Der gesetzliche Mindestlohn als Lohnuntergrenze und ihre Nichteinhaltung. Neue Schätzergebnisse des DIW

Seit der gesetzliche Mindestlohn von damals 8,50 Euro pro Stunde (heute: 9,19 Euro) am 1. Januar 2015 nach einer überaus kontroversen Debatte mit viel Getöse in Hinblick auf die vermuteten Beschäftigungseffekte eingeführt wurde, wird immer wieder auf das Problem der Nicht-Einhaltung dieser eigentlichen Selbstverständlichkeit bei der Lohnzahlung hingewiesen. Dabei geht es neben den Möglichkeiten legaler Umgehungsstrategien vor allem um die „schwarzen Schafe“ auf Seiten der Unternehmen, die sich durch niedriger Personalkosten einen unlauteren Wettbewerbsvorteil verschaffen (wollen).

Dabei stellt sich natürlich auch die Frage, ob das nur einzelne Ausnahmefälle sind, die sich in der Lebenswirklichkeit nie ganz vermeiden lassen – oder ob eine erhebliche Zahl an Arbeitnehmern betroffen ist, weil in einem großen Umfang von der Nichteinhaltung Gebrauch gemacht wird. Dazu hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin neue Schätzergebnisse veröffentlicht.

Quelle: DIW Berlin: Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele Beschäftigte nicht, Pressemitteilung vom 10.07.2019

Zu der angesprochenen Frage nach der Größenordnung der Nichteinhaltung der Mindestlohnvorschriften erfahren wir vom DIW (Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele Beschäftigte nicht): »Seit gut vier Jahren gilt in Deutschland ein allgemeiner Mindestlohn – doch nach wie vor erhalten ihn viele anspruchsberechtigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht. Das zeigen neue Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die bisherige Zahlen zur Nichteinhaltung des Mindestlohns für das Jahr 2017 – das aktuellste, für das entsprechende Daten vorliegen – fortschreiben. Demzufolge wurden selbst bei einer konservativen Schätzung mindestens 1,3 Millionen Beschäftige, denen der Mindestlohn zugestanden hätte, in ihrer Haupttätigkeit unterhalb des Mindestlohns in Höhe von damals 8,84 Euro pro Stunde bezahlt. Hinzu kamen rund eine halbe Million Beschäftigte, die in einer Nebentätigkeit weniger als den Mindestlohn erhielten.«

Die Rechenergebnisse basieren auf dieser Studie:

➔ Alexandra Fedorets, Markus M. Grabka und Carsten Schröder (2019): Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele anspruchsberechtigte Beschäftigte nicht, in: DIW Wochenbericht, Nr. 28/2019

Natürlich, man ahnt es schon, sind nicht alle Arbeitnehmer gleichmäßig betroffen, sondern es gibt strukturelle Schwerpunkte der Nichteinhaltung des Mindestlohns, die nicht wirklich überraschen:

»Besonders oft wird der Mindestlohn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Gastgewerbe, im Einzelhandel, bei persönlichen Dienstleistungen und in der Leih- und Zeitarbeit vorenthalten. Frauen werden häufiger trotz Anspruchs unterhalb des Mindestlohns bezahlt als Männer, ausländische Beschäftigte häufiger als inländische, junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis 24 Jahre häufiger als ältere, Beschäftigte in Ostdeutschland häufiger als in Westdeutschland und solche in Klein- und Kleinstbetrieben häufiger als in größeren Betrieben.«

Nun muss man wissen, dass die Berechnungsergebnisse des DIW auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) basieren. In der Selbstbeschreibung findet man den Hinweis, dass es sich um »eine repräsentative Wiederholungsbefragung handelt, die bereits seit über drei Jahrzehnten läuft. Im Auftrag des DIW Berlin werden zurzeit jedes Jahr in Deutschland etwa 30.000 Befragte in fast 11.000 Haushalten von Kantar Public Deutschland befragt. Die Daten geben Auskunft zu Fragen über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit. Weil jedes Jahr die gleichen Personen befragt werden, können langfristige soziale und gesellschaftliche Trends besonders gut verfolgt werden.« Der letzte Aspekt, dass Jahr für die Jahr die gleichen Personen befragt werden, ist allerdings eine sehr verkürzte Beschreibung des Panel-Ansatzes, denn in der Lebenswirklichkeit kann genau das nicht eingehalten werden, weil immer wieder bisherige Teilnehmer aus ganz unterschiedlichen Gründen ausscheiden und durch neue ersetzt werden müssen.

