»Die Diskussion um Sozialleistungen für EU-Ausländer ist neu entfacht: Saisonarbeiter kassieren Kindergeld, obwohl ihr Nachwuchs gar nicht in Deutschland lebt … Der Streit um das Thema ist voll entbrannt. CSU-Abgeordnete wollen die Regeln für den Kindergeld-Bezug von EU-Ausländern ändern – damit Saisonarbeiter, deren Nachwuchs gar nicht in Deutschland lebt, kein Geld mehr bekommen. „Falsche Anreize nach Deutschland zu kommen, müssen dringend vermieden werden“, sagte CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt.«
Moment – ist das nicht eine Forderung des SPD-Vorsitzenden, Vizekanzlers und Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel, der gerade überall damit zitiert wird? Schon richtig, aber das Zitat stammt aus dem Artikel Kindergeld und Hartz IV: So viel Geld kosten uns die Zuwanderer aus der EU vom 13. Mai 2014, der damals vom „Focus“ veröffentlicht worden ist. Die Wiederauferstehung der Debatte in den letzten Tagen des Jahres 2016 wurde tatsächlich von Sigmar Gabriel besorgt: »“Es gibt kein Recht auf Zuwanderung in Sozialsysteme“: SPD-Chef verlangt eine Kürzung des Kindergelds für EU-Ausländer, wenn deren Kinder nicht in Deutschland leben«, so wird er in diesem Artikel zitiert: Weniger Kindergeld für EU-Ausländer mit Familie im Heimatland. Etwas genauer: Wenn die Kinder nicht in Deutschland lebten, sondern in ihrer Heimat, „sollte auch das Kindergeld auf dem Niveau des Heimatlandes ausgezahlt werden“. Und Gabriel warte „seit Monaten“ darauf, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) einen Vorschlag für eine solche Kürzung des Kindergeldes vorlege. Es gebe in manchen Großstädten Deutschlands „ganze Straßenzüge mit Schrottimmobilien“, in denen Migranten nur wohnten, weil sie für ihre Kinder, die gar nicht in Deutschland lebten, Kindergeld auf deutschem Niveau bezögen. „Es gibt in Europa ein Recht auf Zuwanderung in Arbeit, aber kein Recht auf Zuwanderung in Sozialsysteme ohne Arbeit“, sagte der Vizekanzler weiter.
Man kann unschwer erkennen, dass Gabriel zwei Stoßrichtungen zu verfolgen versucht: Zum einen will er den Ball des Nicht-Handelns dem CDU-geführten Bundesfinanzministerium zuspielen, um dieses und damit die Union in die Haftung zu nehmen. Gleichzeitig versucht er, (nicht nur) Vorbehalte in der Bevölkerung zu adressieren.
In dem Artikel Regierung will Kindergeld-Regel für EU-Ausländer verschärfen wird über Gabriels Positionierung so berichtet:
»Gabriel wird nach Gesprächen mit Bürgermeistern betroffener Großstädte unter anderem im Ruhrgebiet aktiv: Menschenhändler lockten vor allem Bürger aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland, sagt Gabriel, sie ließen sie in abbruchreifen Häusern wohnen – und kassierten dafür einen Teil des Kindergelds, das die Zuwanderer für ihre Kinder im Heimatland beziehen.
Die Zuwanderer gingen teilweise auch auf den „Arbeitsstrich“, dienten sich jeden Morgen illegal als Tagelöhner an. „Diesen Sumpf müssen wir trockenlegen. Schlepper dürfen nicht weiter die Einwanderung in Sozialsysteme organisieren“, legte Gabriel am Montag nach. „Am Ende kriegen ja nicht die Kinder in Rumänien und Bulgarien das Geld, sondern diejenigen, die hier Schlepperorganisationen bilden und Menschen in solch unwürdigen Zuständen leben und illegal arbeiten lassen.“«
Damit wird eine Verbindungslinie gezogen zu einem Thema, das beispielsweise in diesem Blog-Beitrag vom 12. September 2016 bearbeitet worden ist: Schrottimmobilien inmitten mehrdimensionaler Geschäftsmodelle rund um die Armut, mit Zuwanderern und – auch – durch Zuwanderer.
