In diesem Blog wurde das Thema Sterbehilfe bereits in mehreren Beiträgen aufgerufen, so am 24. Oktober 2014: Vielleicht kein „Dammbruch“, aber eine „Sickerblutung“ in das gesellschaftliche Gewebe hinein. Es geht um das Sterben, um die Sterbehilfe. Und da braucht es Skepsis, Fragen und eine Warnung.
Am 13. Juni 2015 ging es dann um Die Schweiz als letztes Asyl für Sterbehelfer auf der Flucht vor Verfolgung in Deutschland? Oder geht es um todbringende Geschäftemacher, die ihr Business retten wollen?
Und am 8. November 2015 wurden die gesetzgeberischen Aktivitäten in Deutschland untersucht: Auf ganz dünnem Eis: Sterben und Tod als Gegenstand gesetzgeberischen Handelns. Zuerst das Hospiz- und Palliativgesetz, direkt danach der Regelungsversuch der Sterbehilfe.
Der vorerst letzte Eintrag datiert auf den 13. Oktober 2016: Sterbehilfe weiter auf der Rutschbahn nach unten? Bereits die Überschriften der Blog-Beiträge verdeutlichen die grundlegende Skepsis, mit der hier an das Thema Sterbehilfe herangegangen wird – ausdrücklich nicht hinsichtlich der Unhintergehbarkeit einer individuellen Entscheidung. Wir sind konfrontiert mit einem letztlich unauflösbaren Spannungsfeld zwischen der individuellen Dimension und den (möglichen) gesellschaftlichen Konsequenzen von (aktiver) Sterbehilfe.
Gegenstand des Beitrags aus dem Oktober 2016 waren neuere Entwicklungen in unseren Nachbarländern Belgien und den Niederlanden, in denen die aktive Sterbehilfe schon viel weiter „entwickelt“ ist – in Belgien wurde erstmals ein Minderjähriger ins Jenseits befördert und in den Niederlanden geht man immer weiter weg von den Todkranken und will nun auch „sterbewilligen“ Senioren nach einem „erfüllten Leben“ und ohne schwere Erkrankungen den assistierten Tod ermöglichen.
Das Fazit im letzten Beitrag wurde so formuliert: »Es bleiben erhebliche Zweifel, ob wir nicht gerade Zeuge werden des Beginns einer Reise auf einer Rutschbahn nach unten, wo man später fragen wird, warum man die gesellschaftspolitische Brisanz des schrittweisen Abgleitens in immer unbestimmter werdende „Indikationen“ für die Tötung „auf Verlangen“ (welches Verlangen und von wem?) nicht erkannt oder gestoppt hat.«
Und wir müssen die erheblichen Bedenken, die hier in Worte gegossen wurden, mit neuen Berichten weiter anreichern. Und erneut richtet sich der Blick auf die Niederlande: »In den Niederlanden ist ein 41-jähriger alkoholkranker Vater zweier Kinder auf seinen Wunsch hin durch Sterbehilfe gestorben«, kann man dem Artikel Niederlande erlauben Alkoholiker (41) Tod durch Giftspritze. Auch Sebastian Eder setzt sich in seinem Artikel Darf ein Alkoholiker Sterbehilfe bekommen? mit diesem Fall auseinander. Mark Langedijk hatte kein Krebs, wie (noch) 70 Prozent der Patienten, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen, sondern war laut seinem Bruder seit acht Jahren Alkoholiker. 21 Mal habe sich Mark durch Reha- und Klinikprogramme gekämpft. Jedes Mal sei er gescheitert. Das sei der Grund für seinen Wunsch nach dem Tod gewesen.
Und damit ist Mark Langedijk Bestandteil einer rasant wachsenden „Nachfrage“ geworden: 2001 wurde sie mit dem „Gesetz zur Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und Hilfe bei der Selbsttötung“ erlaubt. Seitdem nehmen immer mehr Menschen dieses Recht in Anspruch: 2014 gab es laut dem Bericht der Sterbehilfe-Kommissionen in den Niederlanden 5306 Fälle, zehn Prozent mehr als Vorjahr. Im Vergleich zu 2009 (2636 Fälle) hatte sich die Zahl sogar verdoppelt.
