Excel meets Versorgungsrealität: Wenn Rechnungshöfe rechnen und den Krankenhäusern (nicht nur) an die Betten wollen

Wenn Rechnungshöfe ihre Berichte veröffentlichen, dann hat das in der Regel immer noch den Nimbus der gewissenhaften und der Politik der Geschäft vermasselnde, weil den Finger auf Verschwendung und unsinnige Ausgaben legende Aufklärungsarbeit. Und es ist ja auch wirklich so, dass es zahlreiche Fälle von mehr als fragwürdigen öffentlichen Ausgaben zu beklagen und auch zu skandalisieren gibt.

Aber immer wieder erlebt man auch, dass Rechnungshöfe mehr als kleinkrämerisch berechnen, was man mit weniger Geld erreichen könnte, ohne wirklich die daraus resultierenden Folgen für die Praxis zu bedenken. Gerade im sozialen Bereich setzt das nämlich voraus, dass man nicht nur mit mehr oder weniger validen Zahlen operiert, sondern eine Vorstellung und einen Einblick hat in die tatsächliche Umsetzung vor Ort.

Nehmen wir als Beispiel den Rechnungshof Rheinland-Pfalz, der seinen neuen Jahresbericht veröffentlicht hat. Der SWR hat den in diesem Artikel versucht, hinsichtlich der wichtigsten Punkte zusammenzufassen: Kaputte Straßen und leere Krankenhausbetten: Rechnungshof stellt Land schlechtes Zeugnis aus. Und wie die Überschrift andeutet – da taucht neben vielen sicher beklagenswerten Aspekten auch ein Kernbereich sozialstaatlicher Versorgung auf: die Krankenhäuser. Die hat man im neuen Jahresbericht ganz besonders ins Visier genommen. Der zentrale Vorwurf der Rechnungsprüfer lautet, dass das Land Rheinland-Pfalz in Gestalt des Gesundheitsministeriums bei der Zahl der Krankenhausbetten falsch kalkuliert habe. »Der Rechnungshof hat ausgerechnet, dass 1.800 Betten überflüssig sind. Der Bürger müsse also für Betten zahlen, die nicht gebraucht werden. Das führt der Landesrechnungshof auf Fehlplanungen zurück. Hätte sich das Land an die gesetzlichen Vorgaben gehalten, wäre es nicht zu der Überversorgung mit Betten gekommen.« Das ist starker Tobak und es lohnt sich, hier einmal genauer hinzuschauen.

Zuerst einmal muss man die Aussage hinsichtlich der laut Rechnungshof angeblich zu viel vorhandenen Krankenhausbetten in dem SWR-Bericht – „der Bürger müsse also für Betten zahlen, die nicht gebraucht werden“ – so nicht richtig ist, wenn man sich das bestehende Finanzierungssystem der Krankenhäuser vor Augen führt. Neben den Landesmitteln für Investitionsausgaben speisen sich die Haupteinnahmen der Kliniken aus den Fallpauschalen der Krankenversicherung. Und die Fallpauschalen fließen nur dann, wenn es tatsächlich auch Fälle gegeben hat. Wenn also Betten nicht ausgelastet sind, was gerade mit Blick auf das Bundesland Rheinland-Pfalz kritisiert wird, dann bedeutet das erst einmal keineswegs höhere Ausgaben, vor allem nicht für „den“ Bürger. Man muss das hier in aller Deutlichkeit sagen – eigentlich spielt die reine Zahl der Krankenhausbetten eine immer geringere Rolle bei einer Analyse der Krankenhausversorgung, sondern es sind die Fälle, die im Mittelpunkt der Betrachtung (und auch der Krankenhausplanung) stehen sollten.

Aber weitaus interessanter ist ja die Frage, wie die Rechnungsprüfer auf (angeblich) 1.800 Klinikbetten kommen, die „zu viel“ sind, auf die man also getrost verzichten könnte. Das muss man vor dem Hintergrund sehen, dass die Zahl der Krankenhausbetten 2015 (und auf dieses Jahr beziehen sich die Prüfer) bei insgesamt 23.140 lag (1991 waren es noch 26.563). Gleichzeitig ist die Zahl der Krankenhäuser von 108 im Jahr 1991 auf 73 im Jahr 2015 geschrumpft. Wie überall hat es auch im eher ländlich strukturierten Rheinland-Pfalz einen Abbauprozess gegeben, vor allem in den Jahren nach 2002, also das Fallpauschalensystem gesetzgeberisch eingeführt und das bis dahin vorherrschende System der tagesgleichen Pflegesätze abgelöst hat.
Gleichzeitig ist die Zahl der vollstationären Behandlungsfälle von 693.000 im Jahr 1991 auf über 903.000 im Jahr 2015 angestiegen. Wie auch anderswo hat es seit Anfang der 1990er Jahre, vor allem nach der Einführung der Fallpauschalen eine deutliche (und mit dem neuen Finanzierungssystem auch beabsichtigte) Verringerung der durchschnittlichen Verweildauer der Patienten gegeben – von noch 11,7 Tagen im Jahr 1991 auf nur noch 6,7 Tage in 2015.

