Die Erwerbsminderungsrente ist eine überaus bedeutsame sozialstaatliche Leistung. Derzeit beziehen mehr als 1,8 Mio. Menschen diese Form der Rente, weil sie nicht mehr oder nur äußerst eingeschränkt in der Lage sind, über Erwerbsarbeit nicht nur den Lebensunterhalt zu decken, sondern auch Rentenanwartschaften zu erwirtschaften. Seit Jahren konstatiert die Mehrheit der Rentenexperten sozialpolitischen Handlungsbedarf in diesem Teilbereich der Alterssicherung, denn die Höhe der Leistung ist im Schnitt mit derzeit 716 Euro mehr als niedrig und die Betroffenen werden bis zu ihrem Tod auf diese Leistungen angewiesen sein. Da ist jede Verbesserung der Erwerbsminderungsrente ein wahrer Segen.
Nun hat die Große Koalition in der letzten Legislaturperiode bereits zweimal – 2014 und dann 2017 – gesetzgeberische Verbesserungen vorgenommen, die zu höheren Erwerbsminderungsrenten führen. Und sie will auch in dieser Legislatur den eingeschlagenen Weg fortsetzen. So heißt es im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) zu den geplanten Verbesserungen: »Die Absicherung bei Erwerbsminderung wird deutlich verbessert. Die Zurechnungszeit wird für Rentenzugänge im Jahr 2019 in einem Schritt auf 65 Jahre und 8 Monate angehoben. Anschließend wird sie in Anlehnung an die Anhebung der Regelaltersgrenze weiter auf 67 Jahre verlängert.«
Nun muss man bekanntlich genau lesen – und die hier entscheidende Formulierung im Gesetzentwurf lautet „für Rentenzugänge im Jahr 2019“ soll es die beschriebenen Verbesserungen bei der Zurechnungszeit geben, die erhebliche Auswirkungen haben wird, denn ein Durchschnittsverdiener würde bei Eintritt in die Erwerbsminderungsrente Anfang 2019 auf einen Schlag 98 Euro mehr Monatsrente erhalten als unter den heutigen rechtlichen Rahmenbedingungen, wenn die Reform in Kraft treten wird. Das bedeutet aber auch: alle Bestandsrentner werden nichts von den Verbesserungen haben und somit von den damit verbundenen höheren Leistungen auf Dauer, das heißt lebenslang, abgekoppelt werden. Das neue Gesetzgebungsvorhaben und die damit verbundene Fortführung der aus Sicht der Bestandsrentner amputierten Reform des Erwerbsminderungsrentenrechts wurden bereist ausführlich behandelt in diesem Beitrag vom 3. September 2018: Stabilisierung und Verbesserung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung: Ein Gesetzentwurf und seine Untiefen am Beispiel der Erwerbsminderungsrente. Und die damit verbundenen Enttäuschungen bei den betroffenen Erwerbsminderungsrentnern sind auch Thema in der aktuellen Medienberichterstattung, so beispielsweise in einem kritischen Beitrag des Politikmagazins „Report Mainz“ (ARD) am 25.09.2018. Der nun erneut vorgesehene Abkoppelungsmechanismus, der zur Exklusion der Bestandsrentner führt, wurde bereits bei der letzten Reform 2017 kritisiert, vgl. dazu auch den Beitrag Wie weiter mit der Erwerbsminderungsrente? Die Bundesregierung will die verbessern, aber nur für die Zukunft und wieder nur in kleinen Schritten vom 15. Mai 2017.
