Die Europäische Union (EU) steckt in einer fundamentalen Krise, die sich aus mehreren ganz unterschiedlichen Quellen speist. Es sind vor allem die Krisen seit 2008, die zu einer sich zu einer existenziellen Infragestellung der europäischen Staatengemeinschaften auszuwachsen beginnen. Das Versprechen einer unaufhaltsam voranschreitenden ökonomischen Konvergenz der Staaten, die sich in den Euro-Raum einer gemeinsamen Währung begeben haben, ist nicht nur gebrochen worden, die „Krise des Euro“ und der Umgang miteinander hat Hierarchien erkennen lassen, die bei den einen zu Wut, Ablehnung und Verzweiflung geführt hat, bei den anderen zu Abwehr und innerer Schließung gegen die als übergriffig empfundenen Haftungserwartungen. Die schnelle und weitreichende Ost-Erweiterung der EU hat zu einer institutionellen, aber auch mentalen Überforderung geführt. Was immer für beide Seiten gilt.
In der Nicht-Bewältigung der Flüchtlingskrise und insbesondere der kategorischen Weigerung der osteuropäischen Staaten, überhaupt irgendeinen Beitrag zu leisten, kann man schon einen fundamentalen Bruch mit den Mindest-Voraussetzungen einer halbwegs funktionierenden supranationalen Gemeinschaft erkennen. Gleichzeitig erleben die südeuropäischen Peripheriestaaten, allen voran Griechenland und Italien, was es bedeutet, zum einen eingespannt zu werden in eine Austeritätspolitik, die ihnen kaum bis keine Spielräume mehr lässt, zugleich aber allein gelassen zu werden mit dem weiter über das Mittelmeer kommenden Zustrom an Flüchtlingen und anderen Migranten, die in die sich schließende Festung Europa gelangen wollen. Als wäre das alles nicht genug, breiten sich in Europa flächendeckend rechtspopulistische bis rechtsextreme Bewegungen aus, denen scheinbar etwas gelungen ist, was man als Aufgabe eher den linken Parteien zugeschrieben hätte – denen eine Stimme zu geben, die sich als „Verlierer“ fühlen oder es auch sind. Und diese Bewegungen bleiben nicht mehr am Rand stecken, sondern erobern immer mehr Terrain bis in die Schaltzentralen der politischen Macht hinein. Und was sie auch befeuert ist der Brexit – weil erstmals der Austritt aus der EU nicht nur eine theoretische Option darstellt, sondern praktisch geworden ist.
Die jüngste Versinnbildlichung der fundamentalen Krise offenbart das beeindruckende Auflaufen des Versuchs, das Freihandelsabkommen mit Kanada, also CETA, durchzudrücken – vorläufig gescheitert an einem Widerstandsnest in der belgischen Provinz, die sich der Zustimmung verweigern (vgl. dazu CETA, TTIP & Co. – Das Gewürge um die Freihandelsabkommen. Vor TTIP soll CETA kommen, das ist fertig. Im doppelten Sinne?). Unabhängig von der konkreten Frage der Freihandelsabkommen wird immer deutlicher, dass eine Staatengemeinschaft der (noch) 28 Mitglieder, die überaus heterogen zusammengesetzt ist, in den meisten Punkten nicht mehr entscheidungs-, geschweige denn handlungsfähig sein kann, wenn Einstimmigkeit erforderlich ist, zugleich aber die parlamentarische Entwicklungsstufe der EU selbst in vielen Punkten kaum ein gleichgewichtiges Substitut zu dem bilden kann, was in den Nationalstaaten darunter verstanden wird.
Das alles ist auch ganz oben angekommen, so dass diese Schlagzeile dann auch nicht mehr überrascht: Steinmeier warnt vor dem Ende der EU, berichtet die Süddeutsche Zeitung über den Bundesaußenminister:
„Die Finanzkrise, die Fluchtwelle nach Europa und der Schock des Referendums in Großbritannien haben die Europäische Union in heftige Turbulenzen gestürzt“, warnte Steinmeier. Nun würden Populisten vom rechten Rand aus versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen und mit einem vermeintlichen Versagen der EU in der Mitte der Gesellschaft auf Stimmenfang gehen.
