Umfragen sind eine schwierige Angelegenheit. Nicht nur, weil die Ergebnisse teilweise ganz erheblich variieren, je nachdem, wie man fragt. Sie haben auch den „Vorteil“ für die Befragten, dass es sie nichts kostet. Sie können für oder gegen etwas sein, ohne dass das unmittelbare Konsequenzen hat. Man unterschreibt keinen lebenslänglichen Ehevertrag, man muss keine Rechnung bezahlen. Man kann seinen Impulsen folgen und darf auch antworten, wenn man gar nicht betroffen ist. Man muss noch nicht einmal verstanden haben, um was es da eigentlich geht in der Umfrage.
Zum anderen kann man mit Umfrageergebnissen auf der Seite der Auftraggeber auch Verhalten beeinflussen. Das lässt sich nicht nur, aber aktuell höchst beeindruckend beobachten im Bereich der Demoskopie, also den Wahlumfragen, deren Veröffentlichungen die eine oder andere Partei durchaus noch stärker nach unten (oder oben) ziehen kann, wahrscheinlich auch, weil die Befragten auf der „Gewinner“- und weniger gern auf der „Verlierer“-Seite stehen möchten.
Bleiben wir in der hier interessierenden Pflege. In einer allgemeinen Umfrage, ob und was man gegen den Pflegenotstand unternehmen sollte, werden sicher viele Befragte für eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte und für mehr Personal votieren. Aber wie gesagt – es kommt immer darauf an, wie und wonach gefragt wird. Wenn es dann beispielsweise um die Zeche geht, fallen die Ergebnisse oftmals anders aus. Dazu ein Beispiel: Umfrage: Nur Minderheit unterstützt höhere Pflegebeiträge: »Nur eine Minderheit der Deutschen ist einer Umfrage zufolge zu höheren Beiträgen für die Pflegeversicherung bereit. Lediglich 34 Prozent der Bundesbürger im erwerbsfähigen Alter unterstützen eine Anhebung der Pflegebeiträge … Dagegen wollen 46 Prozent nicht mehr von ihrem Lohn für den erhöhten Pflegeaufwand des Staates abgeben.«
Mit diesen skeptischen Anmerkungen im Hinterkopf sollte man auch die folgenden Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zur Kenntnis nehmen, die vom Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom), dem Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, in Auftrag gegeben wurde: Große Offenheit für digitale Helfer in der Pflege.
»Die Menschen in Deutschland stehen der Digitalisierung der Pflege aufgeschlossen gegenüber. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des Digitalverbands Bitkom unter mehr als 1.000 Befragten ab 18 Jahren. Vor dem Hintergrund des eklatanten Fachkräftemangels in der Pflege sehen sieben von zehn Deutschen (71 Prozent) die Digitalisierung der Pflege als große Chance. So sagen 23 Prozent, dass der Pflegekollaps nur vermieden werden kann, wenn die Pflege digitaler wird. 33 Prozent meinen, dass die Digitalisierung der Pflege zumindest dabei hilft, den Pflegenotstand in Deutschland zu lindern. 54 Prozent würden es begrüßen, wenn es zu einem verstärkten Einsatz von digitalen Anwendungen in der Pflege in Deutschland kommt.«
Und weitere Impressionen aus der Befragung: »Derzeit schneidet das Pflegesystem bei den Befragten lediglich ausreichend ab, im Durchschnitt geben sie der Pflege in Deutschland die Note 4. 94 Prozent meinen, dass es vor allem an Personal mangelt, 60 Prozent halten das Pflegepersonal für nicht ausreichend qualifiziert, 54 Prozent kritisieren die mangelhafte technische Ausstattung von Alten- und Pflegeheimen. Fast jeder – 92 Prozent – ist der Meinung, dass das Pflegepersonal hoch oder gar sehr hoch belastet ist. Die Digitalisierung bietet hier enorme Chancen, das sehen auch die Befragten.«
Immer wieder interessant, wie bei solchen Umfragen Mutmaßungen ohne kritisches Hinterfragen in den Raum gestellt werden: Können die Menschen wirklich beurteilen, ob das Pflegepersonal nicht ausreichend qualifiziert ist? Warum bietet die Digitalisierung enorme Chancen für das hoch belastete Personal?
