Hinsichtlich der großen Baustelle Rentenpolitik ist der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD ein Monument des Kompromisses. So haben die Sozialdemokraten einige gesichtswahrende Punkte in dem Dokument verankern können, aber die die wahre Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung des Alterssicherungssystems hat man a) inhaltlich vertagt und b) in die ganz eigene Welt einer Kommission outgesourct, die nun erst einmal nachdenken soll und muss, was wiederum a) auf der Zeitschiene bis zum Ende der Legislatur ermöglicht.
Die Sozialdemokraten heben als besondere erfolgt diese Vereinbarung im Koalitionsvertrag hervor:
»… werden wir die gesetzliche Rente auf heutigem Niveau von 48 Prozent bis zum Jahr 2025 absichern und bei Bedarf durch Steuermittel sicherstellen, dass der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen wird. Für die Sicherung des Niveaus bei 48 Prozent werden wir in 2018 die Rentenformel ändern.« (S. 90)
Das nun hört sich nach einer richtigen Schubumkehr hinsichtlich der bisherigen Fahrtrichtung des Rentenniveaus nach unten an. Endlich, möchte man meinen. Allerdings wurde schon Anfang des Jahres, als im Ergebnispapier der damaligen Sondierungsgespräche dieser Punkt auftauchte, etwas spöttisch angemerkt, dass sich dieser scheinbare sozialpolitische Hengst als reichlich müder Gaul entpuppt, wenn man genauer hinschaut.
Man könnte auch von einer Rosstäuscherei sprechen, denn dem Rentenversicherungsbericht 2017 der Bundesregierung kann man den folgenden Hinweis entnehmen:
»Das Sicherungsniveau vor Steuern beträgt derzeit 48,2 % und bleibt in den kommenden Jahren dank einer guten wirtschaftlichen Entwicklung mit stabilem Beitragssatz auf diesem Niveau. Nach dem Jahr 2024 sinkt das Sicherungsniveau vor Steuern unter 48 %.« (S. 39)
Wie praktisch, man kann als ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen eine „Haltelinie“ beim Sicherungsniveau verkaufen, das sowieso schon mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Danke für nichts, wird der eine oder andere an diese Stelle denken. Der einzige hier relevante Punkt ist dann die in Aussicht gestellte gesetzliche Festschreibung dieser wahrscheinlichen Entwicklung.
Die eigentlichen Probleme (nicht nur) beim Rentenniveau beginnen ab dem Jahr 2025, folgt man der Vorausberechnung der Bundesregierung. Aber dafür bekommen wir ja eine Kommission. Im Koalitionsvertrag (S. 90) finden wir dazu und vor allem zu dem Auftrag an die Kommission:
Es soll eine Rentenkommission ‚Verlässlicher Generationenvertrag‘ eingerichtet werden, »die sich mit den Herausforderungen der nachhaltigen Sicherung und Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung und der beiden weiteren Rentensäulen ab dem Jahr 2025 befassen wird. Sie soll eine Empfehlung für einen verlässlichen Generationenvertrag vorlegen. Dabei streben wir eine doppelte Haltelinie an, die Beiträge und Niveau langfristig absichert. Die Rentenkommission soll ihren Bericht bis März 2020 vorlegen. Ihr sollen Vertreter der Sozialpartner, der Politik und der Wissenschaft angehören. Die Rentenkommission soll die Stellschrauben der Rentenversicherung in ein langfristiges Gleichgewicht bringen sowie einen Vorschlag unterbreiten, welche Mindestrücklage erforderlich ist, um die ganzjährige Liquidität der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern.«
Wenn man sich diesen Passus durchliest, dann könnte man durchaus den Eindruck bekommen, dass hier zwei ganz unterschiedliche Zielsetzungen vorgegeben werden, also eine irgendwie grundsätzliche Dimension auf der einen („verlässlicher Generationenvertrag“, langfristiges Gleichgewicht der Stellschrauben) und ein sehr konkreter Handlungsauftrag auf der anderen Seite („doppelte Haltelinie“, Liquiditätsreserve).
