„Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“
(Heinrich Heine, 1844)
Das ist lange her – und doch wiederum so aktuell, wenn man Deutschland konkretisiert durch Pflegeheime in Deutschland. In der Nacht. Bereits am 20. April 2018 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Reicht eine in der Nacht oder müssen es mehr sein? Die finstere Realität bei den (Nicht-)Personalschlüsseln in Pflegeheimen. Dort findet man diese Einstimmung auf das Thema: »Man kann sich vorstellen, was es bedeuten muss, über eine lange Nacht die Bewohner/innen eines Pflegeheims zu versorgen – von denen viele nicht nur körperlich schwer pflegebedürftig sind und eine entsprechende Versorgung bedürfen, sondern der Anteil der Menschen, die demenziell erkrankt sind, ist in vielen Heimen heute sehr hoch. Nun sind gerade die nachts oft aktiv und benötigen – eigentlich – eine besonders personalintensive Betreuung. Und man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Pflegeheime aufgrund des hohen Alters und des Gesundheitszustandes vieler Bewohner auch einer der bedeutenden Orte des Sterbens geworden sind – und würde nicht jeder erwarten, wünschen, hoffen, dass man nicht alleine gelassen wird, wenn es zu Ende geht?«
In den anderen Bundesländern gibt es hingegen nur wolkige Formulierungen, aber keine harten Personalschlüssel.
Bleiben wir in Baden-Württemberg, die wenigstens neben wenigen anderen Bundesländern eine konkrete Regelung haben. Die findet man hier: Verordnung des Sozialministeriums über personelle Anforderungen für stationäre Einrichtungen (Landespersonalverordnung – LPersVO) vom 7.12.2015. Diese Verordnung basiert auf § 29 des Gesetzes für unterstützende Wohnformen, Teilhabe und Pflege (Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz – WTPG) vom 20. Mai 2014.
Schauen wir uns die Landespersonalverordnung einmal genauer an. Dort findet man den § 10 LPersVO, der unter der lapidaren Überschrift „Nachtdienst“ steht. Und dort findet man diese Konkretisierung (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 und 3 LPersVO):
»Für eine ausreichende Personalbesetzung im Nachtdienst müssen mindestens pro 45 Bewohnerinnen und Bewohner je eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter eingesetzt werden. Von den eingesetzten Beschäftigten nach Satz 2 muss mindestens die Hälfte eine Pflegefachkraft nach § 7 Absatz 2 sein.«
Kurzes Zwischenfazit: Man stelle sich ein Heim vor, in dem sich 44 Bewohner befinden, viele von ihnen demenzkrank oder in einer anderen Form pflegebedürftig. Nach dem baden-württembergischen Landrecht (das im Vergleich zu anderen Bundesländern mit an der Spitze steht!), würde es ausreichen, wenn in der Nacht eine Pflegefachkraft alleine vor sich hinwerkeln muss. Alles klar? Was passiert, naiv gefragt, wenn sich die Bewohner nicht an die engen betriebswirtschaftlichen Vorgaben halten und beispielsweise zwei oder drei Bewohner gleichzeitig verunfallen, außer sich sind, Hilfe brauchen?
Und dann wird in der Verordnung noch ein bemerkenswerter Satz hinterhergeschoben: »Von der Anforderung nach Satz 2 kann auf Antrag mit vorheriger Zustimmung der zuständigen Behörde abgewichen werden, wenn eine fachgerechte Pflege der Bewohnerinnen und Bewohner sichergestellt ist. Dazu hat der Träger der stationären Einrichtung der zuständigen Behörde eine Konzeption mit fachlich qualifizierter Begründung vorzulegen.« Anders ausgedrückt: Unter bestimmten Bedingungen kann man sogar nach oben (was die Zahl der Bewohner angeht) abweichen.
Und ganz offensichtlich gibt es Heimbetreiber, die sich noch nicht einmal an die an sich schon mehr als diskussionswürdigen (um das nett zu formulieren) Personalvorgaben für die Nachtdienste halten wollen. Ein solcher Fall ist vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen gelandet und das hat ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil gefällt: Eine Pflegefachperson für 56 Senioren reicht nicht, so ist ein Bericht zu dieser Entscheidung überschrieben:
»Eine einzelne Pflegefachkraft reicht nicht aus, um 56 Bewohner eines Pflegeheims zu betreuen. Nachts müsse auf 45 Bewohnerinnen und Bewohner mindestens eine Pflegefachperson und ab 46 Seniorinnen und Senioren eine zweite Fachkraft eingesetzt werden. Das entschied am Mittwoch das Verwaltungsgericht Sigmaringen, wie die Katholische Nachrichten Agentur berichtet.
Die Richter bestätigten damit die Anforderungen an die Personalbesetzung in Pflegeheimen im Nachtdienst, wie sie aus der 2016 in Kraft getretenen baden-württembergischen Landespersonalverordnung hervorgehen.«
Nun erinnern wir uns, dass es sogar in der entsprechenden Personalverordnung die Option gibt, nach oben abzuweichen. Das spielt im vorliegenden Fall auch eine Rolle:
»Abweichungen von dieser Mindestvorgabe sind laut Gericht im Einzelfall möglich, wenn der Träger des Pflegeheims der Heimaufsicht eine Konzeption mit fachlich qualifizierter Begründung vorlegen kann. Das habe der Heimbetreiber aus dem baden-württembergischen Zollernalbkreis darzulegen versucht. Die Einrichtung verfolge einen besonderen Ansatz mit aktiver Tagesgestaltung und speziellen Abendangeboten, die zu ruhigeren Nächten führe. Dadurch reduziere sich der Betreuungsbedarf während der Nachtzeit deutlich.«
»Mit dieser Argumentation habe der Einrichtungsbetreiber jedoch weder die Heimaufsicht des Landratsamts Zollernalbkreis noch das Regierungspräsidium als Widerspruchsbehörde und zuletzt das Verwaltungsgericht überzeugen können, so die Richter. Im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Bewältigung von Akut- oder Gefährdungssituationen sei eine Verringerung des Betreuungsbedarfs in der Nacht nicht vertretbar.
Notfallsituationen, wie sie in Pflegeheimen immer auftreten könnten, seien nicht mit einer Rufbereitschaft oder technischen Hilfsmitteln wie Sensormatten zu meistern.«
Wohl wahr.
Aber der eigentliche Skandal sind die „normalen“ zulässigen Werte für die Nacht. Man muss sich arg beherrschen, um sich nicht dazu hinreißen zu lassen, die Verantwortlichen dazu verdonnern zu wollen, solche Nächte in der wirklichen Wirklichkeit meistern zu müssen. Vielleicht wäre das ein heilsamer Schock. Nein, das wäre es sicher.