Nun muss man natürlich genauer prüfen, ob denn die Annahmen, die hier offensichtlich gemacht werden, auch in der Realität zutreffen. Ein isolierter Blick auf die Relationen scheint einige Argumente zu Tage zu fördern, die den Ansatz von Gabriel stützen:
»Das Kindergeld ist in Deutschland mit monatlich 190 Euro für das erste und zweite Kind im EU-Vergleich sehr hoch. In Bulgarien etwa beträgt das monatlich Kindergeld pro Kind 19 Euro, in Rumänien je nach Alter 18,50 bis 40 Euro, in Polen 21 bis 30 Euro, in der Slowakei 114 Euro, in Frankreich 120 Euro ab dem zweiten Kind, in Österreich 105 Euro, in Schweden 120 Euro.
Das deutsche Kindergeld ist vor allem für Bürger aus Osteuropa sehr attraktiv, weil dort das Einkommensniveau viel niedriger ist: Mit der Zahlung für zwei Kinder liegt man in Rumänien schon nahe am Durchschnittsverdienst von 440 Euro.«
Aber ist es wirklich so, dass man als Eltern oder als Elternteil nach Deutschland kommt, nur um das Kindergeld zu kassieren und davon auch noch „Schlepper“ zu finanzieren? Es mag diese Fälle geben, realistisch erscheint hingegen eher ein „Kombi-Modell“, das neben dem Kindergeldbezug vor allem auf die Ausbeutung der Arbeitskraft bzw. den Zugang zu Hartz IV-Leistungen über eine (teilweise fingierte) Beschäftigung setzt, da ist dann mehr zu holen – vor allem für die Auftraggeber und Ausbeuter hier in Deutschland (vgl. dazu auch die Hinweise in dem Beitrag vom 12.09.2016).
Zur Einordnung der Problemstellung gehört auch ein Blick auf die nackten Zahlen, in diesem Fall die Ausgaben und die Relationen, über die wir hier sprechen.
Insgesamt gibt der Bund jährlich rund 32 Milliarden Euro für das Kindergeld aus. Deutschland zahlt inzwischen für 188.000 im Ausland lebende Kinder von EU-Ausländern Kindergeld. Wenn der Bund das volle Kindergeld für alle 188.000 Kinder bezahlen würde, kostete das rund 430 Millionen Euro im Jahr – das wären 1,3 Prozent. Aber: Die Summe ist in Wirklichkeit kleiner, weil die Kindergeldzahlungen angerechnet – also vom deutschen Anteil abgezogen – werden, die das Heimatland leistet. Die FAZ berichtet von einer etwas anderen Zahl: Deutschland zahlt 470 Millionen Kindergeld an EU-Ausländer. Interessant in diesem Zusammenhang auch die Zahl der betroffenen Kinder, um die es hier geht:
»Laut Bundesagentur für Arbeit zahlte Deutschland im November Kindergeld an 185.149 im EU-Ausland lebende Kinder, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Das berichtet die „Bild“-Zeitung unter Berufung auf Zahlen der Bundesagentur. … Im Dezember 2015 lag die Zahl der Kinder demnach noch bei rund 120.000 – ein Anstieg von 54 Prozent binnen elf Monaten.«
Warum ist dann aber bisher nicht nichts geändert worden? Das am Anfang dieses Beitrags vorgetragene Zitat hat ja verdeutlicht, dass das, was jetzt als „Gabriel-Vorstoß“ etikettiert wird, schon seit Jahren immer mal wieder an die Oberfläche durchstößt?
Wie so oft ist es die EU und das EU-Recht. Eine EU-weite Regelung von 2004 besagt, dass alle EU-Bürger Anspruch auf die Familien-Sozialleistungen des Landes haben, in dem sie gemeldet oder steuerpflichtig sind. Eine Öffnungsklausel war auf britisches Betreiben für den Fall geplant, dass Großbritannien nach dem Brexit-Referendum in der EU bleibt – daraus wird nun nichts. Die EU-Kommission hat vergangene Woche erklärt, sie wolle die Kindergeldregeln nicht ändern.
