Der Nationalsozialismus und das von seinen Schergen über die Welt gebrachte millionenfache Leid sind doch nun wirklich Geschichte im Jahr 2019. Sollte man meinen – und wird dann immer wieder eines Besseren belehrt, wenn beispielsweise Überlebende aus den Vernichtungslagern der Nazis von ihrer Geschichte berichten und man Menschen begegnen darf, die wie Anita Lasker-Wallfisch, einer der letzten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz, Josef Mengele, der von Mai 1943 bis Januar 1945 als Lagerarzt in Auschwitz seine Schneise des Schreckens geschlagen hat, als Cellistin regelmäßig Schumanns Träumerei vortragen musste, da er dieses Stück so gerne hörte. Sie sind noch da – und das gilt immer auch noch für einige der Opfer des NS-Terrors, der beispielsweise in Form der millionenfachen Ausbeutung und Zerstörung menschlichen Lebens in den Arbeitslagern zu Tage getreten ist.
Bevor die Nazis beschlossen, alle Juden umzubringen, haben sie viele als billige Arbeitskräfte in Tausenden von Ghettos ausgebeutet. Die Löhne befreiten nicht vom Hunger, die Jobs nicht von der Willkür der SS. Doch wer Arbeit hatte, bekam in aller Regel etwas Geld oder Essensrationen. Im Ghetto Lodz in Polen gab es zum Beispiel eigene Werkstätten. Und auch wenn es das unglaublich zynisch daherkommt: Von den äußerst geringen Löhnen wurde von der deutschen Seite Geld an die deutsche Rentenversicherungsträger abgeführt, damit alles seine bürokratische Ordnung hat. »Es wird geschätzt, dass die deutsche Sozialversicherung in den Kriegsjahren circa eine Milliarde Mark für die Arbeit der Juden erhalten hat«, kann man dem Beitrag Der Kampf um die Ghettorente entnehmen. Nur einige Wenige haben diese Hölle überlebt – und man kann sich vorstellen, was jetzt kommt: Jahrzehnte später ging es darum, auch diesen Menschen eine Rente auszuzahlen für die Zeit der Arbeit in den Ghettos, die im vorliegenden Fall nicht mit Konzentrationslagern verwechselt werden dürfen, für deren Überlebende es andere Regelungen gab. Aber viele Jahre nach dem Krieg wurde nichts getan. Auf die lange Bank schieben, so nennt man das wohl. Bis zu einem wegweisenden Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 1997.
Aus dem ergaben sich Rentenansprüche für Betroffene als auch Hinterbliebene von jüdischen Ghettobewohnern in den ehemals von Deutschland besetzten Gebieten (vgl. BSG, 18.06.1997 – 5 RJ 66/95). Nun ging alles seinen bürokratischen Gang – und das heißt eben oft auch sehr langsamen Gang. Der Deutsche Bundestag folgte diesem Urteil (formal) und verabschiedete im Jahr 2002 das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (Ghettorentengesetz). 88.000 ehemalige Ghettoarbeiter aus der ganzen Welt hatten daraufhin Rentenanträge gestellt.
Aber: Die Antragstellung war für die in aller Regel hochbetagten, im Ausland lebenden Betroffenen aufwendig. Die Ablehnungsquote war mit 90 Prozent anfangs sehr hoch und Bewohner Osteuropas sind zumeist ausgeschlossen aufgrund von Sozialversicherungsverträgen, die einen Ausschluss von Direktzahlungen aus Deutschland beinhalten. An dieser Stelle betritt der Sozialrichter Jan-Robert von Renesse die Bühne. Er hat sich der „Fälle“ angenommen, hat die Menschen dahinter versucht zu sehen, ist selbst zu den Opfern gereist, um ihnen das zukommen zu lassen, was ihnen wenigstens zusteht. Eine Opferrente.
Und Jan-Robert von Renesse? 2012 wendet sich der unbequeme Richter mit einer Petition an den Bundestag. Darin fordert er die Änderung des Ghettorentengesetzes, rückwirkende Auszahlung der Rente und prangert an, dass die israelischen Holocaustüberlebenden in Nordrhein-Westfalen, wo er tätig war, kein faires Verfahren erlebt haben sollen. Seine Petition ist erfolgreich, das Gesetz wird im Juni 2014 geändert. Für viele Holocaustüberlebende kamen die Nachzahlungen jedoch zu spät. Sie waren mittlerweile verstorben.
Ein Held für eine gute Sache – nur der eine oder ahnt schon, worin das in einem Land wir Deutschland enden kann: vor Gericht. Wegen der Petition an den Bundestag wurde Renesse vom Justizministerium disziplinarisch verfolgt. Rufschädigung soll er betrieben haben, der Richter. Vor Gericht gezerrt hat man ihn. Das alles kann man in diesem Beitrag aus dem Jahr 2016 nachlesen: Eine Rente für die wenigen, die noch da sind. Und ein Sozialrichter, der keinen Preis bekommt, sondern einen zahlen soll.
