Die Große Koalition hatte noch kurz vor dem Ende der letzten Legislaturperiode mit dem „Betriebsrentenstärkungsgesetz“ ein deutliches Zeichen zu setzen versucht, dass in der Alterssicherung neben der gesetzlichen Rente und der privaten Altersvorsorge auch die zweite Säule, also die betriebliche Altersvorsorge, deutlich gestärkt und ausgebaut werden soll. Angesichts der Erfahrungen vieler Menschen mit der steuerlich geförderten privaten Altersvorsorge („Riester-Rente“) ist es in diesem Bereich von großer Bedeutung, dass die Menschen keinen Grund geliefert bekommen, an der Sinnhaftigkeit der damit verbundenen Sparaktivitäten zu zweifeln.
Das hier zu diskutierende Problem kann man an einem Beispiel erläutern:
»Franz Häntze ist tief enttäuscht. Für seine private Altersvorsorge hat der Rentner 26.000 Euro innerhalb von zwölf Jahren in eine Direktversicherung eingezahlt. Der Arbeitgeber legte insgesamt noch 4.000 Euro drauf. Am Ende bekam Häntze brutto 31.500 Euro ausgezahlt. Davon hatte er 6.600 Euro an Steuern abzuführen. Doch damit nicht genug: Obendrein werden ihm auch noch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge im Umfang von etwa 6.000 Euro abgezogen. Von den 31.500 Euro bleiben Häntze am Ende deshalb gerade einmal knapp 19.000 Euro übrig.«
Die subjektive und angesichts der Beträge auch nachvollziehbare Bewertung des 68-jährigen Herrn Häntze ist in die Überschrift des Artikels von Stefan Vetter eingeflossen: „Das ist staatlich organisierter Raub“. Dort wird berichtet, dass die Linke im Bundestag das Problem, mit dem nicht nur Herr Häntze konfrontiert ist, aufgegriffen und im Parlament zum Thema gemacht hat (vgl. dazu Linke lehnt doppelte Beitragspflicht für Betriebsrentner ab). Vetter behauptet, dass sich die Linken bei diesem Thema »zumindest der heimlichen Sympathie von Teilen der Union und der SPD sicher sein.« Und da geht es offensichtlich nicht nur um einzelne Fälle: »6,3 Millionen Bundesbürger den Rat der Politik befolgt und eine Direktversicherung oder andere Formen der betrieblichen Altersvorsorge abgeschlossen. Teile des Gehalts werden so fürs Alter angespart. Dass viele auf ihre Verträge auch noch den vollen Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag abführen müssen, – also neben ihrem Anteil auch noch den des Arbeitgebers –, haben sie nicht gewusst. In aller Regel kommt das böse Erwachen erst bei Auszahlung des Kapitals.«
Um den Frust bei vielen Betroffenen heute verstehen zu können, muss man sich zurückbeamen in die Zeiten der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, konkret in das Jahr 2004. Zu Beginn dieses Jahres trat das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ in Kraft. Aber was hat das mit den Betriebsrenten zu tun?
»Seinerzeit waren die Sozialkassen klamm, und die rot-grüne Bundesregierung suchte fieberhaft nach neuen Einnahmequellen. Unter der damals zuständigen Ministerin Ulla Schmidt (SPD) wurde deshalb die volle Beitragspflicht für Einkünfte aus der betrieblichen Altersvorsorge eingeführt – und das auch rückwirkend für alle Altverträge.«
Dass das als ein massiver Vertrauensbruch von den dadurch Betroffenen wahrgenommen wurde und wird, überrascht jetzt nicht wirklich. Die von den Betroffenen als kalte Enteignung wahrgenommene Doppelverbeitragung wird von ihnen – und hier vor allem vom Verein Direktversicherungsgeschädigte – seit Jahren immer wieder kritisiert
Zum anderen wird an der historischen Begründung erkennbar, dass es hier primär um einen der bekannten und leidigen Verschiebebahnhöfe ging, auf denen teilweise zwischen den Sozialversicherungszweigen genommen und gegeben oder – wie in diesem Fall – in das Portemonnaie der Leute direkt gegriffen wird, um einem Zweig der Sozialversicherung höhere Einnahmen zu eröffnen. Wir werden gleich sehen, dass das auch heute, im Jahr 2018, das zentrale Hindernis zu sein scheint für eine eigentlich zwingend erforderliche Korrektur.