Aber Gabriel und das Bundesfinanzministerium sind gar nicht weit voneinander entfernt, wenn man beispielsweise die Ausführungen von Ludger Schuknecht, seines Zeichens Chefökonom und Abteilungsleiter im Bundesfinanzministerium, heranzieht, der in einem Gastbeitrag für die FAZ unter der Überschrift Fehlanreize für EU-Zuwanderer Ende November 2016 geschrieben hat:
»Auch beim Kindergeld gibt es Herausforderungen, denen man mit einem vorliegenden Vorschlag begegnen könnte. In Anlehnung an den auf Initiative Großbritanniens im Februar ausgehandelten EU-Gipfelbeschluss zum Verbleib in der EU sollte das Kindergeld für im Ausland wohnende Kinder angepasst werden, wenn dort die Lebenshaltungskosten niedriger sind. So entstünde gar nicht erst die Versuchung, die eigenen Kinder zum „Geschäftsmodell“ zu machen. Es wäre ein guter Zeitpunkt, zu prüfen, ob europäisches und nationales Recht hier noch zeitgemäß sind.«
Aber offensichtlich ist das nur eine Position im Finanzministerium, ansonsten müssen dort erhebliche Bedenken existieren (und wahrscheinlich richtet sich der Vorstoß Gabriels gegen diese Bedenkenträger, die bislang weiterführende Aktivitäten blockiert haben). So kann man dem Artikel Finanzministerium gibt Gabriels Vorstoß keine Chance entnehmen: Eine Neuregelung müsste von der EU-Kommission ausgehen, sagte ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums. „Es ist schwierig, das im nationalen Alleingang zu machen.“ Wenn das Europarecht dem nicht entgegenstehe, hätte man die Regelung auf nationaler Ebene längst modifiziert, wird ein Sprecher des Finanzministeriums zitiert. „Es nützt nichts, wenn wir etwas auf den Weg bringen, was dann der EuGH kassiert.“ Skeptiker im Ministerium verweisen auf das Desaster mit der Autobahn-Maut für Ausländer, das die Union ausgelöst hatte mit dem Wahlversprechen, kein deutscher Autofahrer werde stärker belastet. Die Maut erwies sich als nicht EU-konform, wurde höchstrichterlich gestoppt und war Gegenstand jahrelangen Streits mit der Kommission in Brüssel.
Und es wurde schon darauf hingewiesen, dass erst in der vergangenen Woche die EU-Kommission bekräftigt hat, nichts zu ändern und an der vom Europäischen Gerichtshof bestätigten Regelung aus dem Jahr 2004 festhalten zu wollen (Artikel 67 der EU-Regelung 883/2004).
Dabei wird auch im Bundesfinanzministerium ein Modell gesehen, das in Gabriels Richtung geht: Das Kindergeld sollte sich nach den Lebenshaltungskosten des jeweiligen Landes richten. Dafür sollte für jedes EU-Land ein Lebenshaltungsindex erstellt werden.
Allerdings kann auch an dieser Stelle der Blick auf die Relationen hilfreich sein: Es wurde bereits zitiert, dass wir derzeit von 188.000 nichtdeutschen Kindern, die im EU-Ausland leben und für die der Bund im November 2016 Kindergeld gezahlt hat, ausgehen müssen. Aber wie verteilen sich diese Kinder? Es müssten ja viele in Rumänien und Bulgarien sein, den beiden Armenhäusern der EU. Dazu erfahren wir:
»91.000 dieser Kinder, also knapp die Hälfte, leben in Polen, 17.000 in Frankreich. Die drittgrößte Gruppe stellt mit 15.000 Kindern Rumänien, in Bulgarien wird für 5600 Kinder deutsches Kindergeld gezahlt.«
Und dann kommt ein wichtiger Satz: In wie vielen Fällen es dabei um klaren Missbrauch geht, ist unklar – überwiegend dürften die Eltern in Deutschland einer regulären Arbeit nachgehen.
Und man könnte an dieser Stelle mal eine ganz zynische Rechnung aufmachen, gerade angesichts des hohen Anteils polnischer Kinder. Wie viele der Polen, die für ihre Kinder Kindergeld beziehen, leben hier in Deutschland und arbeiten nicht? Wie viele Polen arbeiten beispielsweise als Haushalts- und Pflegekräfte in deutschen Familien? Und bei wie vielen wird dann die Kindergeldleistung mit eingespreist in den Lohn, den sie hier bekommen und der so niedrig bzw. „günstig“ ist, dass er von den deutschen Haushalten finanziert werden kann? Nur mal so als Hinweis, dass die Wirklichkeit wesentlich grauer daherkommt als sich das die Schwarz-Weiß-Denker so vorstellen.