In dem Beitrag Disziplinarverfahren nach Einigung beendet vom 13.09.2016 erfahren wir zu dem mehr als denkwürdigen Verfahren: »Sozialrichter Robert von Renesse setzte sich für die Anerkennung der Rentenansprüche von Arbeitern aus NS-Ghettos ein und zog viel Unmut auf sich. Sein Disziplinarverfahren hat nun ein Ende gefunden – hinter verschlossenen Türen.« Sein Engagement für die Opfer »missfiel vielen seiner Kollegen, die zuvor nach Aktenlage die Klagen abgewiesen hatten. Der Streit eskalierte, Renesse fand sich vor dem Richterdienstgericht wieder – wegen Rufschädigung der Justiz und als Nestbeschmutzer. Seine berufliche Karriere stand auf dem Spiel, ehe sich das Land NRW und der Richter … auf einen Vergleich einigten«, berichtete die Süddeutsche Zeitung am 10.12.2017 unter der Überschrift Diesem Richter verdanken Zehntausende NS-Opfer eine Rente. »Ein Ruhmesblatt für die deutsche Justiz wird aus dem Fall durch diese Wendung jedoch längst nicht«, so Richard Herzinger in seinem Kommentar unter dieser Überschrift Hier zeigt die Justiz eine eiskalte Unlogik. »Der Eifer, ihn zu maßregeln, war größer als die Scham darüber, den noch lebenden Opfern beim späten Versuch, zu ihrem Recht zu kommen, schwer überwindliche Hürden in den Weg zu legen …Jenseits aller juristischen Fragen beunruhigt der Gedanke, dass sich deutsche Justizvertreter und ein Justizminister nach jahrzehntelanger „Aufarbeitung“ des Holocaust bei einem solch sensiblen Thema derart hartherzig auf Paragrafen versteifen konnten. Unterschwellig schwang da womöglich gar ein tiefer Unwille mit, sich weiter mit der lästigen Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen.«
Ein „Albtraum für mich und meine Familie“ nannte Renesse die Zeit bis zur Einigung. Wenigstens von anderer Seite wurde sein Tun geehrt: Renesse bekam den „Preis der Menschlichkeit“ der Janusz-Korczak-Akademie und den Dachau-Preis für Zivilcourage.
Aber das alles ist nur die Vorbemerkung für das, worüber in diesem Beitrag zu berichten ist: Unter der Überschrift Deutsche Renten an belgische SS-Freiwillige erfahren wir: »Nach wie vor erhalten ehemalige belgische Mitglieder der Waffen-SS Renten aus Deutschland. Eine Initiative aus dem belgischen Parlament will das stoppen. Doch die Chancen stehen schlecht.« Und damit der Link zur Opferrente für die Überlebenden der Arbeitslager deutlich wird: Die Täter aus der eben noch nicht vollständig vergangenen Vergangenheit erhalten auch „Opferrenten“. Und das seit Jahrzehnten und ohne Probleme und ohne große Nachfragen. Eben anders als die anderen.
»Nur noch etwa 30 Männer sind am Leben, alle sind weit über 90. Und sie bekommen eine regelmäßige monatliche Zusatzrente aus Deutschland. Es geht um Beträge zwischen 425 und 1275 Euro. Das behauptet der belgische NS-Forscher Alvin De Coninck.« Nach Angaben des Bundessozialministeriums sind es hingegen (nur noch) 18 Leistungsempfänger in Belgien, alle über 90 Jahre alt, die seit Jahrzehnten Zusatzrenten aus Deutschland beziehen. 2012 sollen noch über 2.500 Belgier gelebt haben, die Renten aus Deutschland bekamen. Anspruch auf deutsche Opferrenten hätten in Belgien sowohl deutschsprachige Ostbelgier, die zwangseingezogen wurden, als auch Flamen und Wallonen, die sich freiwillig den deutschen Streitkräften anschlossen. Für den Rentenbezug muss eine Kriegsverletzung nachgewiesen werden.
Wie kann das überhaupt sein?