»So sagen jeweils mehr als sieben von zehn Befragten, dass das Pflegepersonal dank digitaler Anwendungen körperlich entlastet werden könnte (71 Prozent) und mehr Zeit für die eigentliche Pflege bliebe (72 Prozent). Als größte Chance sehen 76 Prozent ein länger selbstbestimmtes Leben und Wohnen. 69 Prozent meinen, dass man dank Pflege 4.0 die Sicherheit im Alltag von Pflegebedürftigen erhöhen könnte.«
Um – mögliche – Entlastungseffekte einschätzen zu können, müsste man einen sehr guten Überblick über „digitale Anwendungen“ im Pflegebereich haben. Das aber kann man nicht einmal bei Menschen voraussetzen, die sich beruflich mit Pflege beschäftigen (sollten). So beispielsweise der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages, Erwin Rüddel (CDU), der bei einer Podiumsdiskussion ausrief, dass es in zwei Jahren keine Windeln mehr in Altenheimen geben würde, die nicht mit Sensoren ausgestattet sind, die Alarm schlagen auf dem Tablet des Pflegepersonals, wenn es zu einer Einnässung gekommen ist, so dass das Pflegepersonal eine enorme Entlastung erhalten würde. Nun muss man einen Moment innehalten und sich fragen, wo denn hier die große Entlastung herkommen soll. Bei nüchterner Betrachtung kann es sich lediglich darum handeln, dass die Pflegekräfte nicht mehr selbst nachschauen müssen bei den Bewohnern, ob die Windeln gewechselt werden müssen. Aber selbst wenn auf dem Tablet der Hinweis erscheint, Frau A. oder Herr B. haben Bedarf an einer neuen Windel – das Tablet wechselt die nicht, das müssen dann immer noch die Pflegekräfte selbst machen. Und wenn die System mal gestört sein sollten oder gar ausfallen … Lassen wir das, man erkennt an diesem Beispiel, dass da viel heiße Erwartungsluft ausgestoßen wird.
In der Zusammenfassung der Bitkom-Umfrage werden auch kritische Aspekte angesprochen, die darauf hindeuten, dass ein nicht kleiner Teil der Befragten keineswegs umstandslos rosige Zeiten sieht: »Als größte Probleme werden hingegen Datenschutz und Datensicherheit genannt (57 Prozent). Es folgt die Angst vor einer weniger am Menschen ausgerichteten Pflege (55 Prozent) und vor einer Isolation älterer Menschen (49 Prozent). Beinahe jeder Zweite (47 Prozent) meint außerdem, dass digitale Anwendungen für die Pflege noch nicht marktreif sind.«
Dennoch, der Branchenverband der Unternehmen, die mit solchen Produkten und Dienstleistungen ihr Geld verdienen, hebt den Optimismus der Befragten hervor: »Viele Menschen stehen digitalen Helfern in der Pflege, auch was einen persönlichen Pflegebedarf, angeht offen gegenüber. So können sich 41 Prozent vorstellen, sich von einem Roboter zumindest zeitweise pflegen zu lassen. Bei den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar 51 Prozent, bei der Generation 65 Plus sind es 37 Prozent. Hätten die Befragten im Falle einer Pflegebedürftigkeit die Wahl zwischen der Überwachung dank digitaler Technologien zu Hause oder dem Gang ins Pflegeheim, würden sich knapp zwei Drittel (62 Prozent) für die digitalen Anwendungen in den eigenen vier Wänden entscheiden. Mehr als ein Drittel (35 Prozent) würden dies sogar auf jeden Fall vorziehen.«
Dass solche Ergebnisse benutzt werden, um denen, die Geschäfte machen wollen, eine scheinbar objektive Unterstützung zur Verfügung zu stellen – geschenkt. Aber wir werden an dieser Stelle konfrontiert mit einer weit verbreiteten Erwartungshaltung in der Politik, man könne die technischen Entwicklungen tatsächlich verstehen und verwenden als Instrument, den grassierenden Mangel an (noch) humanoiden Pflegekräften bekämpfen zu können. Und diese Hoffnungen haben bei nicht wenigen Entscheidungsträgern die gleiche Dimension wie die auf einen zentralen Beitrag durch den Import ausländischer Pflegekräfte. Beides wird einen (unterschiedlichen) Beitrag leisten können, aber beide sind keineswegs der Schlüssel für die Lösung des Fachkräftemangelproblems in der Pflege.