Die Fraktion der Linken im Bundestag hat das Thema also aufgegriffen und einen Antrag eingebracht (Gerechte Krankenversicherungsbeiträge für Betriebsrenten – Doppelverbeitragung abschaffen, BT-Drs. 19/242 vom 12.12.2017), der am 1. Februar 2018 erstmals im Parlament diskutiert wurde.
Schauen wir uns die Argumentation der Antragsteller einmal genauer an: Es wird Bezug genommen auf das im vergangenen Jahr verabschiedete Betriebsrentenstärkungsgesetz (vgl. dazu die kritische Analyse in dem Beitrag Die halbierte Betriebsrentenreform, eine „kommunikative Herausforderung“ gegenüber den Arbeitnehmern und das von vielen totgesagte Pferd Riester wird erneut gedopt vom 3. Juni 2017). Zur Problembeschreibung erfahren wie seitens der Antragsteller:
»Das Gesetz versäumt, die enorme und ungerechtfertigte übermäßige Belastung von Betriebsrentnerinnen und -rentnern mit Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung zu beenden. Seit Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes zum 1. Januar 2004 unterliegen die aus einer Direktversicherung als Kapitallebensversicherung geleisteten Versorgungsbezüge – wie alle Leistungen der betrieblichen Altersversorgung – der vollen Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung (§ 248 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – SGB V); zu tragen allein von den Rentnerinnen und Rentnern (§ 250 Absatz 1 SGB V). Seither müssen Versicherte unter Umständen doppelt Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung leisten, einmal bei der Einzahlung in die betriebliche Rentenversicherung und einmal bei der Auszahlung im Alter. Diese Doppelverbeitragung gilt auch für einige andere Konstellationen der betrieblichen Altersvorsorge.«
Dabei sollte das Problem doch gerade mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz aus der Welt geschaffen werden – nach dessen eigenen Anspruch »werden alle Formen der betrieblichen Altersversorgung insoweit gleich behandelt, als sie einheitlich nur einmal verbeitragt werden, d.h. entweder in der Einzahlungs- oder in der Auszahlungsphase«, so die Begründung zum Gesetz (BT-Drs. 18/11286 vom 22.02.2017, S. 52).
Theorie und Wirklichkeit klaffen gerade in der Sozialpolitik oftmals auseinander: »Die doppelte Verbeitragung wurde stattdessen jedoch ausschließlich für den Fall der wenig verbreiteten betrieblichen Riester-Versorgung abgeschafft: Vom 1. Januar 2018 an sind nur Auszahlungen aus der betrieblichen Riester-Rente beitragsfrei in der Kranken- und Pflegeversicherung. Für die anderen Konstellationen, die zu doppelter Verbeitragung führen, hat das Gesetz keine Verbesserungen vorgesehen«, beklagen die Antragsteller.
Und der Antrag verweist auch auf die Perspektive der Betroffenen: »Die Doppelverbeitragung wird von vielen Menschen sogar als Dreifachverbeitragung empfunden, da nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses der Arbeitgeberanteil wegfällt und die Versicherten den allgemeinen Beitragssatz plus Zusatzbeitrag allein tragen müssen (für die Krankenversicherung 14,6 Prozent plus Zusatzbeitrag von durchschnittlich 1,1 Prozent, für die Pflegeversicherung 2,55 Prozent, bei Kinderlosen 2,8 Prozent).«
Und was wollen die Antragsteller nun? »Die Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung darf bei Versorgungbezügen nur einmal anfallen. Demzufolge sollten entweder auf das Einkommen in der Ansparphase oder auf die Auszahlung der Versicherungsleistungen Beiträge gezahlt werden. Wurden die Beiträge für die betriebliche Altersvorsorge aus nicht beitragspflichtigem Einkommen aufgebracht, dann sind in der Bezugsphase Beiträge zu zahlen. Wurden die Beiträge aus Einkommen gezahlt, für das bereits Krankenversicherungsbeiträge abgeführt wurden, darf die Versicherungsleistung nicht erneut verbeitragt werden. Hier muss die Bundesregierung endlich Gerechtigkeit herstellen.« Um das zu erreichen, solle die Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen.