Dazu muss man wissen: Ab dem 1. Januar 1940 wurden die Waffen-SS für die Zwecke der Wehrmacht eingesetzt und damit galten die SS-Schergen nicht (mehr) als Angehörige der NSDAP, sondern als Bedienstete des Deutschen Reiches. Und Adolf Hitler verfügte per „Führererlass“, dass auch Ausländer, die als freiwillige Mitglieder der Waffen-SS auf deutscher Seite kämpften, Versorgungsansprüche hätten. Dementsprechend stand den Angehörigen der Waffen-SS auch eine Rentenversicherung zu. Sie hatten damit einen Versorgungsanspruch wie jeder andere Wehrmachtssoldat auch, unabhängig davon, welcher Nationalität sie waren. Wie groß die weltweite Zahl der Empfänger heute noch ist und aus welchen Ländern sie kommen, lässt sich schwer sagen. Doch allein in Lettland hätten Mitte der 90er Jahre noch rund 1500 ehemalige Waffen-SS-Angehörige Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz bekommen, zitiert die Deutsche Welle den Mainzer Historiker Martin Göllnitz.
Drei belgische Abgeordnete haben nun einen neuen Vorstoß im belgischen Parlament gemacht: Sie fordern in einer Vorlage für den außenpolitischen Ausschuss des Parlaments, diese „völlig unannehmbare Situation“ zu beenden und das Problem „auf diplomatischem Weg“ zu lösen. Das Problem: Die Namen der Personen sind dem deutschen Botschafter in Belgien bekannt, aber sie werden nicht an die belgische Zentralregierung weitergegeben, daher können auch keine steuerpolitischen Maßnahmen ergriffen werden. Die Belgier gehen davon aus, dass die Empfänger ihre Leistungen steuerfrei erhalten. Aber wieso erfahren die Belgier nicht die Namen?
Vorhang auf für den Datenschutz: „Den belgischen Behörden eine Liste über die Rentenberechtigten und die Höhe der Rentenleistungen zu übermitteln wäre auch aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich“, kann man dieser Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 18. Mai 2018 entnehmen: Rentenzahlungen aus der deutschen Rentenversicherung an belgische Kollaborateure und Fragen zu deren Staatsangehörigkeit.
Der Vorstoß der drei belgischen Abgeordneten hatte Erfolg, wie man diesem Beitrag entnehmen kann: Belgien fordert Stopp von Zahlungen: »Das belgische Parlament fordert die deutsche Bundesregierung auf, Zahlungen an ehemalige belgische Nazi-Kollaborateure einzustellen. Eine entsprechende Entschließung wurde … im Auswärtigen Ausschuss der Abgeordnetenkammer einstimmig beschlossen.«
Der bereits zitierte Historiker Martin Göllnitz sieht aber große rechtliche Hürden für dieses Anliegen: „Im Gegensatz zum Disziplinarecht des Berufsbeamtentums ist das Sozialversicherungsrecht, über das ja die Versorgungsansprüche laufen, grundsätzlich frei von Sanktionen bei strafrechtlichen Handlungen. Hintergrund ist, dass der Sozialversicherung das Prinzip der Wertneutralität zugrundeliegt.“
Das mit der „Wertneutralität“ ist immer so eine schwierige und oftmals eben auch relative Sache. Ein Beispiel aus dem Artikel Deutsche Renten an belgische SS-Freiwillige:
»Es ist nicht so, dass es in Deutschland keine Versuche gegeben hätte, Rentenzahlungen an Mitglieder der SS zu verhindern. In einem „Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes“ vom 14. Januar 1998 heißt es über die Ansprüche von ehemaligen Soldaten, Leistungen seien dann zu versagen, wenn der Berechtigte „während der Herrschaft des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat“. Ein Anhaltspunkt dafür könne sich insbesondere „aus einer freiwilligen Mitgliedschaft des Berechtigten in der SS ergeben“.« Geht doch, mag der eine oder andere denken – aber wie immer im Leben sollte man auf das Kleingedruckte achten:
»Allerdings gilt die Änderung nur für Anträge auf Leistungen, die nach dem 13. November 1997 gestellt wurden. Da die Anträge, um die es geht, fast alle schon Jahrzehnte zurückliegen, ist so gut wie keiner der Zahlungsempfänger betroffen.« Dass die, um die es hier geht bzw. gehen sollte, ihre Anträge bereits alle vor dem Stichtag im Jahr 1997 gestellt haben – nun ja, wer rechnen kann vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute, der ist klar im Bilde.
So erkennen wir auch hier ein bekanntes Muster: Man simuliert Handeln, wohlwissend, dass das gar nicht wirklich wirken kann und schützt ob bewusst oder unbewusst die „eigenen“ Leute, die dann bis zum Tod der letzten ihrer Art ihre monatliche Leistung aus dem Rechtsnachfolgestaat von Hitler-Deutschland bekommen – während vielen anderen tatsächlichen Opfern Leistungen vorenthalten oder aber nur nach einem langen und mühseligen bürokratischen Beantragungs- und Prüfungsmarathon zugesprochen werden.
Sie ist noch nicht vorbei, die NS-Zeit. Und wir erleben einen „Führererlass“ aus den mehr als dunklen Zeiten, der noch immer die angeblich wertneutrale Rentenkasse bewegt.