Die soziale Spaltung nimmt in vielen Städten weiter zu. Von der brüchiger werdenden sozialen Architektur bis hin zu armen Stadtteilen als „Gewinner“ der Zuwanderung

Die langen Schlangen bei den Sammelterminen für die Besichtigung einer zur Vermietung ausgeschriebenen Wohnung in vielen Städten versinnbildlichen nicht nur die Tatsache, dass wir im Bereich der halbwegs bezahlbaren Wohnungen in vielen Städten ein enormes Angebots-Nachfrage-Dilemma haben, hinter dem zahlreiche individuelle Schicksale wohnungssuchender Menschen stehen. Zugleich deutet der enorme Nachfrageüberhang darauf hin, dass bei einem solchen Ungleichgewicht strukturelle Effekte zu erwarten sind, vor allem in Form von Verdrängung und einer Entmischung von Stadtvierteln.


In der Stadtforschung wird darauf seit langem hingewiesen. Im vergangenen Jahr haben Marcel Helbig und Stefanie Jähnen diese Studie dazu veröffentlicht: Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten (2018). Die beiden Wissenschafter untersuchen die räumlich ungleiche Verteilung der Wohnstandorte verschiedener Bevölkerungsgruppen in deutschen Städten. Sie beleuchten alle drei Dimensionen der residenziellen Segregation: die soziale, die ethnische und die demografische.

Hier einige relevante Befunde aus der Studie von Helbig/Jähnen (2018):

➔ In vergangenen Studien wurde beobachtet, dass die Segregation der Armen ab Mitte der 1990er Jahre bis 2004 zugenommen hat. Diese Entwicklung hat sich auch nach der Hartz-IV-Reform des Jahres 2005 fortsetzt: In vielen deutschen Städten ballen sich Personen mit Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB-II-Bezieher) zunehmend in bestimmten Stadtteilen. Besonders hat sich die Situation in den meisten ostdeutschen Städten verschärft. Zwischen den 74 Städten bestehen allerdings erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung und dem aktuellen Ausmaß sozialer Segregation.

➔ Ähnlich wie in den USA ist die soziale Spaltung der Städte bei Kindern bzw. Familien mit Kindern stärker ausgeprägt als bei der Gesamtbevölkerung. Räumlich besonders ungleich verteilen sich also Kinder in Haushalten mit SGB-II-Bezug. Trotz des Wirtschaftsaufschwungs im letzten Jahrzehnt gibt es mittlerweile in 36 der untersuchten Städte Quartiere, in denen mehr als 50 Prozent aller Kinder von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II leben. Folgt man der Literatur zu Nachbarschaftseffekten, dann hat diese Konzentration sozial benachteiligter Kinder das Potenzial, sich negativ auf die Lebenschancen der jungen Bewohner in diesen Quartieren auszuwirken.

➔ Weitgehend unbemerkt von der bisherigen Forschung kommt es in den deutschen Städten zu einer zunehmenden Segregation nach Altersgruppen. Genauer gesagt ballen sich sowohl die 15- bis 29-Jährigen als auch die ab 65-Jährigen immer stärker in bestimmten Stadtteilen. Die Indexwerte für die demografische Segregation sind zwar weit entfernt vom Niveau der sozialen und ethnischen Segregation. Allerdings ist nicht absehbar, dass sich die Entwicklung bei den genannten Altersgruppen abschwächt.

Ethnische Segregation: Im Gegensatz zur sozialen Segregation hat die räumlich ungleiche Verteilung von Ausländern in den deutschen Städten abgenommen. War die Segregation der Armen lange Zeit geringer als die von Personen ohne deutschen Pass, so ist es mittlerweile umgekehrt. Die vorliegende Untersuchung endet aus verschiedenen Gründen 2014.