Aus der Perspektive der Großen Koalition und ihrer inneren Mechanik ist die folgende Bestimmung des Fahrplans von Bedeutung: „Die Rentenkommission soll ihren Bericht bis März 2020 vorlegen.“ Damit würden die Ergebnisse „rechtzeitig“ spät in der laufenden Legislaturperiode veröffentlicht, so dass die in den dann beginnenden Wahlkampf für die nächste Bundestagswahl hineinreichen werden, so dass man eine eventuelle Umsetzung für die nächste Regierung in Aussicht stellen kann, das aber nicht mehr selbst auf den gesetzgeberischen Weg bringen muss. Man kennt dieses Vorgehen aus anderen Politikfeldern, erwähnt sei hier der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, dessen Erarbeitung über Kommissionen und mehrere Legislaturperioden nach dem beschriebenen Muster gestreckt werden konnte.
Zur Zusammensetzung sagt der Koalitionsvertrag nur: Der Rentenkommission »sollen Vertreter der Sozialpartner, der Politik und der Wissenschaft angehören.« An dieser Stelle weiß jeder, der sich im politischen Geschäft auskennt: auf die konkrete Ausgestaltung der Kommission kommt es an. Über Personen kann man die Arbeit steuern (oder die Gefahr riskieren, dass es zu „unkontrollierbaren“ Entwicklungen und Vorschlägen kommt).
Mittlerweile wissen wir, wer in die Rentenkommission berufen wurde und wer sie leiten wird:
Ein erster Blick auf die Zusammensetzung der Kommission zeigt schon, dass es ein klares parteipolitisches Übergewicht gibt (und das dann auch noch ausschließlich auf die regierenden Parteien begrenzt). Die „Sozialpartner“ sind wie üblich über ihre Spitzenverbände DGB und BDA vertreten, mit je einem Funktionär.
Interessant ist die personelle Ausrichtung auf der Wissenschaftsbank. Drei Wissenschaftler sind berufen worden – und hier hatte das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales und damit der neue Minister Heil (SPD) sicherlich die größten Gestaltungsspielräume, wen er hier konkret beruft. Denn natürlich stehen auch Wissenschaftler für bestimmte Positionen.
Und eines kann man dem Ergebnis sicher entnehmen: Bloß keine radikalen Denker in der Kommission. Keinen, der die Systemfrage stellt hinsichtlich der Weiterentwicklung des Alterssicherungssystems. Nun kann man das ja auch vielleicht nicht wirklich verlangen von einer Regierungskommission, die sich im bestehenden System bewegen soll und muss und die zumindest auch die Funktion hat, eine grundlegende Diskussion (mit der immer die Gefahr verbunden ist, dass sie „aus dem Ruder“ zu laufen droht) nicht nur zu kanalisieren, sondern auch auf der Zeitschiene zu strecken, um den tagespolitischen Ablauf der GroKo nicht zu früh zu stören.
Aber die konkrete Auswahl im Bereich der Wissenschaft sendet zwei weitere und für einige sicher irritierende Signale:
Zum einen die Berufung von Axel Börsch-Supan, der sich zum einen als massiver Kritiker der Teile der bisherigen Rentenpolitik, die aus der Sozialdemokratie vorangetrieben wurden wie der abschlagsfreien „Rente mit 63“ oder der Stabilisierung des auf dem Sinkflug befindlichen Rentenniveaus, die er als „unbezahlbar“ etikettiert und zugleich plädiert er heftig für private Altersvorsorge. Zumindest muss man festhalten, dass kein relevanter Wissenschaftler in die Kommission berufen wurde, der oder die dieser Position etwas entgegenhalten kann.
Zum anderen ergibt ein Blick auf alle drei Wissenschaftler, also neben Axel Bursch-Supan noch Gert G. Wagner als Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung sowie Simone Scherger, die an der Uni Bremen lehrt, dass alle drei passungsfähig sind zu der – so meine These – „hidden agenda“der Kommission, die daraus besteht, einer weiteren Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters den Boden zu bereiten. So hat Simone Scherger von 2010 bis 2017 eine Nachwuchsforschungsgruppe „Erwerbsarbeit jenseits der Rentengrenze in Deutschland und Großbritannien“ am SOCIUM Bremen geleitet. Um nur ein Beispiel zu nennen, wo es Andockstellen der drei Wissenschaftler gibt.