Wie argumentiert nun der Rechnungshof? Dazu findet man genauere Ausführungen in dem Kapitel Landeskrankenhausplan 2010 – Neuausrichtung der Krankenhausplanung erforderlich. Hier interessiert weniger die vorgetragene Kritik an der nach Meinung des Rechnungshofs unvollständige und letztendlich durch Vorgaben willkürlich gesteuerte Krankenhausplanung des Landes. Von besonderem Interesse ist hier die Suche nach Erklärungen für die angeblich überflüssigen 1.800 Klinikbetten. Der Maßstab des Rechnungsprüfer sind offensichtlich die Krankenhausbetten – und deren statistisch gemessene „Auslastung“: »Die Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz wiesen 2015 bundesweit mit 71,3 % die geringste Bettenauslastung aus.« Und sie beziehen sich bei ihrer Berechnung der eigentlich erforderlichen Bettenkapazität auf die sogenannte „Hill-Burton-Formel“.

Die Hill-Burton-Formel ist nach dem Hospital Survey and Construction Act (Hill-Burton Act) benannt, der 1946 in den USA Gesetz wurde. Sie ist eine der bekanntesten und am längsten verwendeten Methoden zur Prognose des zukünftigen Bettenbedarfs in der Krankenhausplanung – und sie ist seit Jahren auch in der kritischen Diskussion (vgl. beispielsweise Bestandsaufnahme zur Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung in den Bundesländern, 2008). Bereits 2001 berichtete Harald Clade im deutschen Ärzteblatt unter der Überschrift Krankenhausbedarfsplanung: Kaum brauchbar für die Praxis: »Oftmals sind die herangezogenen Planungs- und Prognosekriterien eindimensional, zum Teil basieren sie auf überholten Statistiken und beinhalten eine Leistungsplanung ohne jeden Kapazitätsbezug. Der traditionelle Ansatz der Krankenhausplanung nach der so genannten Hill-Burton-Formel mit gängigen Indikatoren, wie etwa der Einwohnerzahl, der Krankenhaushäufigkeit, der Liegedauer und der Bettennutzung als einzige Richtschnur zur Bemessung des Bettenbedarfs, scheint inzwischen „out“ zu sein.« Wohlgemerkt, das war im Jahr 2001.

Das mehr als diskussionswürdige Vorgehen der Rechnungsprüfer in Rheinland-Pfalz kann man an einem Beispiel verdeutlichen – die Werte sind in der Abbildung am Anfang des Beitrags visualisiert:

»Allein in Koblenz und Umgebung befinden sich 16 Krankenhäuser an insgesamt 18 Standorten. Davon haben neun Krankenhäuser die Fachgebiete Gynäkologie/Geburtshilfe mit insgesamt 297 Betten eingerichtet. Deren Auslastung lag 2016 bei weniger als 46 %. Bei Erreichen der Soll-Auslastung von 80 % und unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Verweildauer sowie der Belegungstage ergibt sich rechnerisch ein Bedarf von nur 170 Betten.«

Das kommt dabei heraus, wenn man mechanisch Formelwerte eingibt – und die Versorgungsrealitäten mit keinem Blick würdigt. Erstens: Die Zahlen beziehen sich auf 2016, zwischenzeitlich wurde eine geburtshilfliche Station schon geschlossen. Zweitens: Wenn man mit den Frauenärzten in der Region spricht, bekommt man flächendeckende Hinweise auf teilweise erhebliche Versorgungsprobleme für die Patientinnen und vor allem für die schwangeren Frauen, die entbinden wollen. Oftmals melden die geburtshilflichen Stationen Land unter und weisen die Frauen aufgrund mangelnder Kapazitäten ab. Drittens vermischen die praxisfernen Rechnungsprüfer die Gynäkologie und die Geburtshilfe und legen dann auch noch ein gerade für die „eigensinnige“ Geburtshilfe weltfremdes – bzw. in letzter Konsequenz für die Betroffenen, zu denen auch die Hebammen, Pflegekräfte und Ärzte gehören, unerträgliches – Auslastungsmaß zugrunde, das letztendlich ausschließlich aus Wirtschaftlichkeitsanforderungen im bestehenden System der Krankenhausfinanzierung resultiert. Denn bekanntlich lassen sich Geburten nicht annähernd so planen wie die Produktion von Einwegflaschen und man muss sich einfach nur mal verdeutlichen, was es für eine 24/7-Station in der Geburtshilfe bedeuten würde, wenn immer mindestens 80 Prozent Auslastung erreicht oder besser noch überschritten werden muss.