Der Antrag wurde im Anschluss an die Debatte im Bundestag an den federführenden Ausschuss für Gesundheit zur weiteren Beratung überwiesen. Interessant auch diese Information: »Die AfD und Die Linke hatten dafür plädiert, den Antrag im Ausschuss für Arbeit und Soziales zu beraten, konnten sich aber nicht durchsetzen.«
Stefan Vetter hat in seinem Artikel auf eine Besonderheit in diesem Fall hingewiesen:
»Erfahrungsgemäß verschwinden Anträge der Linken im Bundestag zwar regelmäßig in der Versenkung. Doch gibt es auch Signale aus den Regierungsparteien, das Thema anzugehen. So meinte der Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann, kürzlich in einem Interview: Die doppelte Beitragszahlung bei Betriebsrenten gehöre „abgeschafft“. Wer privat vorsorge, müsse „signifikant mehr haben als derjenige, der nicht vorsorgt“. Und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach kündigte an, in den Koalitionsverhandlungen mit der Union darüber zu reden.«
In diesem Kontext passt dann auch dieser Artikel von Mirco Wenig: Betriebsrente – Unionspolitiker fordern Abschaffung der doppelten Beitragslast. Und auch hier taucht es wieder auf, das Vertrauensargument, das am Anfang des Beitrags bereits angesprochen wurde: „Die Menschen müssen das Vertrauen in das System der Altersvorsorge aus gesetzlicher Rente, betrieblicher und privater Vorsorge zurückgewinnen“, so wird die Parlamentsgeschäftsführerin der Unionsfraktion, Anja Karliczek, zitiert. Und auch Carsten Linnemann, Chef der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, wird erneut in den Zeugenstand gerufen: „Die doppelten Sozialbeiträge für Betriebsrenten waren ein Eingriff in bestehende Verträge, der zu einem massiven Vertrauensverlust geführt hat“.
Das muss alles in diesem Rahmen gesehen werden: »Dabei wird keine andere Form der Altersvorsorge so stark mit Sozialbeiträgen belastet wie die betriebliche Altersvorsorge. In der gesetzlichen Rente übernimmt die Rentenversicherung die Hälfte des allgemeinen Beitragssatzes zur gesetzlichen Krankenversicherung, derzeit 7,3 Prozent. Die Ruheständler müssen dann nur den verbleibenden Anteil zahlen: ebenfalls 7,3 Prozent plus den kassenindividuellen Zusatzbeitrag, wenn die Krankenkasse einen solchen erhebt. Auf eine Riester-Rente zahlen pflichtversicherte Rentner gar keine Krankenkassenbeiträge.«
Eigentlich, so könnte man an dieser Stelle bilanzieren, sind vor dem Hintergrund, dass ganz unterschiedliche politische Kräfte den Ansatz einer Korrektur dieser erheblichen Unwucht begrüßen, fordern und unterstützen, die Aussichten hervorragend, dass es zu einer entsprechenden Entscheidung kommen kann.
Wenn da nicht das Geld wäre.
Würde nur noch die halbe Beitragszahlung fällig, gingen den gesetzlichen Krankenkassen jährlich rund 2,6 Milliarden Euro verloren. Man ahnt schon, was das jetzt bedeutet. Stefan Vetter berichtet dazu: » Dem Vernehmen nach ist deshalb – wenn überhaupt – nur eine kostenschonende Teillösung politisch denkbar. So könnten zum Beispiel ausschließlich Altverträge aus der Zeit vor 2004 besser gestellt werden.« Wie gesagt – wenn überhaupt. Auf Gerechtigkeit werden wie in so vielen anderen Fällen auch, die Betroffenen wahrscheinlich noch lange, wenn nicht ewig warten müssen.