Die von vielen Seiten beklagten niedrigen Erwerbsminderungsrenten resultieren zum einen natürlich aus der bis zum Renteneintritt absolvierten individuellen Erwerbsbiografie mit den daraus resultierenden Anwartschaften, denn die werden über eine der beiden Stellschrauben im System dann fortgeschrieben – also über die „Zurechnungszeit“, an der dann – wie auch jetzt wieder geplant – regelmäßig geschraubt wird (aber nur für Neufälle). Daneben müssen die für den vorzeitigen Rentenbezug vorgesehenen dauerhaften, also lebenslangen Abschläge von bis zu 10,8 Prozent berücksichtigt werden, von denen inzwischen fast alle erwerbsgeminderten Rentner betroffen sind. Deren Abschaffung für die Erwerbsminderungsrentner wird immer wieder von Kritikern gefordert, allerdings gibt es hier auf der politischen Ebene bislang keine Bewegung. Dabei wird als Verteidigung dieser erheblichen Kürzung der sowieso schon überschaubaren Rentenzahlbeträge darauf hingewiesen, dass man Anreize verhindern wolle, die Erwerbsminderungsrente als Option der Frühverrentung zu nutzen. Dazu schreibt die Arbeitnehmerkammer Bremen: »Das Argument, dass keine Anreize für einen Missbrauch der Erwerbsminderungsrente als Instrument zur Frühverrentung gesetzt werden dürften, geht fehl, denn dem Rentenbezug ist eine strenge Begutachtung durch ärztliches Fachpersonal im Dienst der Rentenversicherung vorgeschaltet.« Das werden wir gleich noch aufgreifen bei der Behandlung des Themas (Nicht-)Zugang zur Erwerbsminderungsrente. In der Politik wird bei der Nicht-Infragestellung der Abschläge immer wieder darauf hingewiesen, dass diese durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als zulässig anerkannt wurden. Gemeint ist ein Nicht-Annahmeschluss des BVerfG von mehreren Beschwerden gegen die Abschlagsregelung aus dem Jahr 2011, vgl. dazu Kürzung der Erwerbsminderungsrenten auch bei Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr verfassungsgemäß vom 18. Februar 2011. Aber natürlich ist die eigentliche Entscheidung, Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente vorzusehen, primär eine politische Entscheidung. Das BVerfG schreibt selbst rückblickend: »Bis zum 31. Dezember 2000 betrug der Zugangsfaktor bei Erwerbsminderungsrenten 1,0. Durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 wurde der Zugangsfaktor gekürzt.«
Die gesamte Auseinandersetzung bislang auch in diesem Beitrag bezieht sich auf die, die bereits Erwerbsminderungsrentner sind bzw. es sein werden. Aber wie stellt sich eigentlich der Zugang zu dieser Rentenleistung dar? Was wissen wir darüber? Für die Beantwortung dieser Frage bzw. zumindest für eine Annäherung kann man nun auf die Ergebnisse einer neuen Studie zurückgreifen:
➔ Patrizia Aurich-Beerheide, Martin Brussig und Manuela Schwarzkopf (2018): Zugangssteuerung in Erwerbsminderungsrenten. Study Nr. 377, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, September 2018
Eine Zusammenfassung wichtiger Befunde aus dieser Studie findet man in diesem Beitrag: Erwerbsminderung: Wenn die Kräfte nicht bis 67 reichen. Auch wenn der sozialpolitische Diskurs vor allem darum kreist, ob und wie man die Situation der Erwerbsminderungsrentner verbessert (oder eben nicht) – für viele beginnt mit dem Rentenantrag ein langwieriger bürokratischer und medizinischer Begutachtungsprozess – Ablehnungsbescheide, Widersprüche, neue ärztliche Untersuchungen und Klagen vor dem Sozialgericht inklusive. In der Studie ging es vor allem um die Frage, wie sich die Übergänge in Erwerbsminderungsrente in der Praxis vollziehen. Ein Fazit der Wissenschaftler lässt sich so zusammenfassen: »Das komplizierte System von „Schleifen, Rückverweisen und Querbezügen der Sozialversicherungsträger untereinander“ lässt sich nicht ohne Weiteres durch ein einfaches, schnelleres und gerechteres ersetzen. Zu unterschiedlich sind die Einzelfälle, zu verschieden die Ziele. Beispielsweise sind Reha-Maßnahmen und die anschließende Wiederaufnahme einer Beschäftigung aus Sicht der Rentenversicherung einer vorzeitigen Verrentung stets vorzuziehen – was die Betroffenen manchmal anders sehen.«
Ein wichtiger Aspekt ist der folgende Punkt: »Die „Renten wegen Erwerbsminderung und Altersrenten sowie die Arbeitslosenversicherung“ bilden „ein System kommunizierender Röhren“. Je nachdem, wie sich die Zugangshürden zu den verschiedenen Leistungen verändert haben, nutzten Erwerbsgeminderte in der Vergangenheit unterschiedliche Wege zum Ausstieg aus der Arbeitswelt. In Zukunft dürfte die Bedeutung der Erwerbsminderungsrente weiter zunehmen, weil die Regelaltersgrenze steigt und Frühverrentungsmöglichkeiten „verschlossen“ sind.«
Aktuell werden nur etwa 40 Prozent der beantragten Erwerbsminderungsrenten bewilligt. Jede zweite Erwerbsminderungsrente ist befristet. Das heißt, die Arbeitsfähigkeit wird zu einem späteren Zeitpunkt erneut überprüft. Das durchschnittliche Zugangsalter liegt bei 52 Jahren. Interessant ist der folgende Befund: Die Zahl der Bewilligungen schwankt regional stark. Dabei wird in der Studie auf ein durchaus erkennbares Muster hingewiesen: »Wo der Altersdurchschnitt der Bevölkerung hoch, die Arbeitslosigkeit ausgeprägt und die Zahl der Älteren im Job niedrig ist, bekommt ein größerer Teil der Rentenversicherten eine Erwerbsminderungsrente. Auf 1000 Versicherte kommen in Schwerin über sieben Erwerbsminderungsrenten, in Stuttgart nicht einmal drei.« Das ist natürlich eine erhebliche Streubreite.