Außerdem sollte man bedenken, dass die gynäkologischen Stationen viele Frauen behandeln, die nichts mit Geburten am Hut haben, also beispielsweise Brustkrebs-Patientinnen. Allein an diesem Beispiel kann man die Sinnhaftigkeit einer seit Jahren an der tradierten Krankenhausplanung beispielsweise nach der Hill-Burton-Formel vorgetragenen Kritik nachvollziehen, die darauf abstellt, dass man höchst differenziert den Bedarf nach unterschiedlichen Fachgebieten bestimmen muss. Zugleich – das zeigen doch gerade die aktuellen Entwicklungen – sollte man Prognosen mit höchster Demut bzw. größter Skepsis begegnen, vor allem, wenn sie auf den teilweise mehr als wackeligen Vorhersagen der demografischen Entwicklung basieren und/oder bedeutsame Verhaltensänderungen (beispielsweise ein Anstieg der Gebrutenrate) überhaupt nicht berücksichtigt haben. Und die Geburtshilfe erlebt gerade, was es bedeutet, wenn Vorhersagen eben ihren wahren Charakter zeigen: Sie sind immer mit größter Unsicherheit behaftet.

Aber all das schert den Rechnungshof nicht und so wird eine Zahl herausgehauen – 1.800 Krankenhausbetten seien überflüssig -, die natürlich von den Medien gerne aufgegriffen wird, weil man sie gut transportieren kann, die allerdings nicht annähernd die Komplexität des Versorgungsgeschehens abzubilden in der Lage ist. Aber damit nicht genug. In ihrem Jahresbericht gibt der Rechnungshof des Landes Rheinland-Pfalz ganz handfeste Empfehlungen, was denn die Politik anders machen sollte – und deren Umsetzung hätten gravierende Auswirkungen auf die Menschen und ihre Versorgungsmöglickeiten:

»Möglichkeiten zur Neuausrichtung der anstehenden Landeskrankenhausplanung sollten geprüft werden. Dies betrifft den Abbau von Doppelstrukturen, die Festlegung höherer Soll-Auslastungsgrade sowie von Zumutbarkeitsgrenzen für die Erreichbarkeit von Krankenhausleistungen.«

Das klingt alles so technisch-steril, hat aber massive Folgewirkungen, die nicht mal in Ansatz reflektiert oder wenigstens angemerkt werden: Über die „Ökonomisierungspeitsche“ höherer Soll-Auslastungszahlen wurde hier schon geschrieben – muss man denn wirklich darauf hinweisen, dass ein zentraler Kritikpunkt in der gegenwärtigen Debatte über die Arbeitsbedingungen gerade des Pflegepersonals in den Kliniken deren massiv gestiegene Arbeitsbelastung ist, die eine zwingende Folge des Fallpauschalensystems auf der Finanzierungsseite ist? Immer mehr, immer schneller, damit verbundenen nur noch Patienten mit einer hohen Pflegeintensität – immer industrialisierter wird die Arbeit in den Krankenhäuser. Und in die primär betriebswirtschaftliche Industrialisierungslogik passen sich die „Empfehlungen“ der Rechnungsprüfer geschmeidig ein. Die Menschen in den Krankenhäuser sollen gefälligst noch mehr „umsetzen“ in der gegebenen Zeit, „Zumutbarkeitsgrenzen für die Erreichbarkeit“ bedeutet für die Bewohner längere, teilweise deutlich längere Anfahrtswege, um Krankenhausleistungen in Anspruch nehmen zu können. Und besonders ambivalent der technokratisch daherkommende Punkt „Abbau von Doppelstrukturen“. Der leuchtet prima facie vielen ein, warum soll man Krankenhäuser in einer Region vorhalten, die gleiche Leistungen anbieten? Interessant ist an diesem Punkt, dass in den meisten anderen Fällen eine solche Empfehlung gerade von den Ökonomen mit größter Abwehr behandelt werden würde, denn es handelt sich um nichts anderes als um eine Monopolisierung der Versorgung vor Ort. Und Monopole gelten ansonsten doch eher als schlecht, zumindest als höchst problematisch.

