Aber selbst, wenn die Kinder auf einem gemessenen gleich hohen Level starten, kann man im weiteren Verlauf eine Scherenentwicklung erkennen zuungunsten der Schüler, die aus Familien kommen, bei denen ein niedriges (formales) Bildungsniveau festgestellt wurde. Das behauptet diese neue Studie aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW):
➔ Sophie Horneber und Felix Weinhardt (2018): GymnasiastInnen aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau verlieren im Laufe der Schulzeit deutlich an Boden, in: DIW Wochenbericht, Nr. 23/2018
In der medialen Aufarbeitung der Studie kann man dann – nun ja – ambivalente Zusammenfassungen lesen, so beispielsweise »Bildungsforscher warnen: Wer den falschen Familienhintergrund hat, verliert schnell den Anschluss«. So Armin Himmelrath in seinem Artikel Welchen Einser-Gymnasiasten der Absturz droht, in dem er über die neue Studie berichtet. »Gymnasiasten, deren Eltern ein niedriges Bildungsniveau haben, fallen im Laufe ihrer Schulzeit immer weiter zurück. Besonders groß ist die Gefahr, wenn sie in der fünften Klasse in Mathematik und Deutsch noch Einsen auf dem Zeugnis stehen hatten«, so Himmelrath eines der auf den ersten Blick überraschenden Befunde der neuen Studie zitierend. Eine weitere Auffälligkeit: „Gerade die besonders guten Kinder ohne den entsprechenden Bildungs-Background verlieren am Gymnasium massiv an Boden“, zitiert er Felix Weinhardt, einer der Autoren der Studie. Bei Schülern auf der Realschule, deren Leistungen ebenfalls untersucht wurden, sei der Effekt dagegen nicht zu beobachten gewesen: „Hier geht die Schere im Schulverlauf nicht weiter auseinander.“
Diese Befunde muss man auch vor diesem aus vielen anderen Studien bekannte Problematik sehen und bewerten: Bereits die Übergangsquoten von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen zeigt eine erhebliche Selektivität nach dem Familienhintergrund: Kinder aus einem Elternhaus mit hohem Bildungsniveau gehen zu 61 Prozent aufs Gymnasium und nur zu drei Prozent auf die Hauptschule. Ist das formelle Bildungsniveau des Elternhauses niedrig, schaffen es nur 22 Prozent der Kinder auf ein Gymnasium, 21 Prozent dagegen besuchen eine Hauptschule.
Die Dramatik der neuen Befunde kann man sich vor Augen führen mit dieser Argumentation: Wenn schon nur deutlich weniger Kinder aus Familien, in denen die Eltern einen niedrigen Bildungsstand haben, überhaupt an ein Gymnasium kommen und wenn man dann noch die betrachtet, die mit exzellenten Noten den Sprung in diese Zitadelle des Bildungsbürgertums geschafft haben, dann kann man doch davon ausgehen, dass die es geschafft haben und erfolgreich ihren Weg machen.
Tatsächlich aber, so die Studie, ist bei ihnen die Gefahr eines regelrechten Absturzes im Laufe der nächsten Jahre groß.
Aus der Zusammenfassung der Studie kann man die folgenden Punkte entnehmen (vgl. Horneber/Weinhardt 2018: 478):
Kinder, die auf ein Gymnasium gehen und Eltern mit einem niedrigen Bildungsniveau haben, fallen im Laufe ihrer Schulzeit leistungsmäßig immer weiter zurück. Das gilt insbesondere dann, wenn sie in der fünften Klasse in den Fächern Mathematik und Deutsch noch Einserschüler waren. Diese Studie, die auf Basis des Nationalen Bildungspanels (NEPS) als eine der ersten den Schulerfolg von Kindern während der gesamten Pflichtschulzeit von der ersten bis zur neunten Klasse unter die Lupe nimmt, zeigt, wie wichtig der elterliche Bildungshintergrund für die Schulnoten der Kinder ist. Schon in der Grundschule gibt es deutliche Unterschiede in den sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten nach dem Elternhaus. Dies spiegelt sich später auch in der Aufteilung
auf die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe wider. Während die Noten in der Realschule über die Zeit relativ konstant bleiben, schneiden an Gymnasien die ohnehin schon wenigen Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau über die Zeit deutlich schlechter ab. Neben einer gezielteren Förderung im frühkindlichen Alter sollten diese Kinder vor allem in der Schule stärker unterstützt werden.