Indizien, dass die Flurbereinigung für eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters eine zentrale Aufgabe der Kommission sein wird, kann man diese Tage wie in einem Lehrbuch studieren anhand der massiven publizistischen Platzierung der Botschaft, dass es ohne eine weitere Anhebung unausweichlich zu einem Bankrott der Rentenversicherung kommen müsse durch interessierte Kreise:
So meldet sich die Bertelsmann-Stiftung zu Wort mit dem beliebten Hinweis aus die „unausweichlichen“ Folgen „der“ demografischen Entwicklung: Soziale Sicherung und öffentliche Finanzen langfristig nicht tragfähig. Dafür hat man von Martin Werding, Ökonom an der Ruhr-Universität Bochum, eine Expertise in Auftrag gegeben und veröffentlicht: Demographischer Wandel, soziale Sicherung und öffentliche Finanzen. Zur Rentenpolitik schreibt die Bertelsmann-Stiftung: »Die aktuellen Vorschläge zur Fixierung der Renten auf heutigem oder sogar höherem Niveau hätten einen erheblichen Anstieg der Beitragssätze auf über 30 Prozent bis spätestens 2062 zur Folge. Eine „doppelte Haltelinie“, die wie im Koalitionsvertrag geplant auf Dauer nicht nur das Rentenniveau, sondern auch den Beitragssatz festsetzt, müsste durch deutlich steigende Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt finanziert werden und würde die zukünftige Lage der öffentlichen Finanzen weiter verschärfen.« Vor so einem Hintergrund ist es dann nur ein kleiner „logischer“ Schritt zur Forderung nach „länger arbeiten“, um Entlastung zu schaffen. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass das zufällig gerade jetzt vom Himmel gefallen ist. Das Handelsblatt (das in diesen Tagen aus allen Rohren in Richtung Rentenkommission feuert und selbst den mehr als umstrittenen, weil mit der privaten Versicherungswirtschaft verbandelten „Rentenexperten“ Bernd Raffelhüschen in einem Interview als Kronzeugen für die wieder einmal unausweichliche Anhebung des Renteneintrittsalters zu Wort kommen lässt, vgl. dazu „Die Rentenkommission ist nur ein Feigenblatt für die Fehler der Vergangenheit“) bringt es gleich auf den Punkt, wer der eigentliche Adressat solcher Auftragsstudien ist: Alternde Bevölkerung lässt Staatsschulden und Sozialbeiträge explodieren, so ist der Artikel zur Bertelsmann-Studie überschrieben: »Vor dem Start der Rentenkommission zeigt eine Demografie-Studie: Ohne Reformen könnte Deutschland einst mehr Schulden haben als Griechenland heute.« Oh Gott, schlimmer als Griechenland heute. Wer will da noch Widerstand leisten gegen unausweichliche „Reform“maßnahmen.
Und dann – Überraschung – klinken sich auch die privaten Versicherer in die Debatte ein, ihre Argumentation ebenfalls garnierend mit wissenschaftlich daherkommender Expertise. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) meldet sich termingerecht zum Arbeitsstart der Rentenkommission mit dieser unmissverständlichen Botschaft zu Wort: “Rente mit 69 darf kein Tabu sein“. Für die Kampagne hat man Prognos engagiert und die haben dann auch noch zielgruppengerecht eine kleine Handreichung für die Mitglieder der Kommission geschrieben: Kurshalten oder Korrigieren? – Zentrale Handlungsmöglichkeiten der Rentenkommission, so ist die überschrieben. Also direkter kann Hilfestellung nicht gehen. Darin der nun wirklich nicht überraschende Satz: »Eine (weitere) Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf perspektivisch 69 Jahre hätte positive Auswirkungen auf die Finanzierung der GRV.« Und noch positiver wäre das, wenn die Leute auch nach 70 noch arbeiten und viele vielleicht gar nicht erst das Rentenalter erreichen. Dann hat man auch kein Finanzierungsproblem. Aber die Botschaft der Auftragsarbeit wird von manchen Medien nicht nur distanzlos, sondern auch noch verstärkend im Sinne einer Werbeberichterstattung übernommen, so beispielsweise von Dorothea Siems, die schon mit der Überschrift ihres Artikels klar zu machen versucht, das Widerstand zwecklos ist: An der Rente mit 69 führt kein Weg vorbei.
Es ließen sich zahlreiche weitere Belegstellen aus der aktuellen Berichterstattung zitieren, die alle eine angeblich unausweichliche Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zu verkaufen versuchen. Darüber wird in den kommenden Monaten mit Sicherheit noch öfter gesprochen und gestritten werden, denn (noch) ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht richtig weichgekocht, um die Botschaft zu akzeptieren. Un dass die Menschen gute Gründe für ihre Ablehnung haben, wurde hier schon in dem Beitrag Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters vom 28. Juli 2016 dargestellt.