»Roboter sollen in der Pflege eine größere Rolle spielen. Sie könnten aber nicht das Problem des Fachkräftemangels lösen, betonte der Pflegebeauftragte der Bundesregierung Andreas Westerfellhaus« in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, das unter diese Überschrift gestellt wurde: „Robotik ist ein Instrument, das Unterstützung leisten kann“.
Aber auch in vielen Medien wird die Option der Roboterisierung bzw. weitergehend der Digitalisierung als eine Lösung für das Personalproblem zumindest in den Raum gestellt, oftmals in den Überschriften, auch wenn die Texte dann differenzierter daherkommen. Beispielsweise dieser Artikel hier: So sollen Roboter gegen den Pflegenotstand helfen: »Vielerorts wird bereits geforscht und getüftelt, um Maschinen und Systeme zu entwickeln, die Pfleger unterstützen könnten. Konkret wird der Einsatz bereits in Garmisch-Partenkirchen, wo noch 2018 ein Pilotversuch des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrtzentrum und der Caritas starten soll: Die ursprünglich für die Raumfahrt entwickelten Hightechroboter Justin und Edan reichen Getränke, bringen Tabletten, decken das Bett ab.« Aber auch hier wird dann im Verlauf der Berichterstattung klar gestellt: »Fest steht: Die Maschinen selbst werden den Fachkräfteengpass nicht auflösen. Sie sollen nur Helfer sein, betont Heidemarie Kelleter, Referentin für Qualitätsberatung beim Diözesan-Caritasverband im Erzbistum Köln: „Roboter sollen und können Pflegefachkräfte nicht ersetzen, aber sie können zu ihrer Entlastung beitragen.“« Und über den Wissenschaftler Rainer Wieching von der Universität Siegen wird in diesem Zusammenhang berichtet: »Gemeinsam mit Pflegefachkräften und Senioren erarbeiten Wieching und sein Team Konzepte und Szenarien, die in Zukunft praktische Anwendung finden könnten. „Wir nennen das partizipatives Design“, erklärt er. Der Plan: Irgendwann sollen Pflegefachkräfte auch ohne Programmierkenntnisse in der Lage sein, den Roboter anhand diverser Apps zu steuern und an ihren aktuellen Bedarf anzupassen. Wieching sieht darin auch eine weitere Chance: „Der technologische Aspekt könnte den Pflegeberuf für die jungen Menschen in Zukunft interessanter machen.“«
Und vielleicht sollte man die Begrifflichkeit immer wieder hinterfragen: »Den Begriff des Pflegeroboters hält Alexander Dietrich vom Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum ohnehin für irreführend. Die aktuellen Roboter haben nur eine Assistenzfunktion. Sie sollen die Pfleger unterstützen, die Angehörigen entlasten oder für die Senioren Helferlein sein – mehr aber auch nicht«, so Regina Wank in ihrem Artikel Die Pflegeroboter.
In die gleiche Richtung argumentiert Christian Buhtz, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im FORMAT-Projekt assistive Technologien in der Pflege untersucht und Bildungskonzepte entwickelt – er spricht von einem „Übersetzungsfehler“: »Es gibt einfach keine Pflegeroboter. Sondern es gibt lediglich robotische Systeme die in einzelnen Funktionen unterstützen können und so Pflegekräfte entlasten. Das Problem ist nicht die technische Machbarkeit, sondern die Komplexität, Individualität von zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Pfleger und Patient.« Und er legt den Finger in eine ziemlich offene Wunde: »Der Gedanke, dass Roboter Pflege ersetzen könnte, kommt von einem beinahe diskriminierenden und sehr verkürzten Verständnis pflegerischen Handelns.« In dem Interview Missing Link: „Es gibt keine Pflegeroboter“ weist Buhtz zugleich auf die Möglichkeiten hin (die immer auch Begrenzungen sind): »Assistive Technologie übernimmt nicht den vollständigen Arbeitsprozess, sondern nur einen kleinen Teil. Das Ziel sollte immer sein, die Autonomie, also die Selbstständigkeit pflegebedürftiger Menschen zu erhalten oder wiederherzustellen. Als assistive Technologie kann aber bereits auch ein einfacher Stuhl mit zwei Rollen und einen Hebel klassifiziert werden, mit dem man leichter Menschen näher an den Tisch zum Essen rückt. Aber auch Betten, die mit einer Fernbedienung die Matratze langsam in eine Sitzposition hochfahren, sodass die Seniorinnen und Senioren einfacher aufstehen können, sind assistive Technologie. Das Problem liegt hier ganz woanders: Pflegende Angehörigen kennen diese einfachen technologische Unterstützungssystem nicht und sind deswegen im Alltag immer noch Belastungen ausgesetzt, die so eigentlich nicht sein müssten.«
»Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Typen von Robotern, die für einen Einsatz in der Pflege geeignet wären: Neben den Info- und Navigationsgeräten gibt es Maschinen, die etwa Dinge bringen und holen können. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart hat einen „intelligenten Pflegewagen“ und einen robotischen Serviceassistenten entwickelt. Die dritte Kategorie potenzieller Pflegeroboter ist die, die tatsächlich Hand anlegt, etwa Patienten hilft, sich aufzurichten, oder sie umbettet«, so Anna-Maria Beekes in ihrem Artikel.
