In Griechenland stehen wieder einmal zahlreiche Räder still. »Die Schulen sind dicht, die Bahnen stehen still, die Fähren bleiben im Hafen: Griechische Gewerkschaften haben zum Generalstreik aufgerufen – aus Protest gegen ein neues Sparprogramm,« so der Artikel Die Regierung spart, das Volk streikt. In der Ägäis blieben die meisten Fähren ebenfalls in den Häfen. Der Seeleutestreik soll bis Dienstagmorgen dauern. Am Freitag, Samstag und Sonntag sind Demonstrationen in Athen und anderen Städten geplant. Auch die Journalisten legten die Arbeit für zwei Tage nieder. Unabhängig von der Frage, ob diese Streikaktionen nicht nur berechtigt sind, sondern ob sie überhaupt Sinn machen, kommt es durch die Rigidität der streikenden Gewerkschaften zu leider nur auf den ersten Blick skurrilen Kollateralschäden hinsichtlich der Einflussnahme auf die anstehenden Abstimmungen im Parlament. Dazu ein Beispiel aus dem Artikel Griechenland: Showdown für die Rentenkassen von Wassilis Aswestopoulos:
»Die Eile der Regierung ist so groß, dass allein am Freitag 261 Änderungen der Gesetzesnovelle für die Sozialversicherungen vorgelegt wurden, als diese in den Ausschüssen des Parlaments diskutiert wurden. Es ist kaum zu erwarten, dass die Mehrzahl der Volksvertreter in der Lage ist, die knapp 100 einzelnen Artikel allein des Rentenreformpakets zu studieren und in ihrer Gänze zu begreifen.
Bislang wurde diese Arbeit vor allem von dem Internetmagazin The Press Project in durchaus vorbildlicher Form erfüllt. Das Magazin hatte bisher alle Gesetze der Sparmemoranden einzeln seziert und somit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dies ist im aktuellen Fall nicht möglich, weil die Journalistengewerkschaft POESY eine Sondergenehmigung für eine Veröffentlichung während der Streiktage verweigerte. Nicht nur der Herausgeber von The Press Project sieht in dem erneuten Streikaufruf der Pressegewerkschaft eine Hilfestellung für die Regierung.«
Während auf der einen Seite in der kritischen Phase vor der anstehenden Abstimmung im Parlament am Sonntag die kritische Berichterstattung durch die Gewerkschaften selbst lahmgelegt wird, muss man sich zugleich fragen, ob in diesem speziellen Fall, um den es (wieder einmal) in Griechenlang geht, Streiks und Demonstrationen der richtige Weg sind – denn wenn treffen sie und gegen wen sollten sie sich eigentlich richten (die nun nicht im entferntesten von diesen Aktionen berührt werden)? Denn es geht darum, dass die Gläubigerseite der griechischen Regierung wieder einmal die Pistole auf die Brust gesetzt hat, sich ihren Vorgaben zu unterwerfen oder aber in die auch formale Pleite zu laufen. Und was da auf die Griechen zukommen würde, hatte man vor einigen Monaten schon mal im Ansatz zu spüren bekommen.
Denn auch bei den jetzt im griechischen Parlament zur Abstimmung anstehenden Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen geht es vor allem darum, darüber dann wieder ein weiteres Geld aus dem Infusionstopf der Gläubiger zu bekommen.
In diesem Zusammenhang wurde man in diesen Tagen konfrontiert mit einer Studie, die zu diesem Ergebnis gekommen ist: Milliardenkredite für Griechenland retteten vor allem Banken:
»Seit sechs Jahren versucht Europa die Krise in Griechenland mit Krediten von mittlerweile mehr als 220 Milliarden Euro zu beenden und verlangt dafür immer härtere Spar- und Reformprogramme – alles vergeblich. Der Grund ist aber offenbar weniger die Regierung, sondern die Konstruktion der Hilfsprogramme. Einer Studie der European School of Management and Technology (ESMT) zufolge, über die das „Handelsblatt“ berichtet, zeigt: Europa und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben in den vergangenen Jahren vor allem Banken und andere private Gläubiger gerettet.«
In der Studie Where did the Greek bailout money go? haben sich Jörg Rocholl und Axel Stahmer jede einzelne Kredittranche angeschaut und geprüft, an wen die knapp 216 Milliarden Euro der ersten beiden Rettungspakete geflossen sind. »Das Ergebnis ist ernüchternd: Nur 9,7 Milliarden Euro und damit weniger als fünf Prozent landeten im griechischen Haushalt – und kamen somit den Bürgern direkt zugute. Der große Rest wurde für die Bedienung von alten Schulden und Zinszahlungen genutzt.« Jörg Rocholl, der auch dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium angehört, wird mit den Worten zitiert: „Mit den Hilfspaketen wurden vor allem europäische Banken gerettet“. So wurden mit 86,9 Milliarden Euro alte Schulden abgelöst, 52,3 Milliarden Euro gingen für Zinszahlungen drauf und 37,3 Milliarden Euro wurden für die Rekapitalisierung der griechischen Banken genutzt.
