Und jährlich grüßen die Zuckungen der Erregungsgesellschaft. Einige Anmerkungen zum Thema Kindergeld, „wir“ in Deutschland und „die“ im Ausland

Es gibt unbestreitbar einen Vorteil, wenn man älter wird: man kann sich erinnern an Dinge, die einem als aktuell verkauft werden, die aber – wenn überhaupt – nur ein wiedergekäutes Spektakel darstellen. Diese Tage kann man dieses Muster wie im Lehrbuch studieren am Beispiel der „Kindergeld-Debatte“, genauer: der Aufregung angesichts von solchen Meldungen: »Deutschland zahlt immer mehr Geld für Kinder im EU-Ausland. Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link sieht den sozialen Frieden gefährdet«, so beispielsweise dieser Artikel unter der Überschrift Immer mehr Kindergeld ins Ausland – Link schlägt Alarm. Mehrere Oberbürgermeister schlagen Alarm und sprechen von einer massiven Zunahme einer gezielten Migration in das deutsche Sozialsystem. „Die Bundesregierung verschläft dieses Problem, sie muss endlich was dagegen tun, dass es Armutsflüchtlinge in Europa gibt“, wird Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) zitiert.

Und bei der sich nun entwickelnden Inszenierung in den Medien dürfen Zahlen natürlich nicht fehlen: »Die Zahl ausländischer Kindergeldempfänger ist nach Angaben der Bundesregierung stark angestiegen. „Im Juni 2018 wurde für 268.336 Kinder, die außerhalb von Deutschland in der Europäischen Union oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben, Kindergeld gezahlt“, sagte ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums. Das ist eine Zunahme um 10,4 Prozent. Ende 2017 lag die Zahl noch bei 243.234 Empfängern, 2016 bei 232.189.« Und natürlich darf das Geld nicht fehlen: »Allein 2017 wurden 343 Millionen Euro an Kindergeld auf Konten im Ausland überwiesen.« Wahnsinn, so viel Geld, werden viele denken – und es wird immer „schlimmer“, weil mehr. 

Nun könnte man schon an dieser Stelle in die Detailkritik einsteigen und darauf hinweisen, dass der Vergleich der Kinder im Juni 2018 mit denen im Dezember 2017 und dem daraus errechneten Anstieg von mehr als 10 Prozent – nett formuliert – methodisch fragwürdig ist, denn die Zahlen zeigen saisonale Schwankungen und im Juni sind sie immer höher als im Dezember eines Jahres. Wenn man korrekt die Juni-Werte miteinander vergleicht, dann kommt man auf einen geringeren Anstieg von 7 Prozent. Aber immer noch 7 Prozent Zunahme, wird der eine oder andere einwerfen – aber wie so oft sagt das wenig bis gar nichts, wenn man nicht die Relationen berücksichtigt. Dass das helfen kann, zeigt dieser Hinweis von Dietrich Creutzburg in seinem Artikel Was hinter dem Kindergeld an ausländische Empfänger steckt:

»Als wichtigste Erklärung für die steigende Zahl begünstigter Kinder im Ausland nennt die Bundesagentur, dass mit der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und der hohen Personalnachfrage mehr EU-Ausländer hier arbeiten als zuvor. Dies zeigt sich besonders im Fall Rumäniens und Bulgariens, für die seit 2013 Freizügigkeit gilt: Die Zahl der Beschäftigten aus diesen Ländern stieg seit dem Jahr 2012, dem letzten Jahr vor der Öffnung, von 85.000 auf 456.000 zum Jahresende 2017. Die Zahl rumänischer und bulgarischer Kinder, für die Kindergeld ins Ausland überwiesen wird, stieg von 40 auf mehr als 23.000.«

Und auch für die letzten Jahren sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus Osteuropa stieg von 2015 bis 2017 um 295.000 auf knapp 1,2 Millionen. Auch der Brexit führt zu einer Verlagerung von osteuropäischen Arbeitskräften Richtung Deutschland.