Inwieweit wird das existierende System seinem Auftrag gerecht, Menschen mit eingeschränkter körperlicher oder psychischer Leistungsfähigkeit ein Leben ohne Erwerbsarbeit und übermäßige materielle Entbehrungen zu ermöglichen? Was passiert, wenn die Beteiligten, etwa die medizinischen Dienste der Arbeitsagenturen und der Rentenversicherung, zu verschiedenen Ergebnissen kommen? Welche Möglichkeiten haben die Antragsteller, ihre Interessen durchzusetzen und Fehlurteile von vermeintlichen Experten anzufechten? Für die Betroffenen sind das ganz zentrale Fragen. Deren konkrete Beantwortung durchaus den erst der noch vorhandenen Nerven kosten kann. Aber die Antworten darauf, die man der Studie entnehmen kann, sind durchaus differenziert und nicht einseitig: „Das gegliederte System ist in rechtlicher, organisatorischer und in alltagspraktischer Hinsicht außerordentlich komplex. Es ist nicht frei von Fehlanreizen und Dysfunktionalitäten. Es wäre aber grob übertrieben, würde man das Vorgehen der Organisationen und ihr Zusammenwirken als im Grunde willkürlich charakterisieren.“
Es spricht angesichts der Heterogenität der Fälle und der systemischen Besonderheiten der unterschiedlichen Institutionen für die Studie, dass dort nicht pauschalierend in die eine oder andere Richtung argumentiert wird, sondern bestehende und nur teilweise, aber niemals vollständig auflösbare Dilemmata benannt werden. Beispiel: »Zwar seien lange Wartezeiten ärgerlich und aufwendige Untersuchungen teuer, aber Zeit- und Kostendruck würden am Ende die Qualität der Gutachten verschlechtern. Auch die Frage, ob besser externe oder interne medizinische Gutachter zum Einsatz kommen sollten, lasse sich nicht eindeutig beantworten. Bei der Rentenversicherung angestellte Ärzte dürften weniger Kommunikationsprobleme mit der Verwaltungsebene haben, sie können aber nicht gleichzeitig Spezialisten für sämtliche Krankheiten sein. Meinungsverschiedenheiten und mit ihnen die im aktuellen System vorgesehenen Schlichtungs- und Widerspruchsprozesse seien unvermeidlich.«
Aber die Studie enthält auch konkrete Verbesserungsvorschläge:
Und ein Punkt, den die Verfasser der Studie zur Diskussion stellen, sei hier abschließend noch erwähnt – nicht nur, weil die Umsetzung darauf hinauslaufen würde, die fundamentale Veränderung der Absicherung der Invalidität. die 2001 vorgenommen wurde, wenigstens partiell wieder zurückzunehmen:
»Zu überlegen ist aber auch, die Schutzwirkung der Erwerbsminderungsrente zu stärken, indem der Verlust der Erwerbsfähigkeit als abzusicherndes Risiko stärker betont wird. Möglicherweise spielt das Lebensalter hier eine besondere Rolle: während eine berufliche Neuorientierung mindestens in der ersten Hälfte des Erwerbslebens, wahrscheinlich aber weit darüber hinaus, erwartet werden kann, gilt dies für das Ende des Erwerbslebens bzw. den Altersübergang nur eingeschränkt. Zudem sind die Chancen, am Ende des Erwerbslebens eine Beschäftigung in neuer Tätigkeit zu finden, gering. Es erscheint daher nicht abwegig, bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit das Einkommen bzw. den Einkommensverlust, den Beruf oder die hauptsächliche Tätigkeit zugrunde zu legen. Zudem werden auf diese Weise frühere Investitionen in die Qualifikation geschützt, was wiederum die individuelle „Investitionsbereitschaft“ erhöhen dürfte.« (Aurich-Beerheide et al. 2018: 330).
Es geht hier also um die Frage, ob man die Definition von Erwerbsunfähigkeit nicht weiter fassen sollte. Würden der erlernte Beruf und der potenziell zu erzielende Lohn wieder eine Rolle spielen, würde die Erwerbsminderungsrente „frühere Investitionen in die Qualifikation“ versichern und ihre Schutzfunktion besser erfüllen (können). »Sowohl die Sicherungsfunktion der Erwerbsminderungsrente als auch die Möglichkeiten für eine Erwerbsintegration von erwerbsgeminderten Personen zu stärken« – diesen Widerspruch kann man besser bearbeiten als das im bestehenden System der Fall ist.