Warum die betroffenen Kinder bei den Noten so stark absinken, beantwortet die Untersuchung nicht. Dazu schreiben die beiden Wissenschaftler, »dass möglicherweise eine Vielzahl von Drittfaktoren die hier aufgezeigten Zusammenhänge anstelle der elterlichen Bildung hervorruft. Zukünftig sollte untersucht werden, ob sich das relativ schlechtere Abschneiden von Kindern aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau beispielsweise dadurch erklären lässt, dass es Unterschiede in der Nutzung von Nachhilfe, beim Familienklima oder hinsichtlich des Umgangs mit Problemen während der Pubertät gibt.« (Horneber/Weinhardt 2018: 482). Möglicherweise – möchte man hier explizit ergänzen – ist es aber auch die „Kultur“ vieler Gymnasien, die zu solchen Ergebnissen beitragen. Dass das eine Rolle spielen wird, kann man ja auch aus dem Befund in der Studie ableiten, dass es bei den Realschulen keine Evidenz dafür gibt, dass die Schere im Schulverlauf auseinandergeht. Also könnte das Problem ja durchaus was mit den oder vielen Gymnasien an sich zu tun haben.
Die beiden Autoren geben trotz der fehlenden Ursachenanalyse Handlungsempfehlungen:
Wichtig sei es jetzt, auf die besonders guten Fünftklässler mit wenig bildungsstarkem Elternhaus „ein besonderes Augenmerk der Schul- und Bildungspolitik“ zu legen. Felix Weinhardt: „Gymnasiasten aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungshintergrund sollten gezielter gefördert werden.“ Dazu das Interview mit Felix Weinhardt: „GymnasiastInnen aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungshintergrund sollten gezielter gefördert werden“.
Nun ist das hier angerissene Problem keines, das nur in den Gymnasien eine Rolle spielt – gerade Horneber und Weinhardt haben in ihrer Studie darauf hingewiesen, dass es bereits zu Beginn der Grundschule große Unterschiede nach dem Bildungsniveau im Elternhaus gibt, was die von den Lehrern eingeschätzten Fähigkeiten der Kinder angeht. Diese Unterschiede bleiben in der Grundschule relativ konstant, um sich aber später auf der weiterführenden Schule zu verstärken.
Wie sieht es also mit den Grundschulen aus? Auch hier werden wir mit neuen Forschungsbefunden konfrontiert, die auch deshalb interessant und beachtenswert sind, weil sie eine immer wieder gerne und auf angeblich gesicherten Erkenntnissen basierende Aussage in Frage stellt: Kleinere Klassen in den Schulen bringen nichts.
Dazu diese neue Studie, ebenfalls aus dem DIW:
➔ Maximilian Bach und Stephan Sievert (2018): Kleinere Grundschulklassen können zu besseren Leistungen von SchülerInnen führen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 22/2018
Diese Untersuchung wurde dann beispielsweise unter solchen Überschriften aufgegriffen: Forscher bestätigen, was Lehrer schon immer sagen: Kleinere Klassen führen zu besseren Schülerleistungen: »Jetzt also doch: Kleinere Klassen in Grundschulen führen zu besseren Leistungen der Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik. Außerdem senken sie die Wahrscheinlichkeit, dass Schüler eine Klasse wiederholen müssen. Das sind die zentralen Ergebnisse einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).«
Auch hier lohnt der Blick auf die Zusammenfassung, denn die Ergebnisse die Klassengrößenfrage betreffend müssen differenziert betrachtet werden, folgt man den Wissenschaftlern, die die Studie erstellt haben (vgl. Bach/Sievert 2018: 466):
»Kleinere Klassen in der Grundschule führen zu besseren Leistungen in den Fächern Deutsch und Mathematik. Außer dem senken sie die Wahrscheinlichkeit, eine Klasse wieder holen zu müssen. Dies zeigt die vorliegende Analyse der Testresultate von mehr als 38.000 SchülerInnen, die Daten der landesweiten Orientierungsarbeiten im Saarland auswertet. Das Ergebnis widerspricht auf den ersten Blick bisherigen Studien für Deutschland, die mehrheitlich keine signifikanten Klassengrößeneffekte finden konnten. In der vorliegenden Studie wird jedoch ein weiterentwickeltes Untersuchungsdesign verwendet. Die Analyse zeigt, dass ein Reduzieren der Klassengröße vor allem in größeren Klassen mit mindestens etwa 20 SchülerInnen effektiv ist. Insofern könnte es sinnvoll sein, die Bildung kleinerer Klassenverbünde zu fördern, um das Leistungsniveau von GrundschülerInnen anzuheben. Dies trifft nicht auf kleinere Klassen zu: Bis zu einer Grenze von etwa 20 SchülerInnen können Klassen sogar vergrößert werden, ohne dass es zu Leistungseinbußen in den Fächern Deutsch und Mathematik kommt.«
Bach und Sievert heben für ihren Ansatz eine besondere methodische Innovation hervor (S. 471):
»Die vorliegende Studie füllt eine Lücke in der evidenzbasierten deutschen Beratung der Bildungspolitik. Bislang lagen keine Schätzungen vor, die kausal zeigen konnten, ob kleinere Klassen (also ein besserer LehrerSchülerSchlüssel) tatsächlich zu besseren Leistungen bei SchülerInnen führen. Dass dies zumindest in den ersten drei Schuljahren so ist, wird in dieser Studie anhand eines Datensatzes nachgewiesen, der über vier Jahre Informationen zu allen saarländischen Grundschulen liefert. Auch die Wahrscheinlichkeit, eine Jahrgangsstufe zu wiederholen, ist umso höher, je mehr SchülerInnen in einer Klasse sind. Die Studie zeigt außerdem, dass eine Reduktion der Klassengröße vor allem in großen Klassenverbünden erhebliche Lernzuwächse verspräche. Vorherige Studien haben diese Zusammenhänge nicht nachweisen können. Sie konnten zumeist nicht ausreichend die Verzerrungen herausrechnen, die sich dadurch ergeben, dass schwächere SchülerInnen systematisch kleineren Klassen zugeteilt werden.« Genau das aber sei in der neuen Studie gemacht worden.
