Deutsche Bahn kostenfrei zur Verfügung. 400 hauptamtliche Mitarbeiter gibt es bundesweit, dazu 2.000 Ehrenamtliche

»Längst hat sich die Klientel geändert: Seit langer Zeit sind die „Gäste“ … nicht mehr nur junge Frauen – im Gegenteil: Zwei Drittel sind Männer, meistens zwischen 27 und 65 Jahren. Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit spielen in der Einrichtung keine Rolle. „Unsere Zielgruppe ist bunt gemischt. Jeder ist willkommen.“«

Um wem handelt es sich? »Dazu gehören Reisende „mit Fahrkarte“, die am Bahnhof ein- oder umsteigen und dabei helfende Hände benötigen oder etwa ein Problem wie ein verlorenes Portemonnaie haben. Diese machen bundesweit etwa ein Viertel aller Ratsuchenden aus. Und dann gibt es noch die Gruppe der Menschen „ohne Fahrkarte“ mit existenziellen Sorgen, die wohnungslos, alkoholkrank, verarmt oder verzweifelt sind.«

Und letztendlich spiegeln auch die Bahnhofsmissionen die strukturellen Veränderungen in unserer Gesellschaft: Auffällig sei, dass „seit etwa elf Jahren der Anteil der Menschen, die mehrere soziale Probleme gleichzeitig haben, steigt – also etwa eine psychische Erkrankung, keine Arbeit und keine Wohnung“, so wird Gisela Sauter-Ackermann zitiert. 2008 machte deren Anteil demnach 39,6 Prozent aus, im Jahr 2017 waren es 55 Prozent. Auch gebe es gerade in den Metropolen immer mehr einsame Menschen, die sich an die Mission wenden.

Ein Beispiel? »Einer der Menschen, die nicht mehr mitkommen, ist Hans-Jürgen Guthold. Seit sieben Jahren lebt er am Ostbahnhof, arbeitete vor seiner Obdachlosigkeit etwa 15 Jahre als Altenpfleger auf einer Demenzstation. Früher hatte er ein Zuhause, ein Auto. Zwei Mal pro Tag kommt er jetzt zur Mission, um etwas zu essen und einfach mal irgendwo in Ruhe sitzen zu können – ohne dass ihn jemand verjage. „Wir sind ja nicht als Obdachlose auf die Welt gekommen“, sagt er. Es könne jeden treffen.«

„Neben den Herausforderungen, die sich uns immer wieder durch temporäre Krisen stellen, nehmen wir als wichtigste Funktion der Bahnhofsmissionen mittlerweile die soziale Hilfe für Menschen wahr, die den Anschluss an die Gesellschaft verloren haben. Viele unserer Gäste finden aus eigener Kraft keinen Zugang mehr zu den regulären Hilfesystemen“ beschreibt der Bundesvorsitzende der Bahnhofsmission Klaus- Dieter Kottnik den Trend der vergangenen Jahre.

Aber natürlich fällt das nicht alles vom Himmel, also abschließend ein Blick auf das Thema Finanzen. Dazu erfahren wir aus einem Interview mit Karen Sommer-Loeffen, Referentin für Bahnhofsmissionen in der Diakonie RWL, das unter der Überschrift Lebenshelfer in blauen Westen veröffentlicht wurde:

»Wir haben keine gesicherte Regelfinanzierung. Eine Bahnhofsmission benötigt pro Jahr im Schnitt 60.000 Euro. Das sind vor allem Personalkosten. Jede Bahnhofsmission hat zwar Ehrenamtliche oder Menschen, die sich, im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit gefördert vom Jobcenter, engagieren. Aber Ehrenamt braucht Hauptamt. Nach Möglichkeit sollte in jeder Bahnhofsmission auch eine Sozialarbeiterin oder ein Sozialarbeiter angestellt sein. Bei der Vielzahl an sozialen Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen, ist das enorm wichtig.
Bei unseren Treffen mit den Trägern der Bahnhofsmissionen ist deshalb die ständige Frage: Wo bekommen wir Geld her? Ohne die Eigenmittel der Träger müssten viele der Bahnhofsmissionen schließen. Und die Träger geraten über die Jahre immer mehr in Schieflage.
Dass wir für alle Menschen da sind, ist da manchmal von Nachteil, denn viele Töpfe sind für ganz bestimmte Zielgruppen vorgesehen.«

Sie wird nach Ideen gefragt, wie man zu einer verlässlichen Finanzierung kommen könnte: »Eine mögliche Idee wäre es, wenn jeder Kunde pro verkauftem Bahnticket eine bestimmte Summe — zum Beispiel fünf Cent — an die Bahnhofsmission spendete. Wenn man das durchrechnet, käme bei 156 Millionen verkauften Fahrscheinen jährlich eine Summe von 75.000 Euro pro Bahnhofsmission zusammen. So eine Vereinbarung zur Einrichtung eines Spenden-Feldes beim Fahrkartenkauf gibt es bislang aber nicht.«

Ganz unten zählt jeder Cent.

Foto: © Stefan Sell