Aber um diese notwendigen Differenzierungen soll es hier primär gar nicht gehen, sondern um den Hinweis, dass wir erneut Zeugen werden eines regelmäßig gerne aufgewärmten Themas mit Erregungspotenzial, nur dass die meisten das schon vergessen haben, wenn es neu aufgerufen wird. Und wenn Ältere sich daran erinnern, dann ist es immer gut, wenn man das auch belegen kann, weil man Buch geführt hat, also eine Art Tagebuch. Und ein Blog wie dieser ist ja eigentlich nichts anderes. Wer also einen Beleg dafür haben möchte, dass wir in diesen Tagen mit einem „Murmeltier“-Phänomen konfrontiert werden, der kann sich gerne die folgenden ausgewählten Blog-Beiträge aus den Jahren 2013 bis 2018 zu dem Thema anschauen, in der man alle Meinungen und auch die korrigierenden Fakten finden kann, die für die aktuelle Debatte erforderlich sind:

➔ Wie das Osteuropäer-Bashing in Großbritannien mit Ein-Euro-Jobs in Duisburg und dem Kindergeld in Offenbach zusammenhängt vom 1. Dezember 2013

➔ Brandstifter unterwegs. Osteuropäische Saisonarbeiter in der Druckerpresse der Stimmungsmache kurz vor den Europawahlen. Und die Zahlen werden gebogen, bis sie passen vom 13. Mai 2014

➔ Der EuGH und das Kindergeld: In Großbritannien gibt es das nur für EU-Bürger, die rechtmäßig auf der Insel existieren. Und in Deutschland gibt es es eine Wohnsitzfiktion für Nicht-Anwesende vom 17. Juni 2016

➔ Schrottimmobilien inmitten mehrdimensionaler Geschäftsmodelle rund um die Armut, mit Zuwanderern und – auch – durch Zuwanderer vom 12. September 2016

➔ Kein deutsches Kindergeld mehr für EU-Ausländer, die hier und deren Kinder dort sind? Zur Ambivalenz einer (nicht-)populistischen Forderung vom 19. Dezember 2016

➔ Wenn „unser“ Kindergeld ins Ausland fließt – dann kann es sich nur um „EU-Irrsinn“ handeln. Oder ist es wieder einmal komplizierter? vom 27. März 2018

Same procedure as every year, könnte man also bilanzieren.

Und erneut steht die aktuelle Debatte im Kontrast zu den realen Relationen. Der Blick auf einige wenige Zahlen mag das verdeutlichen: Ende 2017 gab es insgesamt 14,97 Mio. Kinder, für die Kindergeld gezahlt wurde. Von diesen gut 15 Mio. Kindern lebten 243.234 im Ausland – das sind 1,6 Prozent der Kinder im Kindergeldbezug. Bei den Ausgaben stellen sich die Relationen so dar: 2017 wurden insgesamt 35,9 Mrd. Euro für das Kindergeld ausgegeben. 343 Mio. Euro davon wurden auf Konten im Ausland überwiesen. Das sind 1 Prozent der Gesamtausgaben.

Die Abbildung verdeutlicht die Entwicklung der Zahl der Kinder im Kindergeldbezug, für die das Geld aus Konten im europäischen Ausland überwiesen wurde sowie die Ausgaben für diese kleine Untergruppe. Aber die Zahlen müssen mit Hintergrundwissen eingeordnet werden. Man kann beispielsweise erkennen, dass die Ausgaben, die ins Ausland geflossen sind, von 2016 auf 2017 abgenommen haben, obgleich die Zahl der Kinder im Kindergeldbezug außerhalb Deutschlands leicht zugenommen hat. Wie ist das zu erklären?

