Den ganzen Tag über gaben sich die Kommentatoren und Analytiker des Ausgangs der Europawahl die Klinke in die Hand, im Laufe des Tages dann durch Personalfragen auf ein mediengerechtes Format reduziert: Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer hat mal wieder ein Zeugnis ihrer gesellschaftspolitisch zutiefst konservativen Haltung abgeliefert, in dem sie von einer „Regulierung“ unbotmäßiger „Influencer“ im Internet schwadronierte. Und die mehr als angeschlagene SPD-Vorsitzende Nahles versucht einen Befreiungsschlag durch die vorzeitige Einberufung einer Abstimmung über ihren Posten als Fraktionsvorsitzende im Bundestag in der kommenden Woche. Solche Geschichten mögen viele Medien. Und viele mögen auch die einfachen Analyseergebnisse wie beispielsweise die These, dass eben Klimawandel und Umweltfragen diesmal im Mittelpunkt standen und dass das die Grünen eben als Original am besten bedienen können, während die CDU als zunehmend altbacken daherkommt – und die SPD offensichtlich auf Autopilot nach unten in die Bedeutungslosigkeit steuert. Die AfD wurde aus einer typischen Westperspektive als nicht wirklich interessant eingestuft, hat sie doch mit 11 Prozent der Stimmen weniger erreicht als in den Umfragen vor der Wahl eigentlich vorausgesagt wurde. Dass diese Partei aber in Ostdeutschland teilweise stärkste Partei noch vor der Union geworden ist, dass wurde erst langsam wirklich realisiert – und angesichts der im Herbst dieses Jahres bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird das verständlicherweise als ein mögliches Menetekel für eine erstmalige Regierungsbeteiligung der AfD auf Länderebene interpretiert.
Eine Wahl im Zeichen des Klimawandels, entschieden von jungen Wählerinnen und Wählern, die sich bei FridaysForFuture gesammelt haben, von Rezo und seinen Youtubern überzeugt wurden und am Ende millionenfach gewählt haben. So in etwa sieht die Charakterisierung des gestrigen Wahlabends in Kurzform aus.« So der Wahlforscher Thorsten Faas in einem Gastbeitrag unter der Überschrift Nicht die jungen Wähler haben die Wahl entschieden. Wie kommt er zu so einer Einschätzung?
»Laut Wahltagsbefragung der ARD gaben 48 Prozent der Wähler an, „Klima- und Umweltschutz“ sei das für sie entscheidende Thema gewesen. Die schiere Höhe dieses Wertes ist bemerkenswert, auch das Plus von 28 Prozentpunkten gegenüber der Europawahl 2014 außergewöhnlich. Die Zahlen erinnern an die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Atomkatastrophe von Fukushima: Bei der Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg kurz nach dem Unglück in Japan gaben 45 Prozent an, „Umwelt- und Energiepolitik“ sei damals wahlentscheidend für sie gewesen.« Also doch das Klima- und Umweltthema. Was ja auch den klaren Erfolg der Grünen begründen könnte. Oder?
»Eines ging … bei der Betrachtung der wahlentscheidenden Themen gestern völlig unter. Auf Platz 2 des Wählerinteresses stand mit 43 Prozent – und damit nur knapp hinter dem Thema „Klimaschutz“ – das Thema „soziale Sicherheit“. Das „Soziale“ gehört eigentlich der SPD. Und 43 Prozent ist ein großes Potenzial. Dass es der SPD nicht gelang, dieses Potenzial für sich zu nutzen, muss den Strategen im Willy-Brandt-Haus Kopfzerbrechen bereiten. Die Sozialdemokraten haben ihr Thema verloren.«
Die Atomisierung der SPD auf nur noch 15,8 Prozent der Stimmen bei der Europawahl muss vor diesem Hintergrund als doppelt schwere Bürde gesehen werden: Es ist nicht nur der quantitative Absturz in gleichsam toxische, weil sich selbst verstärkende Werte, sondern auch qualitativ ein Armutszeugnis: Offensichtlich glaubt man den sozialpolitischen Versprechungen und verbalen Verrenkungen der deutschen Sozialdemokraten schlichtweg nicht mehr.
Die Abwendung vieler Wähler von der Partei, die für sich selbst immer noch die Advokatenrolle für die sozialen Fragen reklamiert, ist derart manifest, dass ein Teil der Wahlerfolge der AfD sogar in dieser Liga zu verorten ist, auch wenn diese Partei nun gerade nicht zu den sozialpolitischen Frontrunnern für die unteren Einkommensgruppen gehört, wenn man von den scheinbar sozialpolitisch motiviert daherkommenden Vorstößen des national-sozialen Höcke-Flügels einmal absieht (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Von neoliberaler Kritik am „Rentensozialismus“ bis hin zu einem „völkischen“ Rentenkonzept des national-sozialen Flügels: Anmerkungen zum rentenpolitischen Nebel in der AfD vom 7. Juni 2018 sowie vom 1. Februar 2018 den Beitrag unter der Überschrift Konturen einer rechtspopulistischen Sozialpolitik? „Solidarischer Patriotismus“ als umstrittenes Angebot innerhalb der AfD und was das mit der Rente und Betriebsräten zu tun hat).