Beim letzten Punkt wird der eine oder andere innehalten und daran denken, dass es doch im Jahr 2015 eine enorme Zuwanderung von Flüchtlingen gab, neben der sowieso schon laufenden Zuwanderung beispielsweise aus anderen EU-Staaten. Darauf haben Helbig/Jähnen (2018) auch hingewiesen: »Inwieweit die Flüchtlingskrise seit 2015 die ethnische Segregation beeinflusst, müssen zukünftige Studien klären.« Und eine solche Studie haben die beiden jetzt vorgelegt:

➔ Marcel Helbig und Stefanie Jähnen (2019): Wo findet „Integration“ statt? Die sozialräumliche Verteilung von Zuwanderern in den deutschen Städten zwischen 2014 und 2017. Discussion Paper P 2019-003, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Juni 2019

»Die soziale Spaltung nimmt in vielen deutschen Städten weiter zu. Verschärft wurde diese Entwicklung durch den Zuzug von Zuwanderern. So ist der Anteil von Ausländern besonders in den sozial benachteiligten Stadtteilen gestiegen, wie eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) zeigt. Für 86 Städte wurde erstmals untersucht, wie sich Zuwanderer im Zeitraum von 2014 bis 2017 in den Städten räumlich verteilen«, berichtet das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung unter der Überschrift Zuwanderung vor allem in arme Stadtviertel. Dort finden wir diese Hinweise auf ausgewählte Befunde aus der Studie von Helbig/Jähnen (2019):

➔ Menschen ohne deutschen Pass sind im untersuchten Zeitraum vor allem in die ärmsten Stadtviertel gezogen … Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders in ostdeutschen Städten: Während in den sozial bessergestellten Stadtteilen der Ausländeranteil um 0,7 Prozentpunkte anstieg, wuchs er in den sozial am meisten benachteiligten Lagen um das Zehnfache (7,4 Prozentpunkte). In den einkommensschwächsten Vierteln westdeutscher Städte (inklusive Berlin) stieg der Ausländeranteil weniger stark (4,1 Prozentpunkte).

➔ In ostdeutschen Städten leben arme Menschen zunehmend in bestimmten Wohnvierteln: 2017 lagen 9 der 10 Städte, in denen sich einkommensschwache Menschen besonders ungleich über die Stadt verteilen, in den neuen Bundesländern. Auch 10 von 12 Städten, in denen die räumliche Trennung sozialer Gruppen zwischen 2014 und 2017 am stärksten zugenommen hat, befinden sich im Osten. In vielen westdeutschen Städten (vor allem in Süddeutschland) hat sich die sozialräumliche Spaltung dagegen leicht abgeschwächt.

➔ Neben Ost-West-Unterschieden zeigt sich auch ein Nord-Süd-Gefälle bei der sozialräumlichen Verteilung von Menschen ohne deutschen Pass … Für 13 Städte fanden die Forscher keinen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Ausländeranteile und der sozialen Lage der Stadtteile. Diese Städte liegen bis auf Hamburg alle im Süden Deutschlands. In den Städten des Ruhrgebiets und des Nordwestens zogen Zuwanderer dagegen vorrangig in die sozial benachteiligten Stadtteile.

In der Studie werden zwei strukturelle Faktoren hervorgehoben, die zu den beobachteten großen Unterschieden zwischen den Städten beigetragen haben:

➔ In Städten mit hohem Wohnungsleerstand ist der Anteil der Ausländer in den sozial sehr ungünstigen Lagen besonders stark angestiegen. Das ist ein Hinweis darauf, dass Zugewanderte Wohnungen auf dem freien Markt nur dort gefunden haben, wo die Mieten niedrig sind und wenige Menschen leben wollen.

➔ Mit steigenden Steuereinnahmen schwächt sich der Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Ausländeranteile und der sozialen Lage der Stadtteile ab. Das heißt: In wirtschaftlich prosperierenden Städten verteilen sich Zugewanderte gleichmäßiger über die Stadt. Das könnte u. a. daran liegen, dass finanzstärkere Kommunen in der Wohnungspolitik handlungsfähiger sind. Der Befund gilt aber auch für Metropolen mit angespanntem Wohnungsmarkt wie Berlin. Der Mangel an Wohnraum bzw. bezahlbarem Wohnraum könnte hier die Armutssegregation bremsen.