Nach Angaben der BA könnte dies auf einem Sondereffekt beruhen, weil 2016 verstärkt Gelder für zurückliegende Jahre überwiesen wurden, so dieser Erklärungsansatz. Hinzu kommt eine bereits im Gefolge der kritischen Debatten über den Kindergeldbezug in den vergangenen Jahren bereits vollzogene gesetzliche Änderung, über die bereits im Beitrag Wenn „unser“ Kindergeld ins Ausland fließt – dann kann es sich nur um „EU-Irrsinn“ handeln. Oder ist es wieder einmal komplizierter? vom 27. März 2018 berichtet wurde: Umgesetzt wurde bereits die Einschränkung der rückwirkenden Bezugsdauer des Kindergeldes. Seit August 2017 kann das Kindergeld rückwirkend für nur noch sechs Monate bezogen werden und nicht mehr für bis zu vier Jahre, wie dies zuvor möglich war.

Außerdem hat es zwischenzeitlich eine deutliche Anhebung des Kindergeldes in Polen gegeben. Vgl. dazu auch den Beitrag Polen irritiert über Debatte um Auslandszahlungen: Man muss wissen – »seit drei Jahren gibt es auch in Polen Kindergeld, das nicht unerheblich ist. Das sind monatlich 120 Euro pro Kind. Bei Bedürftigen werden die ab dem ersten Kind gezahlt, bei Reicheren ab dem zweiten Kind. Der Abstand zu Deutschland ist also gar nicht mehr so groß.« Und das Kindergeld im EU-Ausland wird auf die deutsche Kindergeldzahlung angerechnet.

Und bei der Bewertung der 1 Prozent der Ausgaben und der 1,6 Prozent der Kinder beim Thema Kindergeld ins Ausland muss man nun in aller Deutlichkeit hervorheben, dass die allermeisten dieser Zahlungen nichts mit Missbrauch oder Betrug zu tun haben, sondern völlig rechtmäßig geleistet werden.

Die meisten Kindergeldzahlungen, die auf Konten im europäischen Ausland überwiesen werden, gehen nach Polen. Aber bereits auf Platz 2 der Liste sind deutsche Staatsangehörige, die für ihre im EU-Ausland lebenden Kinder Kindergeld beziehen.

In der aktuellen Debatte stehen besonders die Rumänien und Bulgaren im Mittelpunkt, ausgelöst auch durch den Vorstoß des am Anfang dieses Beitrags bereits zitierten Duisburger Oberbürgermeisters Sören Link: „Wir haben derzeit rund 19.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Duisburg, Sinti und Roma. Vor knapp sechs Jahren, 2012, hatten wir erst 6.000 in Duisburg“, so wird der Duisburger Stadtchef zitiert. Fürths OB Thomas Jung (SPD) berichtete auch von großen Problemen, als ihn jüngst SPD-Chefin Andrea Nahles besuchte. Städte mit niedrigen Mieten lockten gerade Menschen aus Osteuropa an. Und der Duisburger Oberbürgermeister legt den Finger auf eine offene Wunde, über die bereits seit Jahren – Stichwort „Problemhäuser“ – gerade aus den Ruhrgebietsstädten berichtet wird:

»Link sprach von kriminellen Schleppern, die gezielt Sinti und Roma nach Duisburg bringen würden, ihnen eine häufig heruntergekommene Wohnung verschafften, damit sie einen Wohnsitz zum Bezug des Kindergeldes hätten. „Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen. Das regt die Bürger auf“, kritisierte der SPD-Politiker.«

Um das hier in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn es Missbrauch und Betrug beim Kindergeld gibt, dann gehören die mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt und bekämpft. Die Problematik der auf einige Städte hoch konzentrierten (und damit aber auch begrenzten) Armutszuwanderung hängt zusammen mit strukturellen Voraussetzungen, also vor allem dem Vorhandensein von billigen bzw. leerstehenden Wohnraum aufgrund des Wegzugs bzw. der Schrumpfung, der dann von den Zuwanderern genutzt werden kann. Und wenn von denen eine kritische Masse erreicht wird, dann erhöht sich die Gefahr und Wahrscheinlichkeit, dass sich Strukturen der organisierten Kriminalität herausbilden, die ihre illegalen Geschäftsmodelle implementieren. Darüber wird doch schon seit langem rund um die Ruhrgebietsstädte berichtet und diskutiert. Vgl. dazu nur beispielhaft den Beitrag Schrottimmobilien inmitten mehrdimensionaler Geschäftsmodelle rund um die Armut, mit Zuwanderern und – auch – durch Zuwanderer vom 12. September 2016. Hier haben wir doch wirklich kein Erkenntnisproblem, sondern eher ein Staatsversagensproblem. Wenn man weiß oder relativ sicher vermutet, dass sich Strukturen organisierter Kriminalität herausgebildet haben, dann muss man da massiv reingehen mit dem Instrumentarium des Rechtsstaats, also der Polizei, der Steuerfahndung und anderer staatlicher Institutionen. Man muss die Strukturen unter Druck setzen und aufzulösen versuchen.