Mit den Rettungskrediten wurden in den vergangenen Jahren Schulden bedient, obwohl Griechenland de facto seit 2010 pleite ist. Die europäischen Steuerzahler haben die privaten Investoren herausgepaukt, schlussfolgert Rocholl, vgl dazu auch das Interview mit ihm: „Die Griechenland-Hilfen retteten fast nur Banken“.
Wir werden Zeugen einer gigantischen Kapitalvernichtung: Insgesamt flossen laut ESMT-Berechnungen aus beiden Rettungspaketen 37,3 Milliarden Euro in die griechischen Finanzhäuser. Doch diese Bankenhilfen wurden inzwischen fast vollständig vernichtet. Die Institute haben seit ihrer Rekapitalisierung 2013 rund 98 Prozent ihres Börsenwertes verloren.
An dieser Stelle interessieren natürlich vor allem die sozialpolitischen Folgen dieser scheinbar unaufhaltsam daherkommenden Geschichte des Niedergangs. Eine gewaltige Verarmungswelle ist über das Land geschwappt. Und nach Jahren der Krise und immer wieder enttäuschter Hoffnungen auf ein Licht am Ende des Tunnels greifen Verzweiflung und Apathie in weiten Teilen der Bevölkerung um sich. Vgl. dazu nur exemplarisch den Beitrag Der Niedergang einer Gemeinde: »Die Gemeinde Nikaia liegt nur zehn Kilometer von der Athener Innenstadt entfernt. Doch von urbanem Treiben ist hier nichts zu spüren: Die Krise hat den Ort kaputt gemacht. Leere Ladenlokale reihen sich aneinander. Die Menschen können sich nichts mehr leisten – und sehnen sich nach bessern Zeiten.«
Und über die sozialpolitischen Verwüstungen – mit einem Hinweis auf den nun durch die Studie von Rocholl und Stahmer herausgearbeiteten Befund – wurde in diesem Blog bereits am 25. März 2015 berichtet unter der Überschrift: Jenseits der Psycho-Spiele: Griechenland nach fünf Jahren Abstieg, einer Schneise der Verwüstung im Gesundheitswesen – und das Märchen von den griechischen Luxusrenten. Darin findet man den Hinweis auf den Artikel Das Märchen von den Luxusrenten von Rainer Hermann, der von der FAZ veröffentlicht wurde.
»Viele Renten, erläutert uns Hermann, sind um die Hälfte eingedampft worden. Im öffentlichen Dienst wurden die Pensionsleistungen im Durchschnitt um ein Drittel gekürzt. Man möge sich da einmal bei uns vorstellen.
Hermann beendet seinen Beitrag mit dem Hinweis, »die griechischen Rentner sind nicht in den Genuss der Hilfsprogramme der Troika für Griechenland gekommen.« Die waren primär für das Finanzsystem.«
Und man muss berücksichtigen – anders als in den anderen EU-Staaten gibt es in Griechenland immer noch kein der Sozialhilfe vergleichbares Grundsicherungssystem für Nicht-Rentner. Mit Folgen, die bereits in dem damaligen Beitrag angesprochen wurden:
Man muss wissen, dass in Griechenland die Arbeitslosenhilfe nach zwölf Monaten ausläuft. Das hat Folgewirkungen: »Häufig wird die Arbeitslosigkeit durch eine Frühverrentung kaschiert. Offiziell hat jeder vierte Grieche in den vergangenen Jahren als Folge der Krise seine Arbeit verloren; die meisten von ihnen sind Langzeitarbeitslose, werden als Rentner geführt und belasten nicht eine Arbeitslosenversicherung, sondern die Rentenkasse.«
Und noch weitergehender: Wenn diese Variante nicht realisierbar ist, vor allem für die vielen jungen Menschen, dann bleibt nur die familiäre Unterstützung und die hängt in vielen Familien fast ausschließlich an den laufenden Renten.
Die gegenwärtige Protestwelle kann man in diesem Zusammenhang besser verstehen, vor allem, wenn man sich verdeutlicht, was da am Sonntag an erneuten Eingriffen in die Reste des sozialen Sicherungssystems verabschiedet werden soll.
Dazu lohnt wieder ein Blick in den bereits erwähnten Artikel Griechenland: Showdown für die Rentenkassen von Wassilis Aswestopoulos:
Premierminister Alexis Tsipras möchte noch am Sonntag das kombinierte Paket aus Steuerreform und Rentenreform im Eilverfahren durch das Parlament bekommen. Die Eile ist vonnöten, weil Tsipras bei der Eurogruppe am Montag ein fertiges, komplett abgestimmtes Reformpaket vorweisen möchte. Davon erhofft er sich, zumindest in einigen Punkten der übrigen Forderungen der Kreditgeber Gnade. Immerhin verhandelt Athen mit den Geldgeber-Institutionen über die Umsetzung des dritten Hilfsprogramms in Höhe von bis zu 86 Milliarden Euro.