In ihrem Fazit bilanzieren Helbig/Jähnen (2019: 46 ff.): »Viele Zuwanderer gehören nach ihrer Ankunft in Deutschland zunächst zur Gruppe einkommensarmer Menschen … Diese neu angekommenen einkommensarmen Menschen zogen entsprechend den Prinzipien des Marktes und den „Kosten der Unterkunft“ in genau die gleichen Stadtviertel wie viele Einkommensschwache mit und ohne Migrationshintergrund vor ihnen. Die Armutsballung wird dadurch noch größer … Viele dieser „Ankunftsquartiere“ sind von verschiedensten sozialen Herausforderungen gekennzeichnet, die Integration eher erschweren.«

»Die Ergebnisse legen nahe, dass es in vielen Städten des Ostens, Nordens (mit wenigen Ausnahmen) und Westens Wohnviertel gibt, in denen sich Wohnraum konzentriert, der sich – wenn überhaupt – nur noch zu (sehr) niedrigen Preisen vermieten lässt. Diese Bestände stellen, besonders wenn sie leer stehen, eine finanzielle Belastung für den Eigentümer dar (ob nun öffentlich oder privat). Auch wenn sich die meisten Kommunen um eine gleichmäßige Verteilung von Schutzsuchenden bemühen …, so ist deren Unterbringung in leer stehenden, begrenzt marktfähigen Wohnungen, kurzfristig eine ökonomisch verlockende Option. Denn eine belegte Wohnung ist aus Vermietersicht fast immer besser als eine leer stehende Wohnung. Diese Marktmechanismen haben offenbar eine bedeutende Rolle bei der jüngsten Zuwanderung von Ausländern in die deutschen Städte gespielt – ein Hinweis darauf, dass es aktuell für viele Kommunen unmöglich ist, wohnungspolitisch und damit auch sozialpolitisch zu agieren. Wenn die öffentliche Hand nicht mehr bzw. kaum über Wohnungsbestände oder Belegungsrechte in besseren Lagen verfügt, ist es auch nicht möglich, sich den „Gesetzen des Marktes“ entgegenzustellen. Gerade in den ärmeren Kommunen in Ost-, Nord- und Westdeutschland ist die starke Ballung von einkommensarmen Menschen (mit und ohne deutschen Pass) in bestimmten Stadtteilen Ausdruck einer Konzentration dieser Bevölkerungsgruppe in Wohnungsbeständen, die von vielen Bewohnern der jeweiligen Stadt als unattraktiv wahrgenommen werden und in denen es überproportionale Leerstände gibt. Besonders in diese Gebiete erfolgte die Zuwanderung von Ausländern der Jahre 2014 bis 2017.«

»Paradoxerweise sehen wir den Zusammenhang zwischen sozialer Lage der Stadtteile und Entwicklung der Ausländeranteile nicht oder in abgeschwächter Form in jenen Städten, über deren wohnungspolitische Probleme aktuell viel diskutiert wird: In München, Stuttgart, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und Berlin mangelt es nicht nur allgemein an Wohnungen, sondern vor allem an bezahlbarem Wohnraum … Einige Forscher gehen von einem hemmenden Effekt angespannter Wohnungsmärkte auf die Armutssegregation aus.«

»In der Gesamtschau entwickelt sich die Gesellschaft hierzulande sozial(räumlich) weiter auseinander. Das oft thematisierte Ost-West-Gefälle der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wird zunehmend durch ein Nord-Süd-Gefälle ergänzt. Die wirtschaftlich schwächeren Städte des Ostens, Nordens und Westens stehen also vor einer weiteren gesellschaftlichen Herausforderung: der zunehmend ungleichen Verteilung von armen Bevölkerungsgruppen innerhalb des städtischen Raumes, die durch die Auslandszuwanderung der Jahre 2014 bis 2017 weiter zugenommen hat. So gehören 27 von 29 Städten, in denen die soziale Segregation von 2014 bis 2017 merklich zugenommen hat … zu jenen, für die wir einen starken Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Ausländeranteile und der soziale Lage der Stadtteile beobachtet haben … Armutsgeprägte Quartiere entstehen gerade dort, wo Kommunen und Länder dieser Ballung finanziell wenig entgegensetzen können. Auch vor dem Hintergrund der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse stellen die beschriebenen Entwicklungen eine zunehmende Herausforderung dar. In vielen von Armut geprägten Quartieren hat sich die Situation so weit verschärft, dass es zunehmend schwieriger wird, den Abwärtstrend mit wohnungs- und sozialplanerischen Maßnahmen zu stoppen. Damit rücken die potenziell negativen Effekte benachteiligter Quartiere auf Bildungserfolg, Arbeitsmarktchancen und Gesundheit weiter in den Vordergrund.«

Natürlich wird der eine oder andere fragen, ob denn die Autoren neben der datenbasierten Analyse auch Vorschläge machen, wie man der zunehmenden sozialen Entmischung entgegensteuern kann, die wir in vielen deutschen Städten beobachten und die sich mit der Zuwanderung der letzten Jahre teilweise verschärft hat? Das tun sie (vgl. dazu Helbig/Jähnen 2019: 48-49):

Für die Politik bestehen hier zwei zentrale Handlungsfelder: Erstens die soziale Segregation in ihrem Ausmaß begrenzen und zweitens ihre negativen Folgen abmildern. Realisieren ließe sich letzteres vor allem über eine bedarfsorientierte Mittelzuweisung an Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche nach dem Motto „Ungleiches ungleich behandeln!“, so Helbig und Jähnen.