Gebraucht werde ein Diskurs darüber, wie eine Würde wahrende Pflege und moderne Technik verbunden werden könnten. „Der Bundestag ist gefordert, eine Kommission ‚Ethik und Automatisierungstechnik in der Pflege‘ einzusetzen.“ Zudem sollte es eine breite gesellschaftliche Diskussion über Chancen und Risiken von Pflegerobotern geben, so wird der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, in dem Artikel Pflegeroboter: Patientenschützer fordern ethische Regeln zitiert. Das sei aber derzeit nicht einmal angemacht, so die ernüchternde Replik des Pflegebeauftragten Westerfellhaus in dem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Wenn man von der mehr als plausiblen Prämisse ausgeht, dass es – so oder anders – in den vor uns liegenden Jahren eine enorme Ausbreitung technischer Assistenzsysteme und generell von Digitalisierungsprozessen in der Pflege geben wird (allein schon angesichts der Profite, die in diesem Bereich realisiert werden können), dann muss ein besonderer Blick auf die Professionalität der Pflegekräfte gerichtet werden. Denn die müssen in die Lage versetzt werden, sich mit den heterogenen Angeboten und Verheißungen auseinanderzusetzen, die tatsächlich möglichen Erleichterungen, aber auch die Gefahren einordnen zu können und man muss sie auch dazu befähigen, sich zu verweigern, wenn die Entwicklung, was nicht unwahrscheinlich ist, in eine Richtung geht, die allem folgt, nur nicht den Zielen einer menschenwürdigen Pflege. Und man muss die Pflegekräfte zugleich befähigen, sich selbst vor einer (weiteren) strukturellen Überlastung zu schützen, in dem sie sich nicht degradieren lassen zu bloßen Exekutoren einer betriebswirtschaftlich-technischen Rationalität, die von interessierter Seite von außen bzw. oben implantiert wird.
Damit das erreicht werden kann, ist Qualifizierung wichtig, aber nicht hinreichend. Es würde die Aufgabe, die hier angesprochen wurde, reduzieren auf eine notwendige Anpassungsleistung der einzelnen Pflegekräfte. Die Qualifizierung als unabdingbarer Baustein für die Professionellen ist von Bedeutung, sie muss aber gerahmt werden. Beispielsweise – um die Breite der notwendigerweise zu führenden Diskussion anzuleuchten – durch ein vorher statuiertes Leitbild, wie man es in dieser Arbeit finden kann (und diskutieren sollte):
➔ Michaela Evans, Volker Hielscher und Dorothea Voss: Damit Arbeit 4.0 in der Pflege ankommt? Wie Technik die Pflege stärken kann. Forschungsförderung Policy Brief Nr. 4, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, März 2018
Die Punkte mögen die Bereite und Tiefe der erforderlichen Diskussion und Gestaltung andeuten. Habe ich schon erwähnt, dass die gerade erst von der Bundesregierung verabschiedete Reform der Pflegeausbildungen statt einer konsequenten Aufwertung der Pflegeprofessionellen gerade für den Bereich der Altenpflege eine letztendlich katastrophale Abwertung durchgedrückt hat gegenüber dem ursprünglichen Ansatz? Nein? Dann sei das hier zur Protokoll und zum Nachdenken mit auf den Weg gegeben. Auch hier haben sich interessierte Kreise von außen und oben durchgesetzt. Das wird sich noch mal bitter rächen, aber bis dahin glaubt man wieder etwas Zeit gewonnen zu haben. Es sollte auch bei dem hier interessierenden Thema Digitalisierung in der Pflege eine Warnung sein.