Aber man kann doch nicht ernsthaft für solche Vorgänge hunderttausende rechtschaffende Arbeitnehmer in Kollektivhaftung nehmen, die hier ihre Steuern zahlen und Sozialabgaben leisten. Bleiben wir bei den Bulgaren und Rumänen, die jetzt wieder einmal als Armutszuwanderer etikettiert werden (man sollte sich über derartige Klischee-Bildungen wirklich mal einen Kopf machen, denn in der breiten Bevölkerung werden diese beiden Länder nur noch mit hochproblematischer Armutszuwanderung konnotiert – wer aber berichtet in den Medien über die vielen tausend Ärztinnen und Ärzte aus diesen beiden Ländern, die dort ausgebildet wurden und nun in deutschen Krankenhäusern Dienst schieben?)

Auch hier lohnt ein Blick auf die ganz große Mehrheit der Fälle: »Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ergeben allerdings ein Bild, das so dramatisch gar nicht ist. Demnach leben von 138000 Kindern rumänischer Eltern, für die Kindergeld bezahlt wird, derzeit nur knapp 19.000 nicht in Deutschland – der Großteil von 119.000 aber ist mit den Eltern hier. Noch weniger lässt sich eine massenhafte Abwesenheit der Kinder bei Bulgaren nachweisen. Hier sind es 84.000 Kinder insgesamt, von denen gut 77.000 in Deutschland leben und nur 6700 in Bulgarien oder einem anderen EU-Land. Fast zwei Drittel der 236.000 ins EU-Ausland fließenden Kindergeldfälle entfallen dagegen auf drei Nachbarländer: Polen (117.000), Tschechien (21.000) und Frankreich (16.000). Man darf annehmen, dass es sich hier zumeist um Pendler handelt, die in Deutschland einen Arbeitsplatz und auch einen Wohnsitz haben, aber ohne Familie hier sind.«

Und mit Blick auf die größte hier interessierende Gruppe, die Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit, berichtet der Polen-Korrespondent Florian Kellermann im Deutschlandfunk: »Sie lassen ihre Kinder in der Heimat, auch aus sozialen Gründen. Die Kinder sollen Polnisch lernen, häufig gehen sie schon zur Schule in Polen und sollen nicht herausgerissen werden aus ihrem Umfeld. Und häufig bleibt auch ein Elternteil, das nicht erwerbstätig ist, mit den Kindern in Polen, wo es zum Beispiel schon ein Haus gibt, wo die Großeltern bei der Erziehung helfen können, wo man also großzügiger leben kann als in Deutschland.« Und Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit, hatte bereits im April dieses Jahres in einem Interview beispielhaft ausgeführt: »Gerade unter den Polen gibt es viele Wochenpendler, also Personen, die während der Woche in Deutschland arbeiten und deren Familien zu Hause leben. Das hat mit der geographischen Nähe zu tun.«

Wir sprechen hier also in weit über 90 Prozent der Fälle von Menschen, die hier in Deutschland arbeiten und nicht nur zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung beitragen, sondern auch Steuern und Abgaben zahlen. Und die oftmals in Branchen arbeiten, die doch ohne diese Arbeitskräfte aufgeschmissen wären – bzw. die ihre schlechten Entlohnungsstrukturen eben auch nur deshalb aufrechterhalten können, weil es solche Leistungen wie das Kindergeld gibt, die in das individuelle Arbeitsangebotskalkül eingehen bzw. das beeinflussen. Man denke hier auch an die vielen „Billigkräfte“ aus Osteuropa, die in Deutschland in den Privathaushalten in der Altenpflege unterwegs sind.