Der hier entscheidende methodische Aspekt ist aber die Tatsache, dass es sich um Befragungsdaten handelt, konkret: um eine Selbstbeschreibung der Befragten. Auch und gerade was die Arbeitszeiten und die Vergütung angeht, muss man also bedenken, dass es dabei zu Ungenauigkeiten, fehlerhaften Zuordnungen und Nicht-Berücksichtigung von Gehaltsbestandteilen kommen kann. Das wird übrigens vom DIW auch gesehen und hat Folgen, die sich in den am Anfang dieses Beitrags in der Abbildung dargestellten zwei Berechnungsergebnissen niederschlagen:

»Bei der Interpretation der Ergebnisse ist … zu beachten, dass die Messung von Stundenlöhnen gerade im unteren Lohnsegment mit Unsicherheiten behaftet ist. So ist es beispielsweise möglich, dass geleistete Überstunden zu einem späteren Zeitpunkt ausgeglichen werden oder die Arbeitszeit über die Wochen eines Monats variiert.«

In den methodischen Erläuterungen bei Fedorets et al. (2019: 485) finden wir diese Ausführungen: »Im SOEP werden die Stundenlöhne üblicherweise nicht direkt abgefragt. Sie werden gebildet aus der Information über den im Vormonat erhaltenen Lohn, geteilt durch die vereinbarte beziehungsweise geleistete Arbeitszeit pro Woche, multipliziert mit dem Faktor 4,331, um die monatliche Arbeitszeit zu erhalten. Hierbei können verschiedene Messfehler auftreten. So verweigern manche Befragte im SOEP insbesondere bei Fragen zum Lohn, aber auch zur Arbeitszeit die Antwort. Diese Fälle wurden aus der Analyse ausgeschlossen und deren Gewicht auf die verbliebenen validen Fälle umgelegt. Auch Beschäftigte, die angeben, mit ihrem Arbeitgeber keine Arbeitszeit vereinbart zu haben, wurden ausgeschlossen und deren Gewicht ebenso auf die verbliebenen validen Fälle umgelegt. Bei der Berechnung von Stundenlöhnen auf Grundlage der geleisteten Arbeitszeit kann der Stundenlohn unterschätzt werden, wenn beispielsweise ein späterer Zeitausgleich der Überstunden nicht berücksichtigt wird. Die reine Verwendung der vertraglichen Arbeitszeiten bildet die geleistete Mehrarbeit dagegen nicht ab und kann dadurch zu einer Überschätzung der Stundenlöhne führen.«

Wenn man die Nichteinhaltung auf dieser Grundlage ermittelt, dann ergibt sich eine Größenordnung von 2,4 Millionen betroffenen Arbeitnehmern. Dieser Wert wurde aber vom DIW selbst nach unten angepasst, um die angesprochenen Unsicherheiten zu reduzieren.

Dazu hat man für das Berichtsjahr 2017 einen neuen Ansatz eingeführt. »Aufgrund der Unsicherheiten, die sich bei der Berechnung des Stundenlohns aus monatlichen Einkommensangaben und wöchentlichen Arbeitszeitangaben ergeben, wurde im Jahr 2017 der vertragliche Stundenlohn zudem direkt abgefragt, und zwar für Beschäftigte mit Stundenlöhnen unter zehn Euro. Angaben von Beschäftigten, die einer Nebentätigkeit nachgehen, wurden in den vorliegenden Analysen bis einschließlich 2017 ausgeschlossen, da nicht unterschieden werden kann, ob sie eine abhängige oder selbständige Beschäftigung ausübten. Mit dem Erhebungsjahr 2017 wurde die Erfassung von Nebentätigkeiten im SOEP verändert, sodass fortan auch für diese Beschäftigten ein Stundenlohn auf Grundlage der geleisteten Arbeitszeit ausgewiesen werden kann.«

Ergebnis: »Demnach wurden selbst bei einer konservativen Schätzung rund 1,3 Millionen anspruchsberechtigte Personen im Rahmen einer Hauptbeschäftigung unterhalb des Mindestlohns bezahlt. Hinzu kommen etwa eine halbe Million Beschäftige in einer Nebentätigkeit.«

Fragt sich natürlich, warum es zu diesen nun wirklich nicht überschaubar geringen Verstößen kommt bzw. kommen kann. „Der Handlungsbedarf ist enorm, denn flächendeckende und intensive Kontrollen des Zolls, der die Einhaltung des Mindestlohns kontrollieren soll, gibt es mangels Personal bisher praktisch nicht“, so wird einer der Studienautoren, Carsten Schröder, zitiert. Wer das genauer wissen will, wie sich die (Nicht-)Kontrollen der zuständigen Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls entwickelt haben, der sei auf diese Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag verwiesen: Mindestlöhne – Kontrollen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Jahr 2018, Bundestags-Drucksache 19/8830 vom 29.03.2019.

Wir haben also ganz offensichtlich ein Problem (und das haben gerade die Unternehmen, die sich an die Regeln halten, denn die haben gegenüber den Mindestlohn-Umgehern einen Wettbewerbsnachteil und je geringer das Risiko ist, durch eine Kontrolle aufzufallen, umso größer werden die Anreize für die gar nicht so wenigen schwarzen Schafe, davon auch Gebrauch zu machen).

