Und jährlich grüßt das Schuldner-Murmeltier, so könnte man eine eigene Rubrik überschrieben. Vor einem Jahr, am 7. November 2017, wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Ambivalentes Wachstum: Die Wirtschaft brummt und die Zahl der überschuldeten Menschen nimmt weiter zu. Darin findet man diese Ausführungen: »Die Wirtschaft in Deutschland wächst und die Arbeitslosigkeit sinkt. Aber die Zahl der überschuldeten Privatpersonen nimmt besonders im Westen zu, wie eine Studie zeigt. Die Überschuldung von Privatpersonen in Deutschland ist seit 2014 zum vierten Mal in Folge gestiegen.« Das bezog sich auf den SchuldnerAtlas 2017, der von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform veröffentlicht wurde.
Und in diesen Tagen meldet sich die Creditreform erneut zu Wort: »Die Überschuldung von Privatpersonen in Deutschland ist seit 2014 zum fünften Mal in Folge angestiegen. Die Überschuldungsquote bleibt nahezu konstant, da die Bevölkerung durch Zuwanderung und Migration nochmals leicht zugenommen hat. Zum Stichtag 1. Oktober 2018 wurde für Deutschland eine Überschuldungsquote von 10,04 Prozent gemessen. Damit sind weiterhin über 6,9 Millionen Bürger über 18 Jahre überschuldet und weisen nachhaltige Zahlungsstörungen auf.« Das ist eine der Erkenntnisse aus dem SchuldnerAtlas 2018. Insgesamt sind im Westen rund 5,82 Millionen Personen als überschuldet zu betrachten, im Osten Deutschlands sind dies rund 1,11 Millionen Personen.
»Allerdings: Der Grundtrend in Ost- und Westdeutschland hat sich umgekehrt: Die Zahl der Überschuldungsfälle geht im Osten zurück (- 8.000 Fälle), im Westen steigt sie weiter an (+ 27.000 Fälle). Die entsprechenden Vergleichswerte zeigen, dass sich die Überschuldungsspirale im Westen weiterhin schneller dreht als im Osten«, so die Creditreform in einer Pressemitteilung zu ihrem SchuldnerAtlas 2018.
Bei einer differenzierten Auswertung der Entwicklungen im Bereich der Überschuldung wird dieser besorniserregende Trend diagnostiziert: „Überschuldung der Zukunft: alt und weiblich“. Dabei muss man sehen, dass (noch) die Frauen insgesamt weniger betroffen sind von Überschuldung als die Männer, aber: »In diesem Jahr können in Deutschland rund 7,65 Prozent der Frauen über 18 Jahre (2017: 7,61 Prozent) als überschuldet und zumindest nachhaltig zahlungsgestört gelten. Bei Männern sind dies aktuell 12,55 Prozent (2017: 12,59 Prozent). Die Zahl der Überschuldungsfälle nahm bei den Frauen weiter merklich zu (2,7 Millionen; + 21.000 Fälle), bei den Männern nahm sie minimal ab (4,2 Millionen; – 2.000 Fälle).«
Und dann mit Blick auf ein Thema, auf das hier immer wieder hingewiesen wird – die heute schon bestehende und vor allem der erwartbare Anstieg der Altersarmut in unserem Land erfahren wir, dass das auch in den Bereich der Überschuldung ausstrahlt, wobei wir uns offensichtlich am Anfang einer Entwicklung befinden: »Das Thema „Altersüberschuldung“ hat weiter deutlich an Bedeutung gewonnen. 2018 müssen rund 263.000 Menschen in Deutschland ab 70 Jahren als überschuldet eingestuft werden (+ 69.000 Fälle; + 35 Prozent). Die entsprechende Überschuldungsquote (2,04 Prozent; + 0,54 Punkte) liegt weiterhin unter den Vergleichswerten der anderen Altersgruppen. Im Vergleich 2013 / 2018 ist der Anstieg mit 138 Prozent überdurchschnittlich, allerdings von vergleichsweise niedrigem Niveau aus. Im Gegensatz dazu ist die Überschuldungszahl und -quote in der jüngsten Altersgruppe in diesem Jahr weiter zurückgegangen.«
Diesen Aspekt hebt auch Carsten Dierig hervor: Altersarmut wird zum alarmierenden Trend, so hat er seinen Artikel überschrieben. „Wir sehen einen Trend zu Altersarmut und Altersüberschuldung“, so zitiert er die Creditreform.