Spiegelbildlich sei hier darauf hingewiesen, dass die Grünen eben nicht nur wegen dem ihnen zugeschriebenen Marken-Image im Bereich Umweltpolitik gewonnen haben – sondern vor dem Hintergrund der grundsätzlich hohen Bedeutung, die soziale Themen laut Umfragen für die Wahlentscheidung hatten, ist es sicher eine zulässige These davon zu sprechen, dass man den Grünen auch auf dem Feld der Sozialpolitik derzeit mehr zutraut als der SPD oder den Linken, die mit 5,5 Prozent reichlich reduziert aus den Wahlen rausgekommen sind. Und modern daherkommende Konzepte der Sozialpolitik spielen ja auch eine durchaus gewichtige Rolle in der Arbeit und Kommunikation der Grünen. In dieses Bild passt dann auch die Tatsache, dass die grüne Bundestagsfraktion erst vor kurzem einen „Gewerkschafts- und Sozialbeirat“ ins Leben gerufen haben. Dazu Cordula Eubel: Grünen-Fraktion gründet Beirat für Sozialpolitik: »Grüne und Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren aufeinander zubewegt. Nun soll ein neues Gremium die Zusammenarbeit intensivieren … Der rund 30-köpfigen Runde, die Fraktionschef Anton Hofreiter initiiert hat, gehören Spitzenvertreter der Gewerkschaften, der Sozialverbände, sowie Wissenschaftler an … Der Beirat soll sich etwa drei Mal im Jahr treffen und über parlamentarische Vorhaben der Grünen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beraten.« Rainer Woratschka kommentierte diese Entwicklung unter der Überschrift Ökologie und Soziales müssen keine Gegensätze sein: »Dieser Annäherungsversuch ist ein gutes Signal, zeugt er doch von gewachsenem Realitätssinn. Bei den Gewerkschaften spricht sich offenbar herum, dass man eine 20-Prozent-Partei mit ihren Ideen ernst nehmen muss und politisch nicht mehr nur auf die sozialdemokratische Karte setzen sollte. Bei den Grünen, dass der gewünschte Strukturwandel Ängste auslöst und sozialverträglich abgefedert werden muss.«
Beide hier angesprochenen Seiten, also die Attraktivitätszunahme der Grünen in früher einmal eher sozialdemokratisch ausgerichteten Milieus wie aber auch die offensichtliche Anziehungskraft der AfD kann man erneut besichtigen, wenn man sich die Wahlergebnisse der Parteien unter Gewerkschaftsmitgliedern anschaut. Dazu berichtet der DGB: »Auch bei den GewerkschafterInnen haben die Grünen mit einem Plus von 8,1 Prozentpunkten deutlich zugelegt. Großer Verlierer ist die SPD, die bei den letzten Europawahlen noch 36,9 Prozent der Stimmen aus dem Gewerkschaftslager bekommen hat. 2019 gaben nur 22 Prozent ihr Kreuz für die Sozialdemokraten ab – ein Minus von fast 15 Prozentpunkten. Auch die Partei Die Linke muss ein leichtes Minus hinnehmen. Für die AfD stimmten rund 13 Prozent der gewerkschaftlich Organisierten … Unter jungen Gewerkschaftsmitgliedern hat die SPD nur wenig Rückhalt. Gerade einmal 13,5 Prozent der 18-29-Jährigen gaben ihr die Stimme. Einzig die über 60 Jahre alten WählerInnen halten der SPD die Stange.«
Man sollte hier auch einen genaueren Blick werfen auf den Stimmenanteil für die AfD im Gewerkschaftslager – das lag mit 13,1 Prozent deutlich über den 11 Prozent für diese Partei unter allen Wählern. Und noch weitaus markanter: Der Anstieg der AfD-Werte von 6,3 Prozent im Jahr 2014 auf nunmehr 13,1 Prozent (= + 6,8 Prozentpunkte). Das wird seitens des DGB nicht mit einem Wort erwähnt, man kann es nur den Abbildungen entnehmen.
Und wie immer hat Horst Kahrs noch in der Wahlnacht erneut eine erste Analyse und Zusammenstellung hilfreicher Daten besorgt:
➔ Horst Kahrs: Wahl zum Europäischen Parlament in Deutschland am 26. Mai 2019. Wahlnachtbericht und erster Kommentar
Zur SPD führt Kahrs aus, dass die Partei ein anhaltendes Glaubwürdigkeitsproblem habe: »Zwar kehrt sie in der Regierungsarbeit in Berlin wieder soziale Themen heraus, doch lässt sie nicht erkennen, dass sie auch bereit wäre, diese Versprechen durch verteilungspolitische Eingriffe und eine andere Finanzpolitik zu erfüllen. So lange handelt es sich um Schönwetterversprechen. Wenn der sozialdemokratische Finanzminister verkündet, dass die »fetten Jahre« vorbei sind, so signalisiert das einer Reihe von potenti- ellen SPD-Wählerinnen, die in den letzten zehn Jahren nur mühsam über die Runde kamen, nichts Gutes. Durch personelle Wechsel lässt sich dieses strategische Problem nicht lösen.« (Kahrs 2019: 8).
Dort findet man auch einige interessante soziodemografische Daten zu den Wählern der einzelnen Parteien. »So gewann die AfD im Vergleich zu 2014 bei Personen, die sich als »Arbeiter« einordnen, besonders stark hinzu, ebenso bei Personen mit niedrigen und mittleren Bildungsabschlüssen, während die Grünen hier genau das gegenteilige Profil aufweisen.« Überdurchschnittliche Ergebnisse erreichte die AfD vor allem bei den Arbeitern mit 23 Prozent sowie bei den Arbeitslosen mit 21 Prozent. Und bei den Arbeitern hat die AfD im Vergleich zu 2014 um 13 Prozentpunkte und bei den Arbeitslosen sogar um 16 Prozentpunkte zugelegt.
Bei der nächsten Bundestagswahl, die möglicherweise schon früher stattfinden wird als bislang geplant, werden sozialpolitische Themen noch deutlich stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten. Und dann braucht man Konzepte und Methodenwissen. Daran sollten die Grünen denken, wenn sie wirklich in die Regionen einer Volkspartei eindringen wollen.