Dass ein Reduzieren der Klassengröße zwar teuer, aber generell wenig wirksam sei, wie es in der Debatte um größere oder kleinere Klassen aus der Wissenschaft immer wieder zu hören ist, erscheint vor dem Hintergrund der vorliegenden Analysen für das Saarland nicht zutreffend, betonen die Wissenschaftler. Und wenn man einige rechnerische Ableitungen liest, könnte man auf die Idee kommen, dass es sich auch rechnen würde, diesen Schritt zu gehen. Dazu aus dem bereits zitierten Artikel Forscher bestätigen, was Lehrer schon immer sagen: Kleinere Klassen führen zu besseren Schülerleistungen:
»Vor allem in großen Klassen, in denen mindestens 20 Schüler unterrichtet werden, zeigt sich ein Effekt, wenn die Schülerzahl reduziert wird. Jedes Kind weniger führt in solchen Klassen in der dritten Jahrgangsstufe im Fach Deutsch zu Leistungszuwächsen, die – bezogen auf ein Schuljahr – denen von zweieinhalb Unterrichtswochen entsprechen. Das bedeutet: Derselbe Unterrichtsstoff kann ohne Leistungseinbußen in mehr als zwei Wochen weniger vermittelt werden. Die Auswirkungen einer durchaus realistischen Reduzierung einer großen Klasse um fünf Schüler entsprächen den Leistungszuwächsen von knapp drei Monaten. Im Fach Mathematik sind in kleineren Klassen vor allem bei Mädchen bessere Testresultate zu erwarten, Jungen profitieren hingegen eher wenig.
Auch die Wahrscheinlichkeit, eine Jahrgangsstufe wiederholen zu müssen, sinkt in kleineren Klassen: In der ersten Klasse führt jedes Kind weniger im Klassenverbund zu einem um 0,1 Prozentpunkte niedrigeren Anteil an Sitzenbleibern, wie Studienautor Stephan Sievert erklärt. „Das klingt im ersten Moment nicht nach einem großen Effekt – da aber der Anteil der Klassenwiederholungen im ersten Schuljahr insgesamt bei nur 2,3 Prozent liegt, führt jedes Kind weniger zu einer Reduzierung der Wiederholerquote um knapp fünf Prozent.“«
Aber die beiden Wissenschaftler merken zu der eigentlich naheliegenden Schlussfolgerung, die Klassen zu verkleinern, relativierend an:
»Dies bedeutet jedoch nicht, dass kleinere Klassen aus fiskalischer Sicht notwendigerweise sinnvoll sind. Während sich die Kosten einer Klassengrößenreform recht präzise berechnen ließen, bleibt die Frage nach den konkreten Erträgen beziehungsweise dem monetarisierten Nutzen offen. Um diese Frage zu beantworten, bräuchte es jenseits der hier gezeigten Auswirkungen auf schulische Leistungen Informationen darüber, in welchem Ausmaß sich die Leistungszugewinne zum Beispiel im späteren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt widerspiegeln – also in der Wahrscheinlichkeit, eine Beschäftigung zu finden und in der Höhe der Löhne.« (Bach/Sievert 2018: 472).
Das nun ist nicht nur methodisch eine große Herausforderung, die absehbar nicht gestemmt werden kann. Davon abgesehen wird der in vielen Bundesländern mittlerweile manifeste Lehrermangel dazu führen, dass die Aufmerksamkeit der Bildungspolitik auf eine Stabilisierung des Status quo gerichtet sein wird. Da ist für teure, personalintensive Ausflüge keine Zeit und kein Geld.