Die neue Grenzverschiebung bei der aktiven Sterbehilfe ruft die Kritiker auf den Plan. Sebastian Eder zitiert Eugen Brysch aus dem Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz:
„Das Modell ‚Menschen in Lebenskrisen zu töten‘ setzt sich in den Niederlanden immer weiter durch. Aus tragischen Einzelfällen ist längst Gewohnheit geworden.“ Demenzkranke, psychisch Kranke und „selbst Altersmüde oder anderweitig Leidende“ erhielten mittlerweile Euthanasie. Tatsächlich verdoppelte sich die Zahl der Patienten mit Demenz, die aktive Sterbehilfe erhielten, 2013 im Vergleich zum Vorjahr laut dem Deutschen Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften auf 100. Die Zahl der psychisch Kranken verdreifachte sich auf 42. Brysch weist noch mal darauf hin, dass der Anstieg auf über 5000 Fälle jährlich eine Zunahme von über 300 Prozent in den letzten zehn Jahren bedeute. „Das zeigt: Solche Tötungsangebote schaffen ihre eigene Nachfrage“, sagt er.
Dazu passen die Meldungen aus anderen Ländern: Starker Anstieg von Suizidbeihilfe in der Schweiz, meldet beispielsweise das Deutsche Ärzteblatt (und bezieht sich dabei u.a. auf diesen Artikel von Gordana Mijuk: Der Tod gehört mir):
»2015 hätten 999 Menschen mit Schweizer Wohnsitz einen begleiteten Suizid begangen … (nach) Angaben der drei großen Sterbehilfeorganisationen. Im Vergleich zu 2014 entspreche das einer Zunahme von 35 Prozent; im Vergleich zu 2008 sei es sogar fast eine Vervierfachung. Schweizer Medien sprachen von einer „neuen Normalität“. Möglicherweise sei dies erst der Anfang einer Entwicklung, wird Georg Bosshard zitiert, Leitender Arzt an der Klinik für Geriatrie des Universitätskrankenhauses Zürich. Bosshard zog einen Vergleich mit dem belgischen Flandern. Dort scheide schon heute jeder zwanzigste mittels Sterbehilfe aus dem Leben. Die Zahlen in der Schweiz könnten binnen zehn Jahren in einem ähnlichen Bereich liegen, schätzt er.«
Und auch mit Blick auf Belgien gibt es von kritischen Stimmen zu berichten: Belgische Bioethiker kritisieren Umgang mit aktiver Sterbehilfe. Und auch hier geht es um das Problem einer Entgrenzung des Zulässigen:
»Wenn Menschen in Belgien aktive Sterbehilfe aufgrund verschiedener Krankheiten wie etwa Rheuma, Inkontinenz und Demenz erhielten, fasse die Evaluierungskommission für Sterbehilfe das unter dem Grund „Poly Pathologie“ zusammen. In dem Bericht für das Jahr 2014/2015 seien diese Fälle um 132 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Die Evaluierungskommission habe selbst eingeräumt, dass die meisten über 70-Jährigen aufgrund von Poly Pathologie aktive Sterbehilfe erhalten. Hauptkritikpunkt der Experten ist, dass praktisch jede Person über 70 Jahren der Definition von Poly Pathologie entspreche.
Aus diesem Grund sei oft nicht klar nachzuvollziehen, ob die Krankheiten der Grund für den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe seien oder Einsamkeit und sozioökonomische Schwierigkeiten im Alter.«
Und da wären wir an einem entscheidenden Punkt angekommen. Wer verhindert (später) das Reinrutschen in eine gesellschaftliche Konstellation, in der „sozioökonomische Schwierigkeiten im Alter“ als legitimer Grund für Sterbehilfe angesehen wird, weil die „Normalisierung“ der aktiven Sterbehilfe, die am Anfang auf einige wenige und für die meisten Menschen durchaus nachvollziehbare schwerste Krankheitssituationen beschränkt war und damit eine Art „Erlösungsbonus“ verbuchen konnte, zwischenzeitlich immer weiter ausgedehnt wurde und wird? Und kann es nicht auch sein, dass die gesellschaftlich immer größer werdende Akzeptanz der assistierten Selbsttötung eine Erwartungshaltung, diesen Weg zu gehen, ans Tageslicht befördert, um Probleme zu „entsorgen“? Angesichts dessen, was an Verteilungskonflikte aufgrund der Alterung der europäischen Gesellschaften noch auf uns zukommen wird, kann man an dieser Stelle eine große Beunruhigung empfinden.