Das DIW bleibt aber nicht bei der Abschätzung des möglichen Ausmaßes der Mindestlohn-Nichteinhaltung stehen, sondern präsentiert neben der Forderung nach mehr Kontrollen einen weiteren Vorschlag: »Denkbar wäre eine „Fair Pay“-Plakette als Zertifikat für Arbeitgeber, die die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten nachvollziehbar dokumentieren. „Die Verbraucherinnen und Verbraucher könnten dann mit ihrem Geldbeutel etwas bewegen, da sie sich bewusst dafür entscheiden können, zum Beispiel in Restaurants mit der ‚Fair Pay‘-Plakette zu essen“, so Fedorets. „Dies wäre ein Beitrag im Sinne der Konsumentensouveränität.“, so die Kurzfassung in der Pressemitteilung des DIW über die neue Studie.

Dieser Gedanke wurde von Alexandra Fedorets und Mattis Beckmannshagen bereits am 21. Oktober 2018 in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vorgetragen: Her mit der „Fair Pay“-Plakette! Darin verweisen die beiden Autoren als einen möglichen Ansatz auf »Anreize für Unternehmen, sich aus eigenem Antrieb korrekt zu verhalten. In Großbritannien werden beispielsweise schwarze Listen mit Unternehmen veröffentlicht, die den Mindestlohn umgehen. Dieser potenzielle Ansehensverlust soll Arbeitgeber davon abhalten, die Lohnuntergrenze zu unterlaufen.« Man kann den Ansatz, über negative Anreize einzugreifen, natürlich auch umkehren – und genau das schlagen die Autoren vor:

»Um das gesetzeskonforme Verhalten zu unterstützen, könnte man daher eine weiße Liste mit Firmen einführen, die sich freiwillig und vollständig dazu bereit erklären, einem Kontrollorgan ihre Buchhaltung und ihre Arbeitszeiten vorzulegen sowie bestätigende Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zuzulassen. Für ein Unternehmen, das sich regelmäßig kontrollieren lässt, sollen dadurch klare Wettbewerbsvorteile entstehen. Zum Beispiel sollten nur diese Unternehmen an der öffentlichen Auftragsvergabe teilnehmen können. Gleichzeitig muss für alle Beteiligten klar erkennbar sein, dass Unternehmen diese Mindeststandards einhalten. Denkbar wäre eine Plakette, die beispielsweise ein Restaurant an der Tür platzieren kann, oder mit der es auf der Homepage werben kann, um zu signalisieren, dass es faire Löhne an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zahlt. Idealerweise würde sogar bei Online- Vergleichsportalen angezeigt werden, welche Restaurants diese Plakette besitzen. Mit entsprechender Werbung erhielte die Plakette Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und gesellschaftliches Ansehen. Neben dem schon bekannten “Fair Trade”-Siegel gäbe es dann eben auch eine “Fair Pay”-Plakette.
Vor dem Hintergrund der breiten gesellschaftlichen Unterstützung für den Mindestlohn wird es vielen nicht egal sein, ob ihre Kellnerin oder ihr Kellner fair bezahlt wird oder nicht. Und gerade in der Gastronomiebranche sind Mindestlohnverstöße weit verbreitet. Studien haben zudem gezeigt, dass Kunden bereit sind, höhere Preise für Produkte mit vergleichbaren “Bio”- oder “Fair Trade”-Siegeln zu zahlen. Bei gleichem Effekt für die “Fair Pay”-Plakette könnten die höheren Lohnkosten auf diesem Wege ausgeglichen werden. Das Ganze hätte natürlich auch seine Kosten, weil eine freiwillige Zertifizierung ebenfalls Ressourcen benötigt. Nur wird sie per Definition weniger Aufwand für die Kontrollorgane als die jetzigen Zollkontrollen bereiten, denn Unternehmen werden freiwillig und eigenhändig ein Unterlagenpaket für die Zertifizierung vorbereiten müssen.«

Über solche Vorschläge kann und muss man diskutieren, natürlich auch kritisch vor dem Hintergrund, ob das wirklich zu dem gewünschten Effekt führen kann und wird. Aber ein schaler Beigeschmack bleibt – die Verwendung des Begriffs „Fair Pay“ signalisiert, dass es sich bei denen, die sich an die eigentliche Selbtsverständlichkeit halten, also den gesetzlichen Mindestlohn zahlen, um Arbeitgeber handelt, die ihren Beschäftigten einen „fairen Lohn“ zukommen lassen. Da wären wir dann mittendrin in der Debatte, ob der Mindestlohn von derzeit 9,19 Euro pro Stunde wirklich ein „fairer“ Lohn ist. Daran kann man durchaus erheblich zweifeln.