Und selbst wenn wir mal von Missbrauchsfällen ausgehen, die es geben mag, wenn auch angesichts der Zahlen in einer immer noch sehr überschaubaren Größenordnung: Man muss dann auch mögliche Umgehungsstrategien in Rechnung stellen. Denn wenn die Kindergeldzahlungen abgesenkt werden – was spricht dagegen, dass die Eltern, denen es wirklich um das Geld geht, die Kinder nach Deutschland mitnehmen (was ja auch heute schon in den Städten, die mit der „Armutszuwanderung“ zu tun haben, beobachtet werden kann)?
Interessanterweise gibt es die gleiche Diskussion über eine Kürzung der Familienleistungen auch in Österreich und in der dortigen Diskussion taucht der Punkt mit der Umgehungsstrategie auch auf: Dem Artikel Drittel der Kinder könnte nach Österreich ziehen kann man entnehmen:
Eine Einsparung von 100 Millionen Euro im Jahr: Das erhofft sich Familienministerin Sophie Karmasin von ihrem Plan, im Ausland lebenden Kindern von hierzulande arbeitenden EU-Bürgern die Familienbeihilfe zu kürzen. Doch die Hoffnung sei trügerisch, warnt Migrationsexpertin Gudrun Biffl. „Viele werden als Reaktion die Kinder nach Österreich holen“, sagt sie. „Ich gehe davon aus, dass ein Drittel der Kinder kommt – eine moderate Schätzung.“
Dass es „nur“ ein Drittel wären, berücksichtigt durchaus das Gegenargument, dass ja auch die Lebenshaltungskosten in Österreich (und Deutschland) höher sind, so dass ein Nachzug der Kinder nicht attraktiv sei. Aber für ein Drittel (oder mehr) dann eben doch.
Und die Wissenschaftlerin verweist auf empirische Erfahrungen in Österreich Anfang der 1980er Jahre und mahnt eine echte Kostenabschätzung an:
»Als Österreich „Gastarbeitern“ damals die Familienbeihilfe kürzte, sei der Anteil ausländischer Kinder an den Schulen sprunghaft angestiegen, ohne dass Letztere darauf vorbereitet gewesen seien. Biffls Daten zeigen: Von 1978 bis zum Schuljahr 1980/81 war die Zahl der Schülerinnen und Schüler aus Ex-Jugoslawien von 6681 auf 9745 explodiert, die türkische Schulpopulation hatte sich von 2679 auf 6477 sogar mehr als verdoppelt – dazwischen lag eine (erste) Einschränkung der Familienbeihilfe. Die Folgekosten für Schule und Integration zusätzlicher Kinder würde auch heute die Einsparungen auffressen, glaubt Biffl und hält die Kürzung für doppelt kurzsichtig. Es liege im Interesse aller Mitgliedsstaaten, dass soziale Unterschiede in der EU möglichst gering seien, argumentiert sie: Gerade in Ländern wie Rumänien trage die Familienbeihilfe zur Stabilität bei.«
Wieder einmal – alles nicht so einfach, wenn man etwas genauer hinschaut. Und diese Baustelle eignet sich wirklich nicht für eine – wenn es einen solchen Impuls geben sollte – populistische Instrumentalisierung im Sinne einer Adressierung von Vorurteilen in der heimischen Bevölkerung. Vielmehr erkennt man an diesem Beispiel erneut die Ambivalenz der Heterogenität der EU hinsichtlich der Lebensbedingungen und der Beschäftigungschancen, von der ja gerade auch die reicheren Staaten der EU mannigfaltig profitieren. Das ist nicht umsonst zu haben, natürlich kann das in dem einen oder anderen Fall auch Sogeffekte auslösen, aber die wegzuregulieren in einer EU mit Personenfreizügigkeit, das wäre eine ganze harte Nuss. Wenn man es denn überhaupt will.
Aber die offizielle Politik bewegt sich durchaus in diese Richtung, allerdings auf einer Baustelle, die noch etwas größer ist als die Kindergeld-Frage. Gemeint sind hier die neuen Entwicklungen der Gesetzgebung, beispielsweise das „Unionsbürgerausschlussgesetz“ in Deutschland wie auch die neuen Vorschläge der EU-Kommission, die auf einen temporären Ausschluss aus den sozialen Sicherungssystemen des Aufnahmelandes abzielen – was aber in einem eigenen Beitrag aufbereitet werden muss.