Und man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das Kindergeld kein „Geschenk“ des Staates ist und auch keine Sozialtransferleistung wie Hartz IV. Das Kindergeld dient vor allem der verfassungsrechtlich garantierten Freistellung des Existenzminimums des Kindes und ist damit Teil des Familienleistungsausgleichs in Deutschland. Deshalb bekommt man ja auch Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz. Weniger als die Hälfte des gezahlten Kindergeldes dient heute tatsächlich der Familienförderung. Verkauft wird das Kindergeld allerdings, als würden Familien vom Staat reich beschenkt.

So bleibt am Ende noch ein Blick auf die geforderte „Indexierung“ des Kindergeldes, also die Abstufung der Leistungshöhe des ins Ausland gezahlten Kindergeldes nach den Lebenshaltungskosten in den anderen Ländern. Generell kann man dieses Unterfangen angesichts der in diesem Beitrag dargelegten Größenordnung als fragwürdig bezeichnen. Auf alle Fälle steht die politische Instrumentalisierung derzeit in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Gegebenheiten: »Der parlamentarische Geschäftsführer der CSU im Bundestag, Stefan Müller, sprach von „zügellosen Kindergeldtransfers“ ins Ausland, mit denen „endlich Schluss“ gemacht werden müsse. Als Rezept dafür empfahl er, die Höhe des Kindergeldes den Lebenshaltungskosten am Wohnort der Kinder anzupassen«, so Albert Funk und Rainer Woratschka in ihrem Artikel CSU dringt auf Konsequenzen bei Kindergeldtransfers. Aber selbst wenn man sich über die doch mehr als überschaubaren Größenordnungen hinwegsetzen will – geht das überhaupt? »Die EU-Kommission lehnt eine Neuregelung von Kindergeldzahlungen ins europäische Ausland ab. Eine Anpassung dieser Zahlungen an die Lebenshaltungskosten am Wohnort des Kindes sei wegen des Diskriminierungsverbots nirgendwo im EU-Recht vorgesehen, sagte eine Kommissionssprecherin in Brüssel.«

Dazu gibt es nun einen interessanten Beitrag von Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA), der unter der Überschrift Was ist Gleich­be­hand­lung? veröffentlicht wurde. Er setzt sich mit der auch in diesen Tagen immer wieder vorgetragenen Argumentation auseinander, dass Deutschland oder andere Länder (wie beispielsweise Österreich) auch wenn sie wollten, gar nicht eigenständig eine solche Indexierung vornehmen könnten, weil das gegen europarechtliche Bestimmungen verstoßen würde.

Auf den ersten Blick trifft die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 eine klare Aussage, wenn sie in Art. 67 schreibt, dass der Mitgliedstaat, in dem ein EU-Arbeitnehmer tätig ist, für dessen Kinder, die im Ausland leben, solche Leistungen zahlen muss, „als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.“ Eine Schlussfolgerung daraus: Man müsste zuerst die Verordnung ändern, wenn man die Kindergeldhöhe von den Lebenshaltungskosten im Aufenthaltsstaat abhängig machen will. »Dasselbe sagt regelmäßig die EU-Kommission und auch die meisten Spezialisten des Sozialrechts in Deutschland sind der Meinung, dass eine Reform nur vom Unionsgesetzgeber beschlossen werden könnte.«

Aber Thym sieht das anders: »Bundesregierung, Kommission und Sozialrechtler haben gute Gründe auf ihrer Seite, wenn sie den zitierten Art. 67 so lesen, dass dieser eine gleiche Leistungshöhe vorgibt. Dennoch ist die Rechtslage nicht eindeutig, weil der EuGH die Verordnung zuletzt restriktiv handhabte.« Und er baut seine Argumentation für die Möglichkeit eines nationalen Alleingangs so auf:

»In mehreren Urteilen betonte der EuGH, dass die Koordinierungsverordnung nur regelt, welches Land zuständig ist, nicht jedoch die Voraussetzungen für bestimmte Sozialleistungen harmonisiert. Juristisch formuliert geht es also um Kollisionsnormen, die im Sinne von Rechtsgrundverweisungen das Sozialrecht eines Landes für anwendbar erklären, nicht aber die Bedingungen vorschreiben, wann und wie eine Leistung zu gewähren ist.
Auf dieser Grundlage erklärte der EuGH wenige Wochen vor dem Brexit-Referendum eine britische Regelung für rechtmäßig, die das Kindergeld an den gewöhnlichen Aufenthalt geknüpft hatte – und wies damit eine Klage der Kommission als unbegründet zurück. Bereits zuvor hatte der Gerichtshof den Sozialleistungsanspruch von Unionsbürgern eingeschränkt, obwohl viele Expertinnen und Experten gemeint hatten, dies verstoße eindeutig gegen die Regeln der Koordinierungsverordnung.
Gewiss betreffen all diese Urteile unterschiedliche Sachverhalte und man kann sie nicht eins zu eins auf die Diskussion um das Kindergeld übertragen. Dennoch zeigen sie, dass der EuGH gerade bei den Sozialleistungen zuletzt großzügiger war. Hiernach kann man argumentieren, dass auch Art. 67 „nur“ ein Gleichbehandlungsgebot aufgibt. Wenn dem so wäre, könnte ein nationaler Alleingang erfolgreich sein.«

Das heißt aber nicht, dass der Autor für eine Indexierung ist: »Unabhängig vom Recht sollte der öffentliche Diskurs aber aufpassen, dass er die Kindergeldfrage nicht zu einseitig diskutiert … So ist der Missbrauch nur ein Grund, warum die Kindergeldzahlungen zunahmen. All die Debatten um Flüchtlinge verdecken bisweilen, dass die Bundesrepublik derzeit eine massive Zuwanderung aus europäischen Ländern erfährt. Allein im letzten Jahr zogen rund 400.000 EU-Bürger mehr nach Deutschland als fortzogen. Seit Anfang des Jahrzehnts erhöhte sich die Gesamtzahl von 2,6 auf derzeit rund 4,7 Millionen. Da ist es ganz normal, dass mehr Kindergeld gezahlt wird. Die meisten Unionsbürger sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, zahlen Steuern und erfüllen, etwa in der Pflege, nützliche Aufgaben.«

Und man sollte eines nicht vergessen – wenn man die Kindergeldzahlungen für die relativ gesehen wenigen Kinder, die oftmals aus verständlichen Gründen im EU-Ausland zu Hause geblieben sind, absenkt, dann kann das „ungeplante Folgen“ des Handelns mit sich bringen. Dafür bringt Thym ein Beispiel:

»Als die sozialliberale Koalition im Herbst 1973 den sogenannten Anwerbestopp erklärte, blieben viele Gastarbeiter – anders als ursprünglich geplant – im Land, der Spiegel titelte aufgeregt: „Gettos in Deutschland“. Und so ersann die Bundesregierung indirekte Anreize, um die Zuwanderung weniger attraktiv zu machen. Anfang 1975 trat eine neue Kindergeldregelung in Kraft, wonach man für das erste Kind genau 50 DM erhielt, aber nur 10 DM, wenn das Kind im Ausland lebte. Doch die Maßnahme ging nach hinten los, denn für viele der Gastarbeiter war das geringere Kindergeld nur ein Grund, die Familie nachzuholen.
Die Wirkung könnte dieselbe sein, wenn man heute das Kindergeld an die Lebenshaltungskosten des Wohnsitzes koppelte, wie es die Bundesregierung derzeit auf europäischer Ebene plant. Wenn für Kinder in Bulgarien weniger gezahlt würde, könnte man diese nach Deutschland holen. Rechtlich wäre das problemlos möglich, denn für EU-Arbeitnehmer besteht ein privilegierter Familiennachzug. Nicht nur Medikamente haben manchmal unbeabsichtigte Nebenwirkungen, auch Politik hat sie.«