„Selbst hartgesottene Fürsprecher Europas sehen, dass wir neu überzeugen müssen und zwar außerhalb des Elfenbeinturms der professionellen Europafreunde“, sagte der Minister. „Wenn wir den Wert der EU nicht mehr zu schätzen wissen, geht sie vor die Hunde.“
Das alles ist komplex, verwoben und mit erheblichen Irrationalitäten aufgeladen – aber natürlich spielen immer auch die ökonomischen und (damit eng zusammenhängend) die sozialen Lagen der Menschen eine ganz zentrale Rolle bei der Suche nach den Ursachen der skizzierten Entwicklungen innerhalb der EU.
Sozialpolitisch besonders im Blick ist dabei natürlich die Problematik der Exklusion von Menschen aus dem gesellschaftlichen Gefüge, vor allem, wenn dieses geldbasiert und geldgetrieben ist. Zur Abbildung der Entwicklung am unteren Rand verwendet man – nicht aus Willkür, sondern nach internationaler Konvention – einen relativen Einkommensarmuts(gefährdungs)begriff, der immer wieder, gerade auch in Deutschland, heftig kritisiert wird. Wenn man sich die Definition der EU genauer anschaut, dann kann man erkennen, dass die häufig vorgetragenen Bedenken gegen diesen Indikator Berücksichtigung finden: »Die Armutsgefährdungsquote ist der Anteil der Personen, deren gesamtes Haushaltseinkommen (nach Sozialleistungen, Steuern und sonstigen Abzügen), das für Ausgaben und Sparen zur Verfügung steht, unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt, welche auf 60% des nationalen verfügbaren Median-Äquivalenzeinkommens nach Sozialleistungen festgelegt ist. Dieser Indikator misst nicht den Wohlstand oder die absolute Armut, sondern ein – im Vergleich zu anderen Personen im gleichen Land – niedriges Einkommen«, so die Hinweise von Eurostat.
Die EU selbst verwendet die Einkommensarmut, aber nicht nur, sondern eine erweiterte Fassung: Sie schaut sich die Menschen an, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, was sie so definiert: Das bedeutet, dass sie sich in mindestens einer der folgenden drei Situationen befanden: sie waren nach Zahlung von Sozialleistungen von Armut bedroht (Einkommensarmut), sie litten unter erheblicher materieller Deprivation oder lebten in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbstätigkeit.
Die neuesten Daten für die EU hat Eurostat diese Tage veröffentlicht:
Eurostat: Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen in der EU zurück auf Vor-Krisen-Niveau. Ausgeprägte Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, Pressemitteilung 199/2016, Brüssel, 17.10.2016
In dem Artikel Wie die Krise Europa gespalten hat auf Spiegel Online wurden diese und weitere Daten von Eurostat aufgegriffen, aber aufgrund der – nur teilweise berechtigten Kritik an der allgemeinen Einkommensarmutsquote – hat man dort ausschließlich die „erhebliche materielle Deprivation“ herangezogen, gleichsam der harte Kern der Armut.
Und ein differenzierter Blick auf die Veränderungen in den Jahren zwischen 2008 und 2015 beim Anteil der Menschen mit „erheblicher materieller Deprivation“ fördert einen wichtigen Befund ans Tageslicht: Es gibt Verlierer und Gewinner. Die eindeutigen Gewinner der Entwicklung liegen im Osten der EU. Deutliche Rückgänge verzeichnen die Länder Polen, Bulgarien und Rumänien. Am anderen Ende der Skala gibt es aber auch deutliche Anstiege bei den Anteilswerten der hart Armen und die treffen den südeuropäischen Raum: Griechenland, Zypern, Malta, Italien und Spanien sind auf der Verliererseite.