Mit Blick auf das Alterssicherungssystem berichtet Aswestopoulos:
»Die Einschnitte in das ohnehin bereits löchrige soziale Netz des Landes sind immens. Dass die Beamten des öffentlichen Dienstes bei ihren Abschlagzahlungen zur Pensionierung zum wiederholten Mal eine massive Kürzung von bis zu 27 Prozent hinnehmen müssen, gehört noch zu den geringeren Problemen … Insgesamt möchte die Regierung bis 2019 mehr als 8,2 Milliarden Euro Rentenzahlungen einsparen.«
In seinem Beitrag findet man auch eine Tabelle mit den detaillierten Sparmaßnahmen im Rentenbereich.
Begreift man das, was seit Jahren in Griechenland passiert, als eine Tragödie nicht nur in einem bildhaften, sondern handfest-realen Sinne, dann bleibt die Frage nach der Katharsis, also der „Reinigung“, die ja unauflösbar mit dem antiken Konzept der Tragödie verbunden ist: Durch das Durchleben von Schrecken und Schauder erfährt der Zuschauer der Tragödie als deren Wirkung eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen. Nur muss diese Läuterung auch realisierbar sein – und was, wenn nicht? Wenn es gar kein Fundament gibt für diesen wichtigen Schritt?
Passend zu dieser skeptischen Anfrage ist ein interessantes Gespräch mit dem Wirtschaftsforscher Alexander Kritikos, Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), so überschrieben: Griechenland – Tragödie ohne Ende?
Die Ausführungen von Kritikos sind durchaus spannend vor dem Hintergrund, dass immer noch die Botschaft transportiert wird, es handele sich bei der Tsipras-Regierung um eine „linke“ Regierung, was er nicht (mehr) erkennen kann. Zugleich wird durch die Ausführungen deutlich, dass auch einfache Reflexe gegen den Mainstream, also Schuldenschnitt und den Griechen das notwendige Geld geben, nicht wirklich die Endlos-Schleife der griechischen Tragödie werden unterbrechen können. Auch wenn es dem einen oder anderen weh tun mag – offensichtlich gibt es in Griechenland erhebliche Probleme auf der Angebotsseite, deren Nicht-Lösung einen erheblichen Beitrag zur Fortschreibung des Dramas leistet, folgt man der Argumentation von Kritikos.
Ganz offensichtlich hat die derzeitige Regierung nicht nur keinen Plan, wie man die dringend erforderlichen Anreize für Unternehmer setzt, sondern immer noch eine Haltung, die sich aus Quellen speist, die in der theoretischen Sphäre oder der Vor-Krisen-Zeit angesiedelt sind.
Das sind bedenkenswerte Argumente von Alexander Kritikos, die natürlich vor allem den klassischen Diskurs hier die Arbeitnehmer, da die Unternehmer irritieren und stören müssen. Aber im Fall Griechenland ist eben auch klar: Bei aller berechtigten Kritik an dem Vorgehen von EU, IWF und anderen Akteueren sind die Griechen eben nicht nur Opfer, sondern sie wurden zunehmend Opfer ihrer selbst, in dem viele angenommen haben, die anderen werden sie raushauen, ohne dass bei ihnen substanziell etwas geändert werden muss.
Aber wieder zurück in die Untiefen der Sozialpolitik und hier der Rentenfrage. Auch dazu hat Kritikos Stellung genommen – und das recht eindeutig:
»Wir haben bisher drei Rentenkürzungen gesehen. Jetzt soll die vierte Rentenkürzung kommen. Und angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der Haushalte überwiegend in erster Linie abhängig von Rentenzahlungen sind, um ihr Leben zu bestreiten, wird eine weitere Rentenkürzung einfach dazu führen, dass wir mit Armutsproblemen in Griechenland zu kämpfen haben.
Was heißt das? Das heißt im Prinzip, dass letztlich auch hier weitere Reformschritte gemacht werden müssten. Wenn Renten nochmal gekürzt werden, ist es eigentlich zwingend notwendig, endlich auch das einzuführen, was es in Griechenland als einzigem Land innerhalb der Eurozone nicht gibt, nämlich eine Sozialhilfe und eine soziale Absicherung für die, die sonst keinerlei Einkünfte haben.
Wenn also weiterhin Renten gekürzt werden, muss diese Sozialhilfe eingezogen werden. Und es muss eigentlich auch sichergestellt werden, dass Menschen, die keinerlei Einkommensbezüge haben, auch weiterhin Zugang zu Gesundheitsvorsorge haben und zu Krankenhausleistungen. Menschen, die keine Arbeit haben, kein Arbeitslosengeld beziehen, fallen derzeit auch aus diesem System raus und sind wirklich in doppelter Form getroffen. Das ist inhuman letztlich, aber auch ineffizient, weil Menschen, die eben nicht gesund sind, auch nicht anständig arbeiten können.«
Dem ist nicht wirklich was hinzuzufügen.