»Für Segregation ist weniger bedeutend, in welchem Ausmaß Zuwanderer in größere Städte ziehen, sondern in welche Gebiete innerhalb der Städte. Eine wirksame Begrenzung der Segregation kann über stärkere Eingriffe des Staates bzw. der Kommunen in den Wohnungsmarkt verfolgt werden. Dafür stehen derzeit zweierlei Instrumente zur Verfügung: die Angemessenheitskriterien der Kosten der Unterkunft (KdU) und die soziale Wohnraumförderung.«

➔ »Bei Personen, die Leistungen nach dem SGB II, SGB XII oder AsylbLG beziehen, werden die „angemessenen“ Kosten der Unterkunft und Heizung übernommen – bis zu einer bestimmten Obergrenze, die sich nach den Richtlinien der Kommunen bemisst. Damit wird die Ballung von armen Menschen in Gebieten verstärkt, wo die Miethöhe der KdU-Grenze entspricht. Für die Ausgestaltung der KdU sind verschiedene Möglichkeiten denkbar, die in der Praxis nur von wenigen Kommunen genutzt werden … Um einer staatlich verstärkten sozialen Segregation entgegenzuwirken, könnten etwa stadtteilbezogene, also kleinräumig differenzierte, KdU-Grenzen eingeführt werden.«

➔ »Daneben sind Sozialwohnungen ein weiteres wohnungspolitisches Instrument zur Begrenzung von Segregation. Auf angespannten Wohnungsmärkten stehen Schutzsuchende bzw. Zuwanderer häufig mit weiteren einkommensschwachen Gruppen in Konkurrenz um preisgünstige Wohnungen … Seit vielen Jahren ist die Zahl der mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnungen in Deutschland rückläufig … Während die bestehenden Sozialwohnungen nach und nach aus der Bindung herausfallen, entstehen zu wenig neue. Dabei können Sozialwohnungen keineswegs nur von den Kommunen bzw. kommunalen Wohnungsunternehmen selbst gebaut werden. Ihre Zahl lässt sich auch durch entsprechende Auflagen für Neubauten privater Investoren erhöhen – in München etwa ist das Verfahren der „Sozialgerechten Bodennutzung“ schon seit Mitte der 1990er Jahre etabliert. Wichtig ist, dass neue Sozialwohnungen auch in jenen Quartieren liegen, in denen Arme typischerweise nicht leben. Zusätzlich können Kommunen auch Belegungsrechte für existierende Wohnungen in sozial nicht benachteiligten Lagen erwerben. Die Förderung von Sozialwohnungen und der Erwerb von Belegungsrechten in sozial günstigen Lagen sind insoweit schwierig, als dass es gerade dort kaum noch geeigneten Wohnraum bzw. Bauland gibt. Zudem haben diese Strategien die Nebenwirkung, dass Wohnraum auf dem frei finanzierten Wohnungsmarkt verknappt und damit teurer wird, der dann etwa der Mittelschicht nicht mehr zur Verfügung steht.« Die Autoren verweisen offensichtlich auf einige erhebliche Hürden für die Umsetzung dieser Strategie und runden das mit diesem Hinweis ab: »Sozialwohnungen in „besseren“ Wohnlagen zu schaffen oder die KdU-Grenzen stadtteilbezogen festzusetzen, impliziert, dass es zugleich eine Bewegung von mittleren Schichten in die sozial benachteiligten Lagen geben müsste. Die (obere) Mittelschicht für diese Stadtteile zurückzugewinnen, ist eine der großen Aufgaben der Wohnungs-, und Sozialpolitik, aber auch der Bildungspolitik der nächsten Jahre und Jahrzehnte.«

Foto: © Stefan Sell