Fazit: Eine Menge Widersprüche lassen sich in dem Jahresbericht und den Empfehlungen des Rechnungshofs identifizieren, wenn man nicht alles für bare Münze nimmt, was von einem Rechnungshof kommt. Vor allem nicht, wenn es um sozialpolitisch hoch relevanten Fragen wie der Krnakenhausversorgung geht. Und man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Bestehende Strukturen kann man mit Verweis auf eine angebliche Überflüssigkeit schnell zerstören. Aber keiner möge glauben, wenn sich die Verhältnisse ändern oder wenn sich herausstellt, dass die Annahmen in den Excel-Tabellen nicht wirklich realitätsgerecht waren, dass man dann per Knopfdruck wieder korrigieren kann.

Aber eines muss man den rheinland-pfälzischen Rechnungsprüfer ja lassen – sie bleiben ihrer eindimensionalen Effizienzsteigerungsphilosophie in höchst empfindlichen Bereichen treu. Ende August 2017 berichtete der SWR: Rechnungshof: Zu viele Erzieher im Land: »Viele Erzieher in Rheinland-Pfalz hätten zu wenig zu tun – zu diesem Schluss kommt der Landesrechnungshof. Das Land habe zu viele eingestellt, dabei ließen sich Millionen Euro einsparen.« Und dann legen sie los, die Rechnungsprüfer:

»Nach Berechnungen des Rechnungshofes gibt es im Land 12.000 Kindergartenplätze zu viel. Die Erzieher seien oft nicht ausgelastet. Würden weniger Betreuer angestellt, könnte das Land 90 Millionen Euro pro Jahr einsparen.«

Wie das?

»Aus Sicht des Rechnungshofs planten Kindergärten und Krippen zu großzügig. Sie ließen zum Beispiel außer Acht, dass Eltern Ganztagsplätze buchten, ihre Kinder aber – etwa wegen einer Teilzeitbeschäftigung – früher abholten … Um Kosten einzusparen, schlägt der Rechnungshof vor, dass sich die Personalplanung an der Zahl der Kinder und nicht an der Zahl der belegbaren Plätze orientieren sollte. Die Jugendämter müssten die Kita-Träger zudem „stringenter“ auf Wirtschaftlichkeit kontrollieren.«

Auch hier wieder – maximale Auslastung. Natürlich kann man Personal einsparen, wenn die Gruppen bis zur gesetzlich gerade noch möglichen Oberkante und dann durchgehend gefüllt sind mit dem kleinen Menschenmaterial. Und wenn man Erzieherinnen nur für diese Zeit plant, in der die Auslastungsphantasien der Excel-Experten erfüllt werden. Dass die Kinder auch mal krank werden könnten, dass man Zeiten für die Vor- und Nachbereitung oder für intensivere Elterngespräche braucht, dass auch eine Kita keine Automobilfabrik des Jahres 2018 ist, wo man jährliche Produktivitätssteigerungen planen kann – das wird alles eben nicht in Rechnung gestellt. Wenn man das aber wenigstens ansatzweise tut, dann kommen solche anderen, übrigens zeitlich mit den Ausführungen des Rechnungshofs veröffentlichte Meldungen ans Tageslicht: Stiftung sieht Bedarf an 4.300 Erziehern: Auch wenn sich vieles verbessert habe, gebe es noch immer zu wenig Personal, heißt es in der Studie der Bertelsmann-Stiftung, die regelmäßig den Ländermonitor Frühkindliche Bildung veröffentlicht. »Für einen kindgerechten Personalschlüssel müssten zusätzlich 4.300 Vollzeit-Mitarbeiter angestellt und weitere 192 Millionen Euro jährlich investiert werden. Die zusätzliche Nachfrage nach Erziehern liege vor allem daran, dass immer mehr Eltern das Betreuungsangebot für unter Dreijährige in Anspruch nähmen.«

Schlussendlich sei darauf hingewiesen, dass auch die Rechnungshöfe bei aller Bedeutung ihrer Arbeit, eben nicht eine Art objektive Instanz sind – sondern wenn sie derart handfeste Empfehlungen vorlegen wie hier am Beispiel der Krankenhäuser aufgezeigt, dann haben sie sich zu rechtfertigen für ihre Berechnungen, sie haben diese zur Diskussion zu stellen. Und wenn es um nun mal höchst komplexe und differenzierte Systeme wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindertageseinrichtungen geht, dann kann und muss man erwarten, dass sich die Verantwortlichen aus ihren Büros in die Versorgungsrealität, also in die wirkliche Wirklichkeit, begeben.