»Ursachen gibt es dabei den Experten zufolge gleich mehrere, angefangen beim Anwachsen des Niedriglohnsektors bis hin zu Änderungen in den Erwerbsbiografien. Als Hauptgrund aber hat Creditreform die Rentenreformen der vergangenen 20 Jahre ausgemacht. Die nämlich hätten fast durchweg auf eine Reduktion des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rente gezielt, um den Beitragssatz zu stabilisieren. „Nun reicht das Leistungsniveau der Rentenversicherung vielen Verbrauchern offensichtlich nicht mehr aus.“ Um den gewohnten Lebensstandard halten zu können, seien zusätzliche Einnahmen nötig. Also gehen viele Verbraucher auch im Rentenalter noch arbeiten.«
Die Sicherung des Lebensstandards wird angesichts deutlich steigender Wohn- und Mietkosten erkennbar schwieriger. Und dieser Teilbereich als Treiber einer möglichen Überschuldung wurde von der Creditreform in diesem Jahr gesondert untersucht: »Das Ergebnis: Wohnen ist zumindest in Großstädten zum Armutsrisiko, in jedem Fall aber zum Überschuldungsrisiko geworden. „Die Mietbelastungsquote liegt bei vielen Mietern bei über 50 Prozent“, heißt es dazu im Bericht. Die Betroffenen geben also mehr als die Hälfte ihres Haushaltseinkommens fürs Wohnen aus. Kritisch werde es aber schon oberhalb von 30 Prozent. „Es bleibt dann nur relativ wenig Geld für die sonstige Lebensführung.“ Nach Daten der Hans-Böckler-Stiftung, dem Forschungs- und Studienförderungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes, leben dadurch 1,3 Millionen Haushalte in deutschen Großstädten nach Abzug der Miete von weniger als den Hartz-IV-Regelsätzen.«
Auch Benedikt Müller hat das aufgegriffen: Überschuldet, um zu wohnen, so die Überschrift seines Artikels: »Immer teurere Mietangebote, immer weniger Sozialwohnungen, lange Wartelisten in Studentenheimen: Der angespannte Wohnungsmarkt in vielen deutschen Städten belastet viele Haushalte finanziell, warnt die Wirtschaftsauskunftei Creditreform. „Wohnen ist in deutschen Großstädten in vielen Fällen zum Armutsrisiko, in jedem Fall zum Überschuldungsrisiko geworden“, heißt es im neuen Schuldneratlas.«
Verantwortlich für das Abrutschen von Privatpersonen in akute Finanznöte sind dabei vornehmlich fünf Gründe, die sogenannten Big Five, wie es in der Branche heißt: Arbeitslosigkeit, Erkrankung/Sucht/Unfall, Trennung/Scheidung/Tod, unwirtschaftliche Haushaltsführung und eine gescheiterte Selbstständigkeit. Zusammen stehen sie für rund 70 Prozent der Überschuldungsfälle.
Dabei verschieben sich die Ursachen, worauf Benedikt Müller mit Bezug auf die neuen Daten der Creditreform hinweist: »Die Auskunftei blickt zwiespältig in die Zukunft: Eine gute Nachricht ist, dass immer weniger Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit in die Schuldenfalle geraten. Creditreform verweist auf die Rekordbeschäftigung in Deutschland und hohe Tarifabschlüsse in vielen Branchen. Andererseits gerieten immer mehr Menschen in Zahlungsschwierigkeiten, weil sie ihren Haushalt nicht wirtschaftlich führten. Auch dank der niedrigen Zinsen nehmen wieder mehr Konsumenten Kredite auf. Insgesamt geht die Auskunftei davon aus, dass die Zahl überschuldeter Menschen in den kommenden Jahren weiter steigen wird.«
Und man muss sich das, was hier als Überschuldung beschrieben wird, als Prozess vorstellen – den man durchaus stoppen kann, wenn eine rechtzeitige Intervention seitens der Schuldnerberatung erfolgt oder erfolgen würde. Dazu die Beschreibung bei Jörg Marksteiner in seinem Beitrag Überschuldungsrisiko Mietkosten:
»In den Beratungsstellen kennen sie das Phänomen schon: Wenn Betroffene die Briefumschläge mit Rechnungen, Zahlungsaufforderungen und Mahnungen ungeöffnet in Schubladen verschwinden lassen – statt sich rechtzeitig Hilfe zu suchen … „Die Realität sieht so aus, dass viele Klienten tatsächlich sich erst dann melden, wenn der Gerichtsvollzieher sich angemeldet hat.“ Wenn Schuldnerberater dagegen früh mit Vermietern und Gläubigern verhandeln können, dann gelingt es oft zu verhindern, dass der Schuldenberg immer weiter wächst. Das zeigt auch die Studie: Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist die Zahl der harten Überschuldungsfälle mit Gerichtsvollzieher, Pfändung und Zwangsvollstreckung zurückgegangen. Trotzdem ist die Zahl der überschuldeten Menschen insgesamt zum fünften Mal in Folge gestiegen. Sieben Millionen Menschen können im Moment nicht mehr ihre Rechnungen bezahlen. Michael Bretz, Leiter der Wirtschaftsforschung bei der Auskunftei Creditreform. „Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass sich vor allem Zunahmen zeigen bei der sogenannten leichten Verschuldung. Und ein Haupttreiber dieser Überschuldung ist der Konsum. Es gibt billigen Kredit, das sollte man nicht vergessen. Die ganzen Portale werben damit. Mit null Prozent. Das sind natürliche Anreize, es mit Krediten auch im Konsumentenbereich wie bei Urlauben zu versuchen.“ Wenn dann überraschend Schicksalsschläge dazu kommen wie Krankheit, Unfälle, Scheidung oder Arbeitslosigkeit – wird es bei vielen schnell eng. Denn andere Kosten laufen ja weiter oder steigen sogar drastisch. Wie die Miete. „Wohn- und Mietkosten in deutschen Städten werden immer mehr zum Überschuldungsrisiko.“ Und das ist neu, warnt Henning Rödl, der die die Verschuldung der Verbraucher seit Jahreszehnten für die Auskunftei beobachtet. Bei immer mehr Haushalten, auch in Klein und Mittelstädten, sagt er, gehe schon ein Drittel des Einkommens fürs Wohnen drauf.«
Dabei hat das ein regional sehr differenziertes Gesicht. Marksteiner weist auf die „Problemregionen im Norden und im Westen Deutschlands“ hin: »In Städten wie Bremerhaven, Wuppertal oder auch im Ruhrgebiet, da gebe es Bezirke, da ändere selbst eine gute Lage auf dem Arbeitsmarkt nur wenig, sagen die Experten.
„Im Norden jeweils von Essen oder Dortmund, haben wir Überschuldungsquoten in einzelnen Regionen von 30 bis 35 Prozent. Auf gut Deutsch: Von 100 Mann sind da 30 oder 35 in Kalamitäten.“«
Und auch hier wieder die Alterskategorie: »Im Schnitt haben Betroffene 30.000 Euro Schulden. Sehr viel mehr ist es meist bei Rentnern. Noch ein Trend, der den Fachleuten sorgen macht: Während die Zahl der jüngeren Verschuldeten erfreulicherweise zurückging, ist die Zahl der verschuldeten über Siebzigjährigen rasant gestiegen. Das sei gefährlich, denn allein mit ihrer Rente hätten die meisten kaum eine Chance, ihre Schulden wieder loszuwerden. Nicht nur wegen der steigenden Mieten.«
„Die Überschuldung kommt nicht mehr nur vom Rand. Also von denen, die am Rand dahin leben oder vegetieren, sondern durchaus aus der Mitte unserer Gesellschaft. Ein nachhaltiger Rückgang der Probleme in 2019, den halten wir nicht für möglich.“